Was sagt der Hamburger Landesaktionsplan 2023 zum Thema Arbeit und Beschäftigung?

Gleichberechtigte und selbstbestimmte Teilhabe an Arbeit?

Davon sind zu viele Menschen mit Behinderungen in Hamburg immer noch weit entfernt.

Bei der letzten deutschen Staatenprüfung im August 2023 in Genf hat der UN-Fachausschuss erneut scharf kritisiert, dass Menschen mit Behinderungen auf dem deutschen Arbeitsmarkt nach wie vor benachteiligt werden.

Gleichzeitig forderte der UN-Fachausschuss:

Die in Deutschland immer noch vorherrschenden Sonderstrukturen müssen endlich abgebaut und der Arbeitsmarkt für alle offen und barrierefrei gestaltet werden.

Umso mehr erstaunt es, was der neue Hamburger Landesaktionsplan 2023 zum Thema Arbeit und Beschäftigung vorschlägt.

Blick von unten auf den Eingangsturm des Hamburger Rathauses.

1. Hamburg will Werkstätten für behinderte Menschen weiterentwickeln und stärken.

Es ist kaum zu glauben:

Die meisten der im Landesaktionsplan vorgestellten Maßnahmen zum Handlungsfeld „Arbeit und Beschäftigung“ konzentrieren sich tatsächlich auf die Weiterentwicklung und Stärkung von Werkstätten für behinderte Menschen.

Wie beim Thema Bildung setzt Hamburg also auch beim Thema Arbeit darauf, das Sondersystem umzugestalten und zu „verbessern“.

Anstatt den regulären Arbeitsmarkt inklusiver zu gestalten.

Konkret plant Hamburg folgendes:

  • Digitalisierung und Kommunikationsmöglichkeiten im Arbeitsbereich der Werkstätten sollen verbessert werden.
  • Das Mobilitätstraining in Werkstätten soll ausgeweitet werden.
  • Beschäftigungsangebote und Teilhabe-Ziele der Werkstatt-Beschäftigten sollen besser aufeinander abgestimmt werden.
  • Es soll feste Quoten geben für Außenarbeitsplätze. Und eine Mindestzahl für Übergänge aus der Werkstatt auf den allgemeinen Arbeitsmarkt.
  • Bei der Vergabe von öffentlichen Aufträgen sollen Werkstätten und Inklusionsbetriebe deutlich bevorzugt werden.

Diese Maßnahmen entsprechen nicht den Forderungen der UN-Behindertenrechtskonvention!

Das Deutsche Institut für Menschenrechte und der Bundesbeauftragte für die Belange von Menschen mit Behinderungen haben erst vor kurzem klar gestellt:

Um die UN-Behindertenrechtskonvention umzusetzen, muss der gesamte Ausbildungs- und Arbeitssektor in Deutschland umgebaut und inklusiv gestaltet werden.

Segregierende Sonderstrukturen sind und bleiben konventionswidrig.

Auf dem Bild sieht man den Oberkörper eines jungen Mannes in einem bunten Kapuzen-Sweatshirt. Der Mann hält seinen rechten Arm auf Brusthöhe und zeigt mit dem Daumen nach unten.

2. Hamburg will das Budget für Arbeit weiterentwickeln und ausbauen.

Neben der Stärkung von Werkstätten will Hamburg das Budget für Arbeit weiterentwickeln und ausbauen.

Das Budget für Arbeit ist für behinderte Menschen mit einer sogenannten Werkstattberechtigung bestimmt, die nicht oder nicht mehr länger in einer Werkstatt arbeiten wollen.

Eigentlich ist es Aufgabe der Werkstätten, ihre Beschäftigten zu qualifizieren und langfristig auf den regulären Arbeitsmarkt zu vermitteln.

Allerdings haben es die Werkstätten bis heute nicht geschafft, diesem gesetzlichen Auftrag gerecht zu werden.

Die Vermittlungsquote der Werkstätten liegt nach wie vor bei deutlich unter 1 Prozent.

Das Budget für Arbeit soll Menschen in Werkstätten einen neuen Weg öffnen, um es auf den regulären Arbeitsmarkt zu schaffen.

Und zwar zusätzlich zu dem bislang nicht wirklich erfolgreichen Weg über die Werkstätten.

In der Mitte des Bildes sieht man einen sehr langen Kassen-Bon. Darum stehen verschiedene Lebensmittel.

Interessant ist nun, was Hamburg mit dem Budget für Arbeit vorhat:

  • Es soll möglich werden, das Budget für Arbeit bei einem unbefristeten Arbeitsvertrag auch unbefristet zu bewilligen.
  • Werkstätten und weitere Leistungserbringer der Eingliederungshilfe sollen als Begleitdienste im Budget für Arbeit zugelassen werden.
  • Die zwei Hamburger Werkstätten für behinderte Menschen (Elbe-Werkstätten GmbH und alsterarbeit gGmbH) sollen das Budget für Arbeit bei Arbeitgebern bekannter machen.
  • In einem Modellprojekt sollen zwei ausgelagerte Arbeitsgruppen der Elbe-Werkstätten in reguläre Arbeitsverhältnisse überführt werden. Außerdem soll mit beiden Werkstätten vereinbart werden, wie viele Werkstatt-Beschäftigte in ein Arbeitsverhältnis auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt vermittelt werden müssen.
  • Die Sozialbehörde plant eine Öffentlichkeitskampagne zum inklusiven Arbeitsmarkt.
  • Die Stadt Hamburg als öffentlicher Arbeitgeber will im Rahmen des Budgets für Arbeit mehr Arbeitsplätze für behinderte Menschen einrichten.

Die letzten beiden Punkte sollen vermutlich ebenfalls in enger Zusammenarbeit mit den Werkstätten umgesetzt werden.

Hamburg dreht damit in seinen Plänen einen entscheidenden Teil des Budgets für Arbeit einfach um.

Anstatt neue Alternativen zu den Werkstätten zu fördern und zu stärken, soll das Budget für Arbeit eng an die Werkstätten geknüpft werden.

Die Werkstätten sollen dafür zuständig werden, das Budget für Arbeit zu bewerben und umzusetzen.

Werkstatt-Beschäftigte, die auf den regulären Arbeitsmarkt vermittelt werden, sollen im Unterstützungssystem der Werkstätten eingebunden bleiben.

So werden die alten Sonderstrukturen erhalten und für die Zukunft gesichert.

Das widerspricht den Vorgaben der UN-Behindertenrechtskonvention.

Eine getigerte Katze sitzt neben einer kleinen Spielzeug-Küche mit hölzernen Mäusen.

3. Behinderung wird weiterhin als Einschränkung gesehen.

Die UN-Behindertenrechtskonvention macht deutlich:

Ein Mensch ist nicht behindert. Er wird behindert.

Diese Aussage kennzeichnet ein neues Verständnis von Behinderung.

Behinderung wird nicht mehr als Defizit eines Menschen betrachtet.

Behinderung entsteht, wenn ein Mensch durch das Zusammenwirken von persönlichen Merkmalen und gesellschaftlichen Barrieren von gleichberechtigter Teilhabe ausgeschlossen wird.

Die im Hamburger Landesaktionsplan 2023 vorgestellten Maßnahmen im Handlungsfeld „Arbeit und Beschäftigung“ dagegen gehen weiterhin davon aus, dass Menschen mit Behinderungen per se eingeschränkt sind.

Und damit nicht so gut funktionieren wie Menschen ohne Behinderungen.

Zwar wird betont, dass Menschen mit Behinderungen durchaus Kompetenzen haben können.

Trotzdem wird wie selbstverständlich davon ausgegangen, dass sie in ihrer Leistungsfähigkeit nicht mit Menschen ohne Behinderung mithalten können.

Daraus wird gefolgert:

  • Menschen mit Behinderungen brauchen einfache Aufgaben und Arbeitsabläufe.
  • Menschen mit Behinderungen brauchen dauerhafte Unterstützung.
  • Und: Ihre Arbeit muss auf Dauer subventioniert werden.


Hier wird an ein altes, immer noch tief verwurzeltes medizinisch geprägtes Bild von Behinderung angeknüpft.

Diese Sicht auf Behinderung entspricht nicht den Vorgaben der UN-Behindertenrechtskonvention.

Blick durch ein Gitter. Dahinter sieht man verschwommen zwei Arbeiter mit Helmen. Der Rest des Bildes ist unscharf.

4. Mein Fazit: Entscheidendes fehlt!

Der Hamburger Landesaktionsplan 2023 zeigt:

Hamburg hält am Sondersystem der Werkstätten fest und erklärt die Umsetzung des Budgets für Arbeit zum Ziel seiner inklusiven Arbeitsmarktpolitik.

Das ist erschreckend wenig und wird kaum dazu beitragen, den Arbeitsmarkt inklusiver zu gestalten.

Inklusion auf dem Arbeitsmarkt funktioniert nur, wenn sich der Arbeitsmarkt an sich verändert.

Barrieren müssen abgebaut und der Arbeitsmarkt für alle zugänglich werden.

Gleichzeitig müssen die nach wie vor bestehenden Sonderstrukturen zügig abgebaut werden.

Das bedeutet zum Beispiel:

Menschen mit Behinderungen müssen ihre Arbeit frei wählen können.

Sie müssen die Chance erhalten auf eine anerkannte Ausbildung im Regelsystem.

Behinderung darf nicht mehr länger als Einschränkung und Last verstanden werden.

Alle Menschen haben Potentiale, die es für den Arbeitsmarkt zu entdecken und zu erschließen gilt.

Daraus folgt auch: Die Arbeit von Menschen mit Behinderungen muss endlich angemessen entlohnt werden, damit sie ihren Lebensunterhalt darüber bestreiten können.

Zu all dem verliert der Hamburger Landesaktionsplan kein einziges Wort.

Auf dem Bild sieht man einen offenen beschrankten Bahnübergang auf einer Landstraße.

Übrig bleibt noch eine letzte Frage:

Wie konnte es passieren, dass die Vorgaben der UN-Behindertenrechtskonvention für einen inklusiven Arbeitsmarkt im Hamburger Landesaktionsplans 2023 so falsch verstanden wurden?

Diese Frage lässt sich durch einen Blick in das dokumentierte Beteiligungsverfahren beantworten.

Dort zeigt sich nämlich:

Alle Maßnahmenvorschläge, die Werkstätten für behinderte Menschen betreffen, wurden von der Hamburger Landesarbeitsgemeinschaft Werkstätten für behinderte Menschen eingereicht.

In der Hamburger Landesarbeitsgemeinschaft Werkstätten für behinderte Menschen haben sich die beiden Hamburger Werkstätten für Menschen mit Behinderung (alsterarbeit gGmbH und Elbe-Werkstätten GmbH), der Bergedorfer Impuls gGmbH, arinet, die Stiftung Rauhes Haus und die Hamburger Arbeitsassistenz gGmbH als Leistungsanbieter der Eingliederungshilfe zusammengeschlossen. 

Auf ihrer Website hebt die Landesarbeitsgemeinschaft hervor, wie eng sie mit den Leistungsträgern der Eingliederungshilfe und Rehabilitation und mit den relevanten Akteuren aus Politik und Verwaltung zusammenarbeitet. 

Wie erfolgreich sie dabei ist, zeigt sich am Hamburger Landesaktionsplan.

Hier wurde auf eine schlagkräftige Lobby-Vereinigung gehört – und nicht auf die UN-Behindertenrechtskonvention. Oder auf Menschen mit Behinderungen und deren Selbstvertretungsorganisationen.

Zwei rote Gummistiefel spiegeln sich in einer großen Pfütze mit Regentropfen.

Wie inklusiv ist die Arbeit in Hamburgs Behindertenwerkstätten?

Eine Beilage im Hamburger Abendblatt:

MENSCHLICH. Leben mit Handicap. Eine Anzeigen-Sonderveröffentlichung.

Das Thema interessiert mich. Also fange ich an zu lesen.

Im ersten Artikel geht es um den „Einsatz im Grünen“. Vorgestellt wird die erfolgreiche Kooperation zwischen den Elbe-Werkstätten und der Firma Beiersdorf in Hamburg. Ein gelungenes Inklusions-Projekt, so heißt es da.

Auf dem Bild sieht man den vorderen Teil eines Rasenmähers, mit dem gerade eine Wiese gemäht wird.

Trotzdem stört mich etwas an dem Artikel. Es dauert einen kurzen Moment, bis ich dahinter komme. Doch dann habe ich es.

An zwei Stellen im Artikel heißt es: „Verstärkung gewünscht!“

Zuerst werden Menschen mit Behinderung als Verstärkung für das Team gesucht. Angeboten werden abwechslungsreiche Arbeiten im Grünen und spannende Sondereinsätze. Und: Wenn die Arbeit nicht mehr gefällt, sind Wechsel in andere Projekte der Elbe-Werkstätten jederzeit möglich.

Dann werden Frauen und Männer als Verstärkung für das Team gesucht, die Lust haben, ihre handwerklichen Berufe mit einer pädagogischen Aufgabe zu verbinden. Ihnen wird angeboten: eine Beschäftigung mit Spaß und Sinn, vielen Gestaltungsmöglichkeiten, geregelten Arbeitszeiten und einer guten Bezahlung nach Tarif.

Sind bei letzteren auch Menschen mit Behinderung angesprochen? Ich bezweifle es.

Denn: Auf der Karriere-Seite der Elbe-Werkstätten im Internet gibt es „Stellenangebote für Menschen mit Behinderung“ und „tarifliche Stellenangebote“. Für letztere bleiben eigentlich nur noch Menschen ohne Behinderung übrig.

Das Bild zeigt ein paar Füße in roten Turnschuhen vor lila blühendem Geranium.

Was sich hier deutlich zeigt, ist das exklusive und längst nicht mehr zeitgemäße System von Behindertenwerkstätten in Deutschland:

  • Wegen ihrer vermeintlichen Einschränkungen werden Menschen mit Behinderung als besonders schutz- und hilfsbedürftig angesehen.
  • Aufgrund ihrer Behinderung können sie nicht die gleiche Arbeit leisten wie Menschen ohne Behinderung.
  • Also bietet ihnen die Behindertenwerkstatt einen Schonraum mit Rundumbetreuung und Beschäftigung an. Und mit einem durchschnittlichen Monatseinkommen von derzeit knapp 200 Euro. Das reicht nicht zum Leben.

Das ganze funktioniert, weil behinderte Menschen in Werkstätten per Gesetz keine Arbeitnehmer sind. Damit haben sie keinen Anspruch auf einen Mindestlohn.

Dies widerspricht der UN-Behindertenrechtskonvention.

Die UN-Behindertenrechtskonvention besagt in Artikel 27, dass Menschen mit Behinderung ein Recht auf Arbeit haben.

Dieses Recht auf Arbeit schließt die Möglichkeit ein, den Lebensunterhalt durch Arbeit zu verdienen, die frei gewählt oder frei angenommen wird. Und zwar am besten bei öffentlichen und privaten Arbeitgebern auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt.

Nicht inklusive Beschäftigungsverhältnisse in Behindertenwerkstätten, so die UN-Behindertenrechtskonvention, sollen kontinuierlich abgebaut werden.

Im unteren Teil des Bildes sieht man frisch gewachsene Grashalme. Darüber wölbt sich ein blauer Himmel.

Was bedeutet das nun für den Einsatz im Grünen“?

Der „Einsatz im Grünen“ ist kein gelungenes Inklusions-Projekt. Weil er an den exklusiven Beschäftigungsstrukturen von Behindertenwerkstätten festhält.

Wirklich inklusiv wird der „Einsatz im Grünen“ erst dann, wenn die Beschäftigten mit Behinderung für ihre Arbeit so entlohnt werden, dass sie davon leben können.

Noch inklusiver wird der Einsatz, wenn die Beschäftigten mit Behinderung einen Arbeitsvertrag mit Beiersdorf selbst oder einer „normalen“ Gartenbaufirma erhalten. Erst dann sind sie auch auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt beschäftigt.

Meine Wünsche für eine „Inklusionsmetropole“ Hamburg:

  • Eine Entlohnung für Menschen mit Behinderung, die den Lebensunterhalt sichert
  • Ausbau von Arbeitsplätzen für Menschen mit Behinderung auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt
  • Schrittweise Auflösung des exklusiven Sondersystems Behindertenwerkstätten


In Hamburg ist es seit Einführung der Inklusion 2012 nicht gelungen, die Anzahl der Beschäftigten mit Behinderung in den Elbe-Werkstätten spürbar zu reduzieren.

Ein Säulendiagramm zeigt die Beschäftigtenzahlen der Hamburger Elbe-Werkstätten zwischen 2012 und 2019. Sowohl die Anzahl der tariflichen Mitarbeiter wie auch die Anzahl der Beschäftigten und Teilnehmer mit Behinderung bleibt annähernd konstant.
Quellen: Hamburgs öffentliche Unternehmen. Beteiligungsberichte 2011-2013; Elbe Werkstätten Hamburg GmbH: Konzernabschluss und Konzernlagebericht 2015 sowie 2017; Elbe Werkstätten Hamburg GmbH: Jahresabschluss und Lagebericht für die Jahre 2018 und 2019