Am 6. September tagte der Hamburger Schulausschuss.
In einer öffentlichen Sitzung im Rathaus ging es um den Stand der Inklusion in Hamburgs Schulen.
Sechs Experten waren geladen.
Aus den Bereichen Schule, Wissenschaft, Sonderpädagogik, Zivilgesellschaft und Elternvertretung.
So sollte eine fachlich fundierte und differenzierte Diskussion ermöglicht werden.
Tatsächlich ging es in der gesamten Sitzung sehr fachlich zu.
Viele wichtige Aspekte wurden behandelt.
Und es gab viele kluge Fragen und Antworten.
Hamburg wurde gelobt für sein klares Bekenntnis zur Inklusion.
Und für die Fortschritte, die die Stadt im Bereich der schulischen Inklusion bereits erzielt habe.
Hamburg wurde aber auch aufgefordert, in Sachen Inklusion nicht stehen zu bleiben.
Denn trotz der vielen Ressourcen, die Hamburg in den letzten Jahren in den inklusiven Umbau seines Schulsystems investiert hat, arbeiten noch längst nicht alle Schulen inklusiv.
Eins allerdings wurde in der gesamten Debatte außer acht gelassen.
Nämlich die Frage:
Was bedeutet eigentlich Inklusion im Sinne der UN-Behindertenrechtskonvention?
Und was genau heißt das für Schulen?
Beider Staatenprüfung vor einem Jahr in Genf hat der UN-Fachausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen sehr deutlich erklärt:
Deutschland hält nach wie vor an seinen Sondersystemen für Menschen mit Behinderungen fest.
Damit verstößt Deutschland gegen die UN-Behindertenrechtskonvention.
Auch Hamburg hat nach wie vor ein gut ausgebautes schulisches Sondersystem.
Bestehend aus 26 staatlichen Sonderschulen (einschließlich der Bildungsabteilungen an den Regionalen Bildungs- und Beratungszentren) und 5 privaten Sonderschulen.
Dass dieses Sondersystem nicht vereinbar ist mit der UN-Behindertenrechtskonvention, dazu gab es in der gesamten Sitzung kein einziges Wort.
Weder von den geladenen Experten noch von den Mitgliedern des Schulausschusses.
Im Gegenteil:
Einige Experten lobten ausdrücklich „Hamburgs großartiges Elternwahlrecht“.
Dabei haben das Deutsche Institut für Menschenrechte und die Monitoring-Stelle UN-Behindertenrechtskonvention in Berlin längst klar gemacht:
Ein Elternwahlrecht ist nicht vereinbar mit der UN-Behindertenrechtskonvention.
Wenn, dann dürfte es höchstens ein Schülerwahlrecht geben.
Und das auch nur, wenn Schülerinnen und Schüler tatsächlich eine echte Wahlfreiheit haben.
Mit der UN-Behindertenrechtskonvention wurde auch die Sicht auf Behinderung neu definiert.
Nicht mehr ein Mensch an sich ist behindert.
Sondern ein Mensch wird behindert.
Und zwar durch das Wechselspiel von individuellen Beeinträchtigungen und einstellungs- und umweltbedingten Barrieren.
Diese menschenrechtliche Sicht auf Behinderung wurde in der gesamten Ausschuss-Sitzung viel zu selten berücksichtigt.
Dabei hat sie entscheidende Konsequenzen für die Umsetzung von inklusiver Bildung.
Es geht nämlich nicht mehr länger darum, welche Beeinträchtigungen und Defizite ein Kind hat.
Sondern es geht um die Frage:
Was braucht ein Kind, um bestmöglich an Bildung teilhaben zu können?
Diese Frage muss für jedes Kind gestellt werden. Und zwar unabhängig von Geschlecht, Herkunft, Religion oder eben einer Behinderung.
Denn:
Inklusion unterscheidet nicht mehr nach Kategorien und Gruppen. Inklusion bezieht alle mit ein.
In der Diskussion im Schulausschuss ging es ausschließlich um Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischen Förderbedarfen.
Entweder im Bereich Lernen, Sprache und emotional-soziale Entwicklung.
Oder im Bereich kognitive und körperlich-motorische Beeinträchtigungen.
Es ging um Diagnostik und um die Zuordnung zu sonderpädagogischen Förderschwerpunkten, die über Art und Umfang der Förderung entscheiden.
Solch ein Ansatz, der zwischen behindert und nicht-behindert unterscheidet, widerspricht den Grundsätzen der UN-Behindertenrechtskonvention.
Ein weiterer zentraler Aspekt fehlte in der gesamten Diskussion:
Inklusion ist keine Frage des Wollens.
Inklusion ist ein Menschenrecht.
Damit steht Inklusion über der Selbstbestimmung von Schulen.
Im Klartext heißt das:
Nicht die einzelne Schule entscheidet darüber, ob sie Inklusion möchte oder nicht.
Jede Schule ist zur Inklusion verpflichtet.
Ein klares Bekenntnis zur Inklusion bedeutet, die Vorgaben der UN-Behindertenrechtskonvention konsequent umzusetzen.
Dazu gehört auch der Abbau schulischer Sondersysteme.
Diesen Schritt scheint Hamburg nach wie vor nicht gehen zu wollen.
Nun ist sie endlich öffentlich: die Evaluation der Hamburger Schulbegleitung!
Ihr erinnert euch?
Vor drei Jahren erhielt die Universität Oldenburg vom Hamburger Senat den Auftrag, Schulbegleitungen in Hamburg zu untersuchen.
Und zwar verbunden mit den Fragen:
Wie sieht die Gruppe der Schülerinnen und Schüler aus, die in Hamburg Schulbegleitung erhält?
Wie sieht die Gruppe der Schulbegleiterinnen und Schulbegleiter aus?
Wie sehen die formalen Merkmale der Schulbegleitungen aus?
Welche Erwartungen werden an Schulbegleitungen gestellt? Wie werden sie wahrgenommen?
Welche Stärken und Schwächen hat das gegenwärtige Verfahren der Schulbegleitungen?
Wie lassen sich Schulbegleitungen in Hamburg verbessern?
Zwei Jahre lang (von Anfang 2022 bis Ende 2023) haben Erziehungswissenschaftlerinnen und Erziehungswissenschaftler der Universität Oldenburg zu diesen Fragen geforscht.
Im Juni 2024 haben sie dem Senat ihren fertigen Abschlussbericht vorgelegt.
Danach sah es zunächst so aus, als würde der Bericht für längere Zeit in nicht-öffentlichen Fächern der Schulbehörde verschwinden.
Zur internen Auswertung – so hieß es vom Senat.
Im Juli hat sich der Senat dann doch dazu entschieden, den fertigen Abschlussbericht im Transparenzportal der Stadt Hamburg zu veröffentlichen.
Die Überraschung war groß, als ich vor einigen Tagen unseren Briefkasten öffnete.
Ein Brief vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales lag darin.
Mit der lange ersehnten Antwort auf unseren Offenen Brief!
Ich bin ehrlich: Ich selbst hatte eine Antwort längst abgeschrieben.
Immerhin ist es fast ein halbes Jahr her, dass wir unseren Offenen Brief in Berlin übergeben haben. Und zwar an das Bundesministerium für Arbeit und Soziales und an das Bundesministerium für Bildung und Forschung.
Doch nun ist die Antwort darauf endlich da. Und das ist gut so.
Zwar steht in der Antwort nicht:
Die Bundesregierung plant, bis 2030 alle Förderschulen in Deutschland abzuschaffen.
So etwas zu erwarten, wäre auch nicht realistisch gewesen.
Aber die Antwort zeigt:
Beide Bundesministerien haben sich bewegt!
Beide Bundesministerien haben unser Anliegen und damit das Menschenrecht auf inklusive Bildung doch noch ernst genommen und nicht mehr länger ignoriert.
Beide Bundesministerien haben miteinander gesprochen und tatsächlich gemeinsam geantwortet.
Beide Bundesministerien geben zu, dass Deutschland auch 15 Jahre nach der Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention immer noch „vor wesentlichen Herausforderungen auf dem Weg in ein durchweg inklusives Bildungssystem “ steht.
Beide Bundesministerien scheinen die Abschließenden Bemerkungen aus Genf ernst zu nehmen.
Und: Es heißt nicht mehr länger „Bildung ist ausschließlich Ländersache“.
So wie noch vor wenigen Monaten.
Stattdessen erklären die Vertreterinnen beider Bundesministerien:
„Die Bundesregierung unterstützt die Länder nach Kräften bei der Umsetzung der inklusiven Bildung.“
Fachlich zuständig für Inklusive Bildung ist das Bundesministerium für Bildung und Forschung.
Konkret unternommen hat dieses Ministerium bislang kaum etwas, um die Umsetzung von inklusiver Bildung in Deutschland voranzutreiben.
In der Antwort aus Berlin wird darauf hingewiesen, dass das Bundesministerium für Bildung und Forschung gezielte Forschungsförderung betreibe im Bereich der inklusiven Bildung.
Doch Forschungsförderung alleine reicht nicht aus, um inklusive Bildung endlich umzusetzen.
Der UN-Fachausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen hat in seinen abschließenden Bemerkungen konkrete nächste Schritte vorgeschlagen.
Die Antwort aus Berlin weist auf den demnächst beginnenden Follow-upProzess hin.
Im Follow-up Prozess wird die Umsetzung der UN-Empfehlungen genau überprüft.
Und zwar unter enger Beteiligung der Verbände von Menschen mit Behinderungen und der Zivilgesellschaft.
Und das sind auch wir!
Hier werden wir als Eltern weiter ansetzen und euch auf dem laufenden halten.
Versprochen!
Wir Eltern von #WirWarenInGenf werden dran bleiben und nicht locker lassen.
Am 26. März 2009 hat Deutschland die UN-Behindertenrechtskonvention unterzeichnet.
15 Jahre später ist unser Land immer noch meilenweit entfernt von einer erfolgreichen Umsetzung vieler der in der UN-Behindertenrechtskonvention festgeschriebenen Menschenrechte.
Darum habe ich heute folgende Pressemitteilung zum Stand der inklusiven Bildung in Hamburg verschickt:
Pressemitteilung
22. März 2024
15 Jahre UN-Behindertenrechtskonvention, 15 Jahre inklusive Bildung
In Hamburg immer noch kein Grund zum Feiern
Hamburgs Schulen sind noch weit davon entfernt, tatsächlich inklusiv zu sein
Was die Umsetzung von inklusiver Bildung angeht, gilt Hamburg im Vergleich zu anderen Bundesländern als sehr erfolgreich.
Trotzdem ist die Stadt auch 15 Jahre nach Unterzeichnung der UN-Behindertenrechtskonvention immer noch weit entfernt von einem inklusiven Bildungssystem für alle.
Seit mehreren Jahren stagniert Hamburgs Exklusionsquote. Die Schulbehörde geht davon aus, dass sich hieran bis 2035 nichts ändern wird.
Die allermeisten Kinder und Jugendlichen, die in Hamburg inklusiv beschult werden, besuchen Grundschulen und Stadtteilschulen. An Gymnasien findet Inklusion nach wie vor kaum statt.
Immer noch gibt es in Hamburg ein gut ausgebautes schulisches Sondersystem. Bestehend aus 26 staatlichen Sonderschulen und 5 privaten Sonderschulen.
Mehr als die Hälfte aller Hamburger Schülerinnen und Schüler mit geistigen Behinderungen, körperlichen Behinderungen, Sinnesbeeinträchtigungen und komplexen Behinderungen besucht nach wie vor eine Sonderschule.
Entscheiden sich die Eltern dieser Kinder für eine inklusive Beschulung, stehen ihnen dafür nur sogenannte Schwerpunktschulen offen.
Nur 68 von 380 Hamburger Regelschulen sind Schwerpunktschulen. Nur wenige davon haben sich bislang intensiv damit beschäftigt, schuleigene Konzepte für eine inklusive Schule und eine individualisierte Unterrichtsgestaltung zu erarbeiten. Die Gefahr ist groß, dass die gemeinsame Beschulung von Kindern mit und ohne Behinderungen zu einer neuen Sonderform wird in einem ansonsten weiterhin nicht inklusivem Regelsystem.
Der neue Hamburger Landesaktionsplan 2023 zeigt: Hamburg will weiterhin am sogenannten Elternwahlrecht und damit am schulischen Sondersystem festhalten. Anstelle eines inklusiven Umbaus des gesamten Bildungssystems plant die Stadt, ihr schulisches Sondersystem zu überarbeiten und zu „verbessern“.
Erst im vergangenen Sommer ist Deutschland von der UNO zum zweiten Mal in einer Staatenprüfung heftig kritisiert worden:
Nach wie vor gebe es in Deutschland zu viele Sonderschulen und zu viele Probleme bei der inklusiven Beschulung von Kindern mit Behinderungen.
Der UN-Fachausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderung hat die Bundesregierung mit Nachdruck dazu aufgefordert, den inklusiven Umbau des gesamten Bildungssystems deutlich zu beschleunigen.
Vor allem die Bundesländer müssten endlich konkrete Aktionspläne erstellen, die tatsächlich mit den Vorgaben der UN-Behindertenrechtskonvention übereinstimmen.
Dies kommt einer beispiellosen Bloßstellung der Länder gleich.
Die Länder haben der UN-Behindertenrechtskonvention bereits am 19. Dezember 2008 einstimmig und verbindlich im Bundesrat zugestimmt. Trotzdem verzögern und verschleppen sie seitdem in ihrer Schulpolitik die notwendige inklusive Schulreform.
Eltern behinderter Kinder aus mehreren Bundesländern haben jüngst in einem Offenen Brief – unterstützt von mehr als 140 Organisationen – die Bundesregierung aufgefordert, Druck auf die säumigen Landesregierungen aufzubauen.
Erst vor wenigen Tagen hat der Europarat seinen Staatenbericht zur Menschenrechts-Lage in Deutschland veröffentlicht. Darin kritisiert er, dass ein selbstbestimmtes Leben behinderter Menschen und die Inklusion in Deutschland nach wie vor durch ausgrenzende Strukturen wie Sonderschulen und Werkstätten für behinderte Menschen äußerst erschwert sind.
Immer mehr Eltern in Hamburg kehren der schulischen Inklusion den Rücken zu.
Zu wenig Ressourcen, zu wenig Förderung und zu wenig Verlässlichkeit, so heißt es von allen Seiten.
Gleichzeitig bemängeln erste Eltern an Sonderschulen, dass auch dort immer mehr Sonderpädagogen und Fachkräfte fehlen.
Dies zeigt:
Ein dauerhaftes Vorhalten von Sondersystem und Regelsystem, wie es Hamburg langfristig plant, ist angesichts von Lehrermangel und knapper Kassen zum Scheitern verurteilt.
Außerdem verstößt es gegen die UN-Behindertenrechtskonvention.
Hamburgs Senat ist aufgefordert
sich klar zur UN-Behindertenrechtskonvention zu bekennen und sich mit Nachdruck und verbindlich für die vollständige Umsetzung von inklusiver Bildung einzusetzen.
das Ergebnis der Staatenprüfung ernst zu nehmen und einen wirksamen Aktionsplan fürden Ausbau inklusiver Schulen vorzulegen.
Dieser Aktionsplan muss einen konkreten Zeitplan enthalten, bis wann der inklusive Umbau des gesamten Schulsystems abgeschlossen sein soll.
Er muss die notwendigen Maßnahmen für Schulentwicklung, Qualität und Personal enthalten und koordinieren.
Und er muss klare Verantwortlichkeiten für die Steuerung der inklusiven Entwicklung benennen sowie eine ausreichende Finanzierung hinterlegen.
Alle Bundesländer – und damit auch Hamburg – müssen endlich die Vorgaben der UN-Behindertenrechtskonvention erfüllen und den Übergang vom Sonderschulsystem in ein inklusives Regelschulsystem zeitnah und verbindlich umsetzen.
Nach der letzten Staatenprüfung im August 2023 zeigte sich der UN-Ausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen äußerst besorgt über die unzureichende Umsetzung von inklusiver Bildung in Deutschland.
Ganz besonders kritisierte er die weite Verbreitung von Förderschulen und Förderklassen.
Und die vielen Probleme, auf die behinderte Kinder, Jugendliche und ihre Familien stoßen, wenn sie sich für eine inklusive Beschulung entscheiden.
Im Landesaktionsplan wird zunächst die Entwicklung der schulischen Inklusion seit ihrer Einführung im Jahr 2012 vorgestellt.
Das ganze liest sich wie eine reine Erfolgsgeschichte.
Tatsächlich hat Hamburg im Vergleich mit anderen Bundesländern eine bemerkenswerte Entwicklung hingelegt.
Allerdings:
Die Stadt ist immer noch weit entfernt von einem inklusiven Schulsystem für alle.
Nach wie vor gibt es in Hamburg ein gut ausgebautes schulisches Sondersystem. Bestehend aus 26 staatlichen Sonderschulen und 5 privaten Sonderschulen.
Hier werden rund 40 Prozent aller Schülerinnen und Schüler mit Förderbedarfen unterrichtet. Mit steigender Tendenz.
Die allermeisten Kinder und Jugendlichen, die in Hamburg inklusiv beschult werden, besuchen Grundschulen und Stadtteilschulen. An Gymnasien findet Inklusion dagegen nach wie vor kaum statt.
Bereits seit mehreren Jahren stagniert die jährliche Exklusionsquote. Das heißt: Der Anteil der Schülerinnen und Schüler an Sonderschulen geht im Vergleich zu allen Hamburger Schülern nicht weiter zurück.
Die Hamburger Schulbehörde geht davon aus, dass sich hieran bis mindestens 2035 nichts ändern wird.
Die meisten Kinder und Jugendlichen mit geistigen Behinderungen, körperlichen Behinderungen, Sinnesbeeinträchtigungen und komplexen Behinderungen nehmen an inklusiver Bildung nach wie vor nicht teil.
Als Schülerinnen und Schüler mit speziellen Förderbedarfen werden sie überwiegend an Sonderschulen unterrichtet.
Im Schuljahr 2023/24 besuchten 2588Schüler mit speziellen Förderbedarfen Sonderschulen.
Nur 1650 Schüler mit speziellen Förderbedarfen wurden inklusiv an Regelschulen unterrichtet.
Zum Vergleich:
Zu Beginn der schulischen Inklusion 2012/13 besuchten 1986 Schüler mit speziellen Förderbedarfen Sonderschulen und 1326 Regelschulen.
Außerdem steigt seit einigen Jahren die Zahl autistischer Schülerinnen und Schüler an Sonderschulen.
Das gleiche gilt für Schülerinnen und Schüler mit dem Förderschwerpunkt Emotional-soziale Entwicklung, unter ihnen viele mit FASD.
Nur Schülerinnen und Schüler mit den Förderschwerpunkten Lernen und Sprache konnten bislang mehrheitlich von der schulischen Inklusion profitieren. Sie werden inzwischen überwiegend an Regelschulen unterrichtet.
Dies alles zeigt:
Hamburgs angeblich so erfolgreiche Inklusion ist bislang nur eine sehr eingeschränkte Inklusion.
Weite Teile des Hamburger Schulsystems sind weiterhin auf Absonderung und Trennung ausgerichtet.
Was plant Hamburg in Sachen schulische Inklusion?
1. Hamburg will an seinen Sonderschulen festhalten.
Damit Eltern behinderter Kinder weiterhin eine Wahl haben zwischen Sonderschule und Regelschule, will Hamburg am Sonderschulsystem festhalten.
Dies steht im Widerspruch zur UN-Behindertenrechtskonvention.
Die UN-Behindertenrechtskonvention sagt klar und deutlich:
Alle Kinder und Jugendlichen sollen gemeinsam unterrichtet werden.
Nach der Staatenprüfung im August 2023 hat der UN-Ausschuss Deutschland dazu aufgefordert, einen umfassenden Plan zu erstellen, wie der Übergang vom Sonderschulsystem in ein inklusives Regelschulsystem möglichst zügig umgesetzt werden kann.
Und zwar mit einem konkreten Zeitrahmen.
Mit der Zuweisung von personellen, technischen und finanziellen Ressourcen.
Und mit klaren Verantwortlichkeiten für die Umsetzung und Überwachung.
Darüber verliert der Hamburger Landesaktionsplan kein einziges Wort.
Stattdessen reduziert sich Hamburgs Planung darauf, „dass der Besuch einer allgemeinen Schule einen Mehrwert gegenüber anderen Schulformen bieten muss – durch konsequent gelebte Inklusion und ein positives Schulerlebnis besonders auch für Menschen mit Behinderungen.“
Als Mutter eines Kindes mit Behinderung bin ich fassungslos.
Bei inklusiver Bildung geht es um viel mehr als „positive“ Schulerlebnisse für Menschen mit Behinderungen.
Es geht um bestmögliche Bildung für alle.
Damit alle jungen Menschen ihre Persönlichkeit, ihre Begabungen und ihre Kreativität sowie ihre geistigen und körperlichen Fähigkeiten voll entfalten können.
2. Hamburg will Schwerpunktschulen weiter stärken.
Hamburg hat das Recht auf inklusive Beschulung in seinem Schulgesetz festgeschrieben.
Allerdings bedeutet das nicht automatisch, dass behinderte Kinder und deren Eltern die freie Schulwahl haben.
Kinder und Jugendliche mit speziellen Förderbedarfen sollen an sogenannten Schwerpunktschulen unterrichtet werden.
Schwerpunktschulen sind Schulen, die als besonders erfahren und ausgestattet gelten, was den Unterricht von Schülerinnen und Schülern mit Behinderungen angeht.
Fast alle Schwerpunktschulen haben bereits vor Einführung der Inklusion mit Integrationsklassen und integrativen Regelklassen gearbeitet.
Insgesamt gibt es in Hamburg 68 Schwerpunktschulen.
Nämlich 40 Grundschulen und 28 Stadtteilschulen, die sich sehr ungleichmäßig über das Stadtgebiet verteilen.
183 Grundschulen, 55 Stadtteilschulen und 74 Gymnasien sind keine Schwerpunktschulen.
Das bedeutet:
Nur jede 5. Hamburger Schule ist eine Schwerpunktschule.
Bereits der Landesaktionsplan 2019 sah vor, Schwerpunktschulen zu stärken.
Unter dem Namen „möglichmacher*“ entwickelte die Schulbehörde ein Modellprojekt, um ausgewählte Schwerpunktschulen bei ihrer inklusiven Schulentwicklung zu stärken und zu unterstützen.
An diesem Projekt beteiligten sich bislang 7 Grundschulen und 4 Stadtteilschulen.
Im neuen Landesaktionsplan bleibt offen, ob die Maßnahme „Schwerpunktschulen stärken“ diesmal alle Schwerpunktschulen mit einschließt.
Oder ob sie sich erneut nur auf ausgewählte Schwerpunktschulen konzentriert.
Sicher ist:
Nur ein kleiner Teil aller Hamburger Schwerpunktschulen scheint sich bislang intensiv damit beschäftigt zu haben, schuleigene Konzepte für eine inklusive Schule und eine individualisierte Unterrichtsgestaltung zu erarbeiten.
Dies erklärt auch, warum Eltern von inklusiv beschulten Kindern immer wieder über Schwierigkeiten berichten: bei Nachteilsausgleichen und Förderplanung, beim zieldifferenzierten Unterricht, bei der Zuweisung von Ressourcen oder der Zusammenarbeit mit Therapeuten.
Grundsätzlich halte ich das Konzept der Schwerpunktschulen für problematisch.
Zum einen geht es von einem medizinisch geprägten Behinderungsbegriff aus, der Beeinträchtigungen als Defizite ansieht.
Aufgrund dieser „Beeinträchtigungen“ sollen Schülerinnen und Schüler mit speziellen Förderbedarfen nur an besonders ausgestatteten Schulen oder spezialisierten Sonderschulen unterrichtet werden.
Zum andern ist die Gefahr groß, dass Schwerpunktschulen zu inklusiven Sonderformen werden in einem ansonsten weiterhin nicht inklusivem Regelsystem.
3. Verbesserung der Beratungs- und Bildungsangebote
Der Landesaktionsplan 2023 sieht vor, Beratungsangebote und Bildungsangebote für Familien mit behinderten Kindern deutlich zu verbessern.
Und zwar über einen auf 5 Jahre angelegten Organisationsentwicklungsprozess.
Zuständig für den geplanten Organisationsentwicklungsprozess sind die speziellen Sonderschulen, die Regionalen Bildungs- und Beratungszentren und das Bildungs- und Beratungszentrum Pädagogik bei Krankheit/Autismus.
Ziel des Organisationsentwicklungsprozesses ist es, Strukturen und Prozesse der speziellen Sonderschulen und Beratungszentren zu überarbeiten und neu aufzustellen:
um individuelle und flexible Bildungsverläufe zu ermöglichen und Bildungschancen zu vergrößern,
um die Teilhabe an Bildung und sozialem Miteinander zu verbessern,
und um die Zusammenarbeit untereinander sowie mit verschiedenen Professionen zu intensivieren und zu erweitern.
Es sollen also die speziell für Schülerinnen und Schüler mit Förderbedarfen gedachten besonderen Bildungs- und Beratungsangebote neu gestaltet und verbessert werden.
Allerdings: So funktioniert keine Inklusion.
Inklusion bedeutet nicht, das Sondersystem umzugestalten.
Inklusion bedeutet, das Gesamtsystem Schule von Grund auf umzubauen und inklusiv zu gestalten.
4. Verbesserung der Barrierefreiheit
Bereits der erste Landesaktionsplan aus dem Jahr 2012 sah vor, die bauliche Barrierefreiheit an Hamburgs Schulen zu verbessern.
Seitdem betont der Senat gerne und regelmäßig, dass er jedes Jahr sehr viel Geld investiert, um Hamburgs Schulgebäude barrierefreier zu machen.
Als konkrete Maßnahme im Landesaktionsplan 2023 ist vorgesehen, alle Schulneubauten nach DIN 18040-1 barrierefrei zu planen und zu errichten.
Bei Sanierungen und Umbauten sollen zusätzliche Leistungen zur Barrierefreiheit nach individuellem Bedarf und entsprechend der DIN umgesetzt werden.
Damit knüpft der Landesaktionsplan 2023 nahtlos an die bisherige Schulpolitik des Senats an.
Doch was heißt das genau?
Werden Schulen in Hamburg neu gebaut, erhalten sie gemäß DIN 18040-1 automatisch Aufzüge, barrierefreie Zugänge und behindertengerechte WCs.
Neu gegründete Schwerpunktschulen erhalten außerdem eine zusätzliche Fläche von 24 Quadratmetern pro Zug. Hier können bei Bedarf Pflegeräume eingerichtet werden.
Weitere Bedarfe an Barrierefreiheit sollen zu Beginn der Bauvorhaben in Abstimmung mit der Schule ermittelt werden.
An dieser Stelle lohnt es, etwas tiefer zu gehen.
Und zwar mit der Frage: Welche Kriterien wendet Hamburg an bei der Gestaltung von Barrierefreiheit an Schulen?
In Hamburg werden Schulen als halb-öffentliche Gebäude betrachtet.
Es gibt den öffentlichen Bereich einer Schule. Nämlich das Schulbüro, Gemeinschaftsflächen und die Sporthalle.
Alle übrigen Schulräume werden in erster Linie von Schülern und Lehrern genutzt.
Damit gelten diese Räume aus Sicht der Schulbehörde als nicht öffentlich.
Entsprechend reduzieren sich die Anforderungen an Barrierefreiheit.
Was das bedeutet, zeigt sich bei der Sanierung bereits bestehender Schulen.
Werden bereits bestehende Schulen saniert, erhalten sie behindertengerechte Zugänge zu allen öffentlichen Bereichen.
Also zu Sporthallen, Schulbüros und Gemeinschaftsflächen. Außerdem soll mindestens ein behindertengerechtes WC je Schule geschaffen werden.
Für bestehende Schwerpunktschulen sind darüber hinaus behindertengerechte Zugänge zu Fachräumen, Ganztagsflächen und zu einzelnen Klassenräumen vorgesehen.
Dabei ist jede Schwerpunktschule aufgefordert, geschaffene barrierefreie Räume – je nach Bedarf – bestimmten Klassen oder Jahrgängen zuzuordnen.
Dies bedeutet: Einzelne Gebäude einer Schwerpunktschule müssen nicht unbedingt einen Aufzug erhalten. Oder einen barrierefreien Zugang.
In einem dreigeschossigen Klassenhaus einer bestehenden Schwerpunktschule reicht es zum Beispiel aus, wenn Klassenräume im Erdgeschoss von Schülerinnen und Schülern mit Rollstuhl erreicht werden können.
Insgesamt ist die bauliche Barrierefreiheit an Hamburgs Schulen also erheblich eingeschränkt.
Sie konzentriert sich nur auf ausgewählte schulische Räume.
Und sie konzentriert sich auf ausgewählte Schulen.
Die UN-Behindertenrechtskonvention dagegen fordert klar und deutlich:
Schülerinnen und Schüler mit und ohne Behinderungen müssen gleichberechtig Zugang haben zu allen Schulen und zu allen von Schülern genutzten Räumen.
Von einer umfänglichen Barrierefreiheit, wie sie die UN-Behindertenrechtskonvention fordert, sind Hamburgs Schulen also noch weit entfernt.
Werden die im Landesaktionsplan 2023 vorgesehenen Maßnahmen ausreichen, um Hamburgs Schulen inklusiver zu machen und so der Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention ein gutes Stück näher zu kommen?
Meine Antwort darauf lautet: NEIN.
Denn Hamburg weigert sich weiterhin, sein Sonderschulsystem aufzugeben.
Gleichzeitig baut Hamburg mit seinen Schwerpunktschulen ein neues, vermeintlich inklusives Sondersystem aus.
Beides hat zur Folge, dass an den meisten Hamburger Schulen nach wie vor keine Kinder und Jugendlichen mit Behinderungen zu finden sind.
In Hamburg startet das neue Startchancen-Programm der Bundesregierung.
Es spült der neuen Schulsenatorin Ksenija Bekeris in den nächsten 10 Jahren insgesamt 215 Millionen Euro in die Kasse.
Mit dem Geld sollen sozial benachteiligte Schülerinnen und Schüler beim Lernen der Basiskompetenzen in Deutsch und Mathematik sowie in ihrer Persönlichkeitsentwicklung gefördert werden.
Für mehr Bildungsgerechtigkeit und gute Startchancen für alle.
Geld für Bildung an sich ist eine gute Sache.
Gute Bildung bedeutet mehr gesellschaftliche Teilhabe und bessere Lebenschancen.
Das stärkt die Demokratie und sichert die Zukunft unseres Landes.
Allerdings:
Schülerinnen und Schüler mit Behinderungen werden im bundesweiten Startchancen-Programm – wieder einmal – vergessen.
Gute Startchancen für Menschen mit Behinderungen interessieren die Bundesregierung anscheinend nicht.
Obwohl das Recht auf gleichberechtigte Teilhabe an Bildung für Menschen mit Behinderungen seit 15 Jahren gesetzlich festgeschrieben ist.
Geht es um inklusive Bildung, dann heißt es derzeit von der Bundesregierung:
„Bildung ist Ländersache“.
Gleichzeitig zeigen das Startchancen-Programm und der Digital-Pakt:
Die Bundesregierung kann durchaus Verantwortung übernehmen in Sachen bundesweite Bildung.
So sie denn will.
Seit 4 Monaten warten 140 namhafte Vereine und Verbände und über 1.400 Einzelpersonen vergeblich darauf, dass die Bundesregierung den Offenen Brief #InklusiveBildungJetzt!beantwortet.
In Zeiten zunehmender Politikverdrossenheit und einer gleichzeitigen Radikalisierung in unserer Gesellschaft ein denkbar schlechtes Zeichen.
Dabei bietet inklusive Bildung den Schlüssel für mehr Bildungsgerechtigkeit für alle.
Übrigens:
Inzwischen habe ich zwei blaue Briefe geschrieben und verschickt.
An die Bundesminister Hubertus Heil und Bettina Stark-Watzinger.
Eltern erhalten „blaue Briefe“ von der Schule, wenn die Versetzung ihrer Kinder gefährdet ist.
Meine blauen Briefe zeigen meine große Enttäuschung über das Schweigen der zwei Minister.
Es kann und darf nicht sein, dass in einem freiheitlich-demokratischen Land wie Deutschland das Menschenrecht auf Inklusion einfach ignoriert wird.
Wollt ihr auch blaue Briefe nach Berlin schicken?
Alle Informationen dazu und auch einen Beispiel- Brief findet ihr hier:
Die Frauen und Männer der Ombudsstelle Inklusive Bildung erhalten und bearbeiten jedes Jahr weit über 100 Anfragen von Eltern und Schülern, die Probleme mit der sonderpädagogischen Förderung haben.
Die zentralen Themen dieser Anfragen haben sich in den letzten zehn Jahren kaum verändert.
Immer wieder geht es um
Probleme bei Nachteilsausgleichen und Förderplanung,
unfreiwillige Schulzeitverkürzungen,
Probleme beim zieldifferenzierten Unterricht,
Probleme bei Schulbegleitungen,
Bildung und Erziehung bei Autismus-Spektrum-Störungen,
Bildung und Erziehung bei Schülerinnen und Schülern mit einer fetalen Alkoholspektrumstörung (FASD),
Zuweisungen zu Schwerpunktschulen.
Die vielen Anfragen weisen auf ein strukturelles Problem der Inklusion in Hamburgs Regelschulen hin.
Nämlich die nach wie vor nicht selbstverständliche Ausgestaltung und Umsetzung eines individualisierten Unterrichts für alle.
Inklusive Bildung denkt vom Kind aus.
Wo steht ein Kind? Was braucht ein Kind?
Und zwar unabhängig von einer Behinderung.
Ziel der inklusiven Bildung ist es, jedes Kind bestmöglich zu fördern.
Damit es später als erwachsener Mensch selbst bestimmt und möglichst selbständig an unserer Gesellschaft teilhaben kann.
Dies umzusetzen ist herausfordernd.
Es bedeutet zum Beispiel eine individuelle Förderplanung für jedes Kind.
An der alle beteiligt sind: Lehrkräfte, Therapeuten, Beratungskräfte, Schulbehörde, Eltern – und auch das Kind.
Bei dieser Förderplanung müssen Toilettengänge und Schulwege genauso selbstverständlich mitgedacht werden wie Kompetenzen in Mathe, Deutsch und Englisch.
Schule muss zu einem Bildungsort für alle werden.
Mit angepassten Unterrichtsmaterialien.
Mit Rückzugsräumen und reizarmen Lernumgebungen.
Mit Therapieräumen und viel Platz zum Bewegen.
Mit überschaubaren Lerngruppen und multi-professionellen Teams.
Das funktioniert nur mit beweglichen Strukturen. Mit Zusammenarbeit und der Bereitschaft, gemeinsam und voneinander zu lernen.
Und zwar auf allen Ebenen: In der Schule, mit Eltern, mit Verwaltung, mit Wissenschaft und Politik.
Um solch ein lernendes System umzusetzen, braucht es einen klaren politischen Willen.
Doch ob der zur Zeit in unserer Stadt gegeben ist?
Die Frauen und Männer der Ombudsstelle wünschen sich bereits seit 2022 von der Schulbehörde, durch Corona ausgesetzte Arbeitsgruppen und den Beirat Inklusion wieder aufzunehmen.
Der gerade vorgestellte Landesaktionsplan 2023 enthält ein klares Bekenntnis zum Festhalten am Sonderschulsystem.
Außerdem soll die Inklusion nicht in allen Regelschulen gleichermaßen gefördert werden.
Sondern nur in den sogenannten Schwerpunktschulen.
Zwar wird im Landesaktionsplan das Ziel formuliert, „dass der Besuch einer allgemeinen Schule einen Mehrwert gegenüber anderen Schulformen bieten muss – durch konsequent gelebte Inklusion und ein positives Schulerlebnis besonders auch für Menschen mit Behinderungen.“
Allerdings bezweifle ich, dass dies jemals Wirklichkeit wird, solange Hamburg an seinen zwei Schulsystemen (Regelschule und Förderschule) festhält.
Wie ist Hamburg bei der Umsetzung von Inklusion in seinen Schulen im Jahr 2023 vorangekommen?
Die Stadt gilt nach wie vor als Vorbild, was schulische Inklusion angeht.
Und im Vergleich mit anderen Bundesländern ist Hamburg sicherlich schon weit gekommen.
Trotzdem ist die Stadt noch weit entfernt von einem inklusiven Schulsystem, wie es die UN-Behindertenrechtskonvention vorsieht.
Nämlich einem Schulsystem, in dem Kinder und Jugendliche mit und ohne Behinderung gemeinsam lernen. Und zwar in einer Schule für alle.
Nach wie vor gibt es in Hamburg ein gut ausgebautes schulisches Sondersystem.
Bestehend aus 26 staatlichen Sonderschulen und 5 privaten Sonderschulen.
Hier wurden im Schuljahr 2022/23 mehr als 4400 Schülerinnen und Schüler exklusiv unterrichtet.
Das waren rund 40 Prozent aller Schülerinnen und Schüler mit Förderbedarfen.
An diesen Zahlen hat sich in den letzten fünf Jahren nicht wirklich etwas verändert.
Und so wird es wohl auch in Zukunft bleiben.
Bildungsforscher gehen davon aus, dass die Exklusionsquote in Hamburg bis 2035 bei 2,66 stehen bleibenwird.
Die Exklusionsquote gibt den Anteil der Schülerinnen und Schüler mit Förderbedarfen an, die exklusiv an Sonderschulen unterrichtet werden. Und zwar gemessen an allen Schülerinnen und Schülern mit Vollzeitschulpflicht (Jahrgangsstufen 1 bis 9 bzw. 10).
Bei ihren Berechnungen für Hamburg stützen sich die Bildungsforscher auf Zahlenmaterial, das von der Hamburger Schulbehörde für die Kultusministerkonferenz der Länder zusammengestellt wurde.
Die Zahlen zeigen:
Bis 2035 wird in Hamburg ein großer Teil von Kindern und Jugendlichen mit Behinderungen weiterhin an Sonderschulen unterrichtet werden.
Damit scheint die Hamburger Politik zufrieden.
Denn:
Hamburg hat zwar das Recht auf Inklusion in seinem Schulgesetz verankert.
Allerdings will die Stadt ihr Sonderschulsystem nicht aufgeben.
Eltern sollen auch in Zukunft wählen können, ob ihr behindertes Kind in einer Regelschule oder in einer Sonderschule beschult wird.
Das verstößt gegen die UN-Behindertenrechtskonvention.
Das Deutsche Institut für Menschenrechte in Berlin stellte bereits 2017 klar:
Die Aufrechterhaltung zweier Schulsysteme lässt sich menschenrechtlich nicht über das Elternwahlrecht rechtfertigen.
Der Staat darf seine Verantwortung für einen schulischen Systemwechsel nicht an Eltern abgeben.
Besonders Schülerinnen und Schüler mit speziellen Förderbedarfen werden in Hamburg nach wie vor an Sonderschulen unterrichtet. Und zwar mit steigender Tendenz.
Das zeigt die Schulstatistik 2022/23:
In der Gruppe der Schülerinnen und Schüler mit speziellen Förderbedarfen befinden sich mehrheitlich Kinder und Jugendliche mit geistigen Behinderungen, körperlichen Behinderungen, Sinnesbeeinträchtigungen und komplexen Behinderungen.
Also genau die Kinder und Jugendlichen, die eine zentrale Zielgruppe bei der Umsetzung von inklusiver Bildung sein sollten.
Doch die meisten dieser Kinder und Jugendlichen nehmen an Inklusion nach wie vor nicht teil.
Im Gegenteil.
Im Schuljahr 2022/23 wurden in Hamburg deutlich mehr Schülerinnen und Schüler mit speziellen Förderbedarfen exklusiv an Sonderschulen unterrichtet als zu Beginn der schulischen Inklusion.
Nach der Einführung der schulischen Inklusion haben vor allem Schülerinnen und Schüler mit sogenannten geistigen Behinderungen an Sonderschulen zugenommen.
Gleiches gilt für Schülerinnen und Schüler, die sich keinem der klassischen Förderschwerpunkte zuordnen lassen. Hierunter fallen auch Schülerinnen und Schüler mit Autismusspektrumstörungen.
Außerdem stieg die Zahl der Schülerinnen und Schülern mit dem Förderschwerpunkt Emotional-soziale Entwicklung, die exklusiv an Sonderschulen unterrichtet werden.
Profitieren von der Inklusion konnten dagegen Schülerinnen und Schüler mit den sonderpädagogischen Förderschwerpunkten Lernen und Sprache. Sie werden in Hamburg inzwischen meist an Regelschulen unterrichtet.
Eine ähnliche Entwicklung zeigt sich übrigens auch in den anderen Bundesländern.
Neben seinem Sonderschulsystem hat Hamburg nach Einführung der schulischen Inklusion auch an einem zweigliedrigen Schulsystem ab Klasse 5 festgehalten.
Stadtteilschulen nehmen seitdem die meisten Schülerinnen und Schüler mit Förderbedarfen auf.
In Gymnasien dagegen fand auch im Schuljahr 2022/23 Inklusion kaum statt.
Diese Mischung von Inklusion und Exklusion in Hamburgs Schulen widerspricht den Vorgaben der UN-Behindertenrechtskonvention.
Im August 2023 prüften die Vereinten Nationen in Genf die Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention in Deutschland.
Das Ergebnis war beschämend.
In fast allen Lebensbereichen ist Deutschland in den letzten 14 Jahren mit der Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention kaum vorangekommen.
Das gilt auch für die inklusive Bildung.
Mehr als die Hälfte aller Kinder und Jugendlichen mit Behinderungen werden in Deutschland nach wie vor in Sonderschulen unterrichtet.
Was genau geschehen muss, damit Kinder und Jugendliche mit und ohne Behinderungen endlich in ganz Deutschland gemeinsam lernen können, hat der UN-Fachausschuss in seinen abschließenden Bemerkungen klar benannt.
In diesen abschließenden Bemerkungen fordert der UN-Fachausschluss die Bundesregierung, die Landesregierungen und die Kommunen dazu auf:
konkrete Zeitpläne zu erstellen, bis wann schulische Sondersysteme vollständig abgebaut sind.
konkrete Pläne zu erstellen, wie gemeinsame Schulen für alle möglichst zügig umgesetzt werden. Und zwar mit klaren Ressourcenzuweisungen, was Menschen, Technik und Geld angeht.
klar zu benennen, wer für die Umsetzung und Überwachung der Inklusion in Schulen zuständig ist.
Sensibilisierungs- und Bildungskampagnen zu starten. Um inklusive Bildung auf Gemeindeebene und bei den zuständigen Behörden zu fördern.
endlich sicherzustellen, dass alle Kinder mit Behinderungen Regelschulen besuchen können.
Bund und Länder und damit auch Hamburg sind nun gefordert.
Neulich war ich auf einer Veranstaltung von Leben mit Behinderung Hamburg.
Eingeladen war der Hamburger Schulsenator Ties Rabe.
Es ging um ein wichtiges Thema, nämlich Teilhabe an Bildung im Schuljahr 2023/2024:
Wie sind Hamburger Schülerinnen und Schüler mit Behinderungen in das neue Schuljahr gestartet?
Zahlreiche Eltern waren zu der gemeinsamen Diskussion gekommen.
Sie wollten vor allem ihren Ärger loszuwerden:
Ärger über nach wie vor fehlende Schulbegleitungen und überlastete Sonderpädagogen in den Regelschulen.
Aber auch Ärger über fehlende Sonderpädagogen und andere Fachkräfte in den speziellen Sonderschulen.
Den größten Raum nahm das Thema Schulbegleitung ein. Wie schon im letzten Schuljahr waren auch zu Beginn dieses Schuljahres viele Schulbegleiter-Stellen unbesetzt.
Das ist ein wichtiges Thema, das von der Schulbehörde unbedingt gehört werden muss.
Allerdings: Schulbegleitungen allein schaffen noch keine inklusive Bildung.
Selbst Schulsenator Rabe hätte lieber mehr darüber diskutiert, warum es mit der Umsetzung von Inklusion in Hamburgs Regelschulen immer noch so viele Probleme gebe. Obwohl seine Behörde die Zahl der pädagogischen und therapeutischen Stellen dafür massiv erhöht habe.
In der Tat ist dies eine äußerst wichtige Frage.
Denn diese Frage öffnet den Blick darauf, was wir eigentlich unter inklusiver Bildung verstehen.
Auch der Einsatz von zusätzlichen Sonderpädagogen bedeutet nämlich nicht automatisch ein mehr an Inklusion.
Werden Schülerinnen und Schüler mit Behinderungen in Regelschulen ausschließlich von Sonderpädagogen unterrichtet, dann ist das keine inklusive Bildung. Traditionelle Sonderformen der Beschulung bleiben bestehen.
Wie inklusive Bildung aussieht und funktioniert, haben die Vereinten Nationen genau beschrieben.
Inklusive Bildung ist ein Menschenrecht – festgelegt in Artikel 24 der UN-Behindertenrechtskonvention.
Inklusive Bildung bedeutet: Kinder und Jugendliche mit und ohne Behinderungen werden gemeinsam unterrichtet.
Inklusive Bildung stellt sicher: Jeder Mensch erhält die ihm bestmögliche Bildung. Damit er wirksam am Leben in unserer Gesellschaft teilnehmen kann.
Inklusive Bildung erfordert neue Formen des Unterrichts, ausgerichtet an den individuellen Bedarfen der Lernenden.
Inklusive Bildung funktioniert nur, wenn alle, die im Bildungswesen arbeiten, gut darauf vorbereitet werden.
Die Umsetzung von inklusiver Bildung ist ein fortlaufender Prozess.
Dieser Prozess muss regelmäßig überwacht und evaluiert werden.
Auch das schreiben die Vereinten Nationen vor.
Doch genau das passiert in Deutschland viel zu wenig.
Gerade erst hat der Uno-Fachausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen angemahnt:
Die deutsche Bundesregierung tut viel zu wenig für die Umsetzung von inklusiver Bildung.
Sie muss endlich Verantwortung übernehmen und die Umsetzung von inklusiver Bildung aktiv vorantreiben.
Es reicht nicht aus zu sagen: Bildung ist Ländersache.
Der Hamburger Schulsenator Rabe erklärte auf der Veranstaltung bei Leben mit Behinderung Hamburg:
Die Hamburger Behörde für Schule und Bildung liefere ausreichend „know how“ und Ressourcen für die Umsetzung von inklusiver Bildung.
Was daraus gemacht werde, sei Sache jeder einzelnen Schule.
Wie auf Bundesebene wird auch hier Verantwortung verschoben. In diesem Fall von der Landesregierung auf die Schulen.
Das darf nicht sein.
Mit der Unterzeichnung der UN-Behindertenrechtskonvention hat sich Hamburg zur Umsetzung von inklusiver Bildung verpflichtet.
Senat und Bürgerschaft müssen endlich einen genauen Fahrplan erstellen, bis wann inklusive Bildung in Hamburg umgesetzt sein soll.
Sie müssen für ausreichende Ressourcen sorgen, damit dieser Fahrplan erfolgreich eingehalten werden kann.
Und sie müssen die Umsetzung dieses Fahrplans regelmäßig kontrollieren und evaluieren.
2009 haben Bund und Länder die UN-Behindertenrechtskonvention unterzeichnet.
Damit haben sich Bundesregierung und Landesregierungen dazu verpflichtet, inklusive Bildung zügig umzusetzen. Und zwar in Form eines inklusiven Schulsystems, in dem junge Menschen mit und ohne Behinderungen gemeinsam lernen.
Hamburg hat als eines von nur zwei Bundesländern das Recht auf inklusive Bildung in seinem Schulgesetz verankert.
Nun sollte Hamburg den inklusiven Umbau seines Schulsystems konsequent weiter führen.
Anstatt Schulen oder Eltern die Verantwortung für inklusive Bildung zuzuschieben.
Dort treffe ich mich mit Eltern aus ganz Deutschland.
Die meisten dieser Eltern kenne ich bisher noch gar nicht.
Doch ich weiß: Wir haben eins gemeinsam.
Wir alle haben Kinder mit Behinderungen.
Und wir alle sind unzufrieden.
Unzufrieden, weil es mit der inklusiven Bildung in Deutschland nicht voran geht.
Zwei Tage lang werden wir in Genf protestieren.
Für alle Welt deutlich sichtbar.
Auf dem Platz der Nationen. Unmittelbar gegenüber dem Büro der Vereinten Nationen.
Während wir draußen vor dem UNO-Gebäude stehen, findet drinnen die Staatenprüfung Deutschlands statt.
Mit dieser Prüfung will die UNO herausfinden:
Was hat die Bundesregierung unternommen, um die vor 14 Jahren unterzeichnete UN-Behindertenrechtskonvention in Deutschland umzusetzen?
Wir Eltern, die nach Genf reisen, sind uns einig:
Was Inklusion in Schulen angeht, ist in den letzten 14 Jahren viel zu wenig bis gar nichts passiert:
Nach wie vor gibt es in allen Bundesländern gut ausgebaute schulische Sondersysteme.
Überall fehlen konkrete Zeitpläne und Konzepte zur Realisierung eines inklusiven Bildungssystems.
Was am schwersten wiegt: Es fehlt der politische Wille, inklusive Bildung tatsächlich umzusetzen.
Hamburg und Bremen haben als einzige Bundesländer das Recht auf inklusive Bildung in ihren Schulgesetzen verankert.
Allerdings hat sich Hamburg mit dem Festhalten am sogenannten Elternwahlrecht die Hintertür zum alten Sondersystem weit offen gelassen.
Immer noch werden in Hamburg weit über 4.000 Kinder und Jugendliche mit Behinderungen exklusiv an Sonderschulen unterrichtet. Mit steigender Tendenz.
Mit unserer Kritik sind wir protestierenden Eltern nicht alleine.
Bereits im Vorfeld des Prüfverfahrens haben sich der Deutsche Behindertenrat, zahlreiche Elternvereine und –initiativen sowie das Deutsche Institut für Menschenrechte äußerst kritisch zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention in Deutschland geäußert.
Ihr Fazit:
Von einer umfassenden Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention ist Deutschland noch weit entfernt.
Nach wie bestimmen Ausschluss und Sondersysteme den Alltag von Menschen mit Behinderungen.
Nicht nur im Bildungsbereich, sondern so gut wie überall.
Eltern behinderter Kinder in Hamburg wünschen sich seit langem deutlich mehr Verlässlichkeit im Schulalltag.
Immer wieder werden Kinder mit Behinderung vorzeitig aus dem laufenden Unterricht nach Hause geschickt.
Nicht selten gehen Kinder mit Behinderung erst gar nicht zur Schule.
Weil eine Schulbegleitung fehlt.
Mit Beginn des Schuljahres 2022/23 scheint sich das Problem nochmals verschärft zu haben.
Egal, ob Regelschule oder Sonderschule – überall hieß es von Eltern:
Noch nie fehlten bereits zu Beginn eines Schuljahres so viele Schulbegleitungen!
Allerdings: Niemand weiß genau, wie viele Unterrichtsstunden Kinder mit Behinderung versäumen. Weil die Schulbegleitung fehlt.
Da sich jede Schule selbst verwaltet, sei die Erfassung von Zahlen schwierig. Sagt die Schulbehörde.
Erste konkrete Zahlen liefert nun eine Elternumfrage von Autismus Hamburg e.V.
Der Verein Autismus Hamburg e.V. ist eine Hamburger Selbsthilfe-Organisation. Gegründet 2009 durch Eltern von Kindern mit Autismus.
Viele Kinder mit Autismus brauchen in der Schule zusätzliche Unterstützung. Damit sie gut durch den Schultag kommen.
Im Herbst 2022 hat Autismus Hamburg e.V. daher 54 Eltern des Vereins zur aktuellen Situation der Schulbegleitung befragt.
Fast alle befragten Eltern hatten für ihr Kind eine Schulbegleitung beantragt. Entweder über ein Regionales Bildungs- und Beratungszentrum (ReBBZ) oder die Schulbehörde.
In vier von fünf Fällen wurde die Schulbegleitung bewilligt.
Von den bewilligten Schulbegleitungen fehlte zum Schulstart deutlich mehr als die Hälfte.
Meist war niemand für die Schulbegleitung gefunden worden.
In einigen Fällen erfolgte die Genehmigung nicht rechtzeitig.
Außerdem ergab die Umfrage:
Bei mehr als der Hälfte aller Kinder wurden zwischen 5 bis 18 Stunden Schulbegleitung pro Woche bewilligt. Das macht 1 bis 3 begleitete Unterrichtsstunden pro Tag.
Gut jedes vierte Kind erhielt zwischen 20 und 28 Stunden Schulbegleitung pro Woche.
Nur wenige Kinder hatten eine ganztägige Schulbegleitung.
Bei mehr als der Hälfte der Kinder reichten die bewilligten Stunden nicht, um gut durch den Schultag zu kommen.
Die Eltern gaben an, ihre Kinder seien deshalb verstärkt gestresst.
Oft müssten die Kinder bereits mittags aus der Schule abgeholt werden.
An einigen Tagen blieben die Kinder ganz zu Hause.
Dies wirkte sich deutlich auf den Alltag der Eltern aus.
Viele Eltern machten sich Sorgen: Wird ihr Kind in der Schule gut beschult und betreut?
Mehrere Eltern fühlten sich überfordert: Wie sollen sie den versäumten Unterricht mit ihrem Kind nachholen? Wie lässt sich ihr Kind emotional immer wieder auffangen?
Einige Eltern erklärten klar und deutlich: Sie können nicht im gewünschten Umfang arbeiten gehen.
Einige Eltern gaben an: Sie können überhaupt nicht arbeiten gehen.
Nun mag der ein oder andere sagen:
Die durchgeführte Elternumfrage von Autismus Hamburg e.V. ist nicht repräsentativ.
Zu wenige Eltern wurden befragt.
Andere Behinderungsformen wurden nicht berücksichtigt.
Es handelt sich um Einzelfälle, die individuell betrachtet werden müssen.
Dennoch bleiben die Ergebnisse der Umfrage alarmierend.
Sie untermauern das, was Eltern seit langem sagen:
Viele Kinder mit Behinderung nehmen in Hamburg nur eingeschränkt an Bildung teil.
Dabei sagt das Bundesteilhabe-Gesetz:
Kinder mit Behinderung haben Anspruch auf unterstützende Leistungen, damit sie Bildungsangebote gleichberechtigt wahrnehmen können.
Es ist dringend nötig, den durch fehlende Schulbegleitung verursachten Unterrichtsausfall für Kinder mit Behinderung genauer zu bestimmen.
Um daraus konkrete Verbesserungs-Maßnahmen abzuleiten.
Gerade lässt die Stadt Hamburg ihr bisheriges Verfahren in Sachen Schulbegleitung wissenschaftlich evaluieren.
Ein erster Zwischenbericht wird für März 2023 erwartet.
Der vollständige Abschlussbericht soll Ende 2023 folgen.
Ich bin sehr gespannt auf die Ergebnisse dieser Untersuchung.
Was ich bereits jetzt weiß:
Für das Schuljahr 2023/24 plant Autismus Hamburg e.V. eine erneute Elternumfrage zum Thema Schulbegleitung.
Vor kurzem hat das Deutsche Institut für Menschenrechte seinen Jahresbericht 2021/22 über die Menschenrechts-Situation in Deutschland veröffentlicht.
Im Mittelpunkt des Berichts steht diesmal die inklusive Bildung für Kinder und Jugendliche mit Behinderung. Mit sehr ernüchternden Ergebnissen:
Noch immer haben zu viele Kinder und Jugendliche mit Behinderung in Deutschland keinen diskriminierungsfreien Zugang zu einem inklusiven Schulsystem.
Viele Landesregierungen bekennen sich zwar vordergründig zu einer inklusiven Bildung. Trotzdem halten sie am Sonderschulsystem für Schüler mit Behinderung fest.
Immer noch werden mehr als die Hälfte aller Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf exklusiv an Förder- und Sonderschulen unterrichtet.
Die meisten dieser Schülerinnen und Schüler verlassen die Schule ohne Abschluss.
Als LeuchttürmefürinklusiveBildung gelten in Deutschland nur wenige Bundesländer, unter ihnen Hamburg.
Im Oktober 2009 beschloss die Hamburgische Bürgerschaft einstimmig eine Änderung des Hamburgischen Schulgesetzes. Seitdem haben Kinder und Jugendliche mit sonderpädagogischem Förderbedarf in Hamburg das Recht, allgemeine Schulen zu besuchen.
Im Juni 2012 verabschiedete die Hamburgische Bürgerschaft die Drucksache „Inklusive Bildung an Hamburgs Schulen„. Diese Drucksache enthält das Konzept, auf der die inklusive Umgestaltung des Hamburger Schulsystems fußt. Gleichzeitig war diese Drucksache der Startschuss für die praktische Umsetzung der Inklusion an Hamburgs Schulen.
Inzwischen sind 10 Jahre vergangen. Wie steht es um die inklusive Bildung für Kinder und Jugendliche mit Behinderung in Hamburg im Jahr 2022?
Ein Zeiger für den Stand von inklusiver Bildung ist die sogenannte Exklusionsquote.
Die Exklusionsquote zeigt, wie sich der Anteil der Schülerinnen und Schüler an Sonderschulen im Verhältnis zur Gesamtzahl aller Schüler entwickelt.
Zu Beginn des inklusiven Umbaus des Hamburger Schulsystems betrug die Exklusionsquote 3,6. Das heißt, 3,6 Prozent aller Schüler in Hamburg wurden 2012 exklusiv in Sonderschulen unterrichtet.
Sechs Jahre später lag die Exklusionsquote bei 2,4. Ein beeindruckendes Ergebnis.
Allerdings: In den letzten vier Jahren ist die Zahl der Schüler an Sonderschulen annähernd gleich geblieben. Dementsprechend stagniert die Exklusionsquote.
Was sind das für Schüler, die nach wie vor an Sonderschulen unterrichtet werden?
Gut die Hälfte aller rund 4400 weiterhin nicht inkludierten Schülerinnen und Schüler hat einen speziellen Förderbedarf in den Bereichen geistige Entwicklung, körperlich-motorische Entwicklung, Hören, Sehen oder Autismus.
Diese Schüler werden in Hamburg an sogenannten speziellen Sonderschulen unterrichtet.
Betrachtet man die Entwicklung der Schülerzahlen an den speziellen Sonderschulen in den letzten 10 Jahren, zeigt sich ein frustrierendes Bild:
Seit Einführung der schulischen Inklusion vor 10 Jahren ist es in Hamburg nicht gelungen, die Zahl der an speziellen Sonderschulen unterrichteten Schüler zu verringern.
Die meisten Schüler mit speziellen Förderbedarfen nehmen an inklusiver Bildung weiterhin nicht teil.
Woran liegt das?
Zwar hat seit Einführung der Inklusion jedes Kind mit Behinderung das Recht, eine Regelschule zu besuchen. Allerdings muss es keine Regelschule besuchen.
Hamburg hielt 2012 am sogenannten Elternwahlrecht fest. Das bedeutet: Eltern und Sorgeberechtigte sollen wählen können, ob ihr Kind mit Behinderung eine Regelschule oder eine Sonderschule besucht.
Um dieses Elternwahlrecht sicherzustellen, blieben die speziellen Sonderschulen trotz Einführung der schulischen Inklusion unverändert erhalten.
Die Begutachtung spezieller Förderbedarfe findet nach wie vor an den speziellen Sonderschulen statt.
Außerdem bieten die speziellen Sonderschulen mit Fahrdiensten und gesicherter Ganztagsbetreuung ein jahrelang erprobtes „Rundum-sorglos-Paket“ an.
Dagegen ist die inklusive Beschulung eines Kindes mit Behinderung an einer Regelschule nach wie vor ein Abenteuer mit vielen Hindernissen. Ein Abenteuer, das enorme Kraft, starke Nerven, Durchhaltevermögen und Eigeninitiative von Eltern fordert. Und das mit einem zunehmenden Fachkräftemangel immer schwerer zu bewältigen wird.
Die zweite Hälfte der noch nicht inkludierten Schüler hat einen sonderpädagogischen Förderbedarf in den Bereichen Lernen, Sprache oder emotional-soziale Entwicklung.
Bis 2012 wurden Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf in den Bereichen Lernen, Sprache oder emotional-soziale Entwicklung in Hamburg überwiegend an Förderschulen (ehemalige Lernbehinderten-Schulen) unterrichtet.
2012 wurden diese Förderschulen zusammen mit Sprachheilschulen und regionalen Beratungs- und Unterstützungsstellen (REBUS) zu Regionalen Bildungs- und Beratungszentren (ReBBZ) zusammengefasst. Dieser Schritt fand bundesweit viel Beachtung und wurde als „Abschaffung der Förderschulen“ gelobt.
Allerdings: Durch das Festhalten am Elternwahlrecht behielten auch Eltern von Kindern mit sonderpädagogischen Förderbedarfen einen Anspruch auf einen Schulplatz im Sondersystem. Daher blieb es eine zentrale Aufgabe der Regionalen Bildungs- und Beratungszentren, Schüler mit sonderpädagogischen Förderbedarfen auf Dauer zu unterrichten.
Die Folge: Unter dem Deckmantel der Regionalen Bildungs- und Beratungszentren blieben offiziell abgeschaffte Förderschulen weiter erhalten.Seit einigen Jahren werden sie als ReBBZ-Schulen ganz offen wieder unter Sonderschulen gelistet.
Die UN-Behindertenrechtskonvention sagt:
Alle Schüler sollen zusammen lernen und aufwachsen – unabhängig davon, ob sie eine Behinderung haben oder nicht.
Das funktioniert nur in einem inklusiven Bildungssystem für alle. Dieses muss kontinuierlich ausgebaut werden.
Im Gegenzug müssen Förder- und Sonderschulen nach und nach abgebaut werden.
Gemessen an den Vorgaben der UN-Behindertenrechtskonvention zeigt sich die inklusive Bildung in Hamburg im Jahr 2022 alles andere als vorbildlich:
Nach wie vor gibt es ein gut ausgebautes schulisches Sondersystem in der Stadt.
Dort werden seit Jahren kontinuierlich weit über 4.000 Kinder und Jugendliche exklusiv beschult. Mit steigender Tendenz.
Perspektiven, dass sich daran etwas ändert, sind nicht in Sicht.
Ja, es stimmt. Hamburg hat 2009 das Recht auf inklusive Bildung in seinem Schulgesetz verankert. Das war ein mutiger und wichtiger Schritt!
Doch dann ist Hamburg nicht weitergegangen.
Vielmehr hat sich die Stadt über das Elternwahlrecht die Hintertür zum alten Sondersystem weit offen gehalten.
Das Deutsche Institut für Menschenrechte findet in seinem aktuellen Jahresbericht deutliche Worte, was das Elternwahlrecht angeht:
Das Elternwahlrecht steht im Widerspruch zum Auftrag der UN-Behindertenrechtskonvention.
Aufgabe eines Staates ist es, ein inklusives Bildungssystem aufzubauen, das den Bedarfen aller Schüler gerecht wird. Unabhängig davon, ob ein Schüler eine Beeinträchtigung hat oder nicht.
Eltern sollen erst gar nicht vor der Wahl stehen müssen, ob sie ihr Kind mit Behinderung an einer Regelschule oder besser an einer Sonderschule beschulen lassen sollen.
Der Verantwortung, ein inklusives Bildungssystem aufzubauen, kann sich Deutschland nicht über „das Konstrukt des Elternwillens“ entledigen.