Kein Grund zu feiern: 15 Jahre UN-Behindertenrechtskonvention, 15 Jahre Recht auf inklusive Bildung

Am 26. März 2009 hat Deutschland die UN-Behindertenrechtskonvention unterzeichnet.

15 Jahre später ist unser Land immer noch meilenweit entfernt von einer erfolgreichen Umsetzung vieler der in der UN-Behindertenrechtskonvention festgeschriebenen Menschenrechte.

Darum habe ich heute folgende Pressemitteilung zum Stand der inklusiven Bildung in Hamburg verschickt:

Blick auf ein Regal mit vielen unterschiedlichen Zeitungen

Pressemitteilung

22. März 2024

15 Jahre UN-Behindertenrechtskonvention, 15 Jahre inklusive Bildung

In Hamburg immer noch kein Grund zum Feiern

Hamburgs Schulen sind noch weit davon entfernt, tatsächlich inklusiv zu sein

Was die Umsetzung von inklusiver Bildung angeht, gilt Hamburg im Vergleich zu anderen Bundesländern als sehr erfolgreich.

Trotzdem ist die Stadt auch 15 Jahre nach Unterzeichnung der UN-Behindertenrechtskonvention immer noch weit entfernt von einem inklusiven Bildungssystem für alle.

  • Seit mehreren Jahren stagniert Hamburgs Exklusionsquote. Die Schulbehörde geht davon aus, dass sich hieran bis 2035 nichts ändern wird.
  • Die allermeisten Kinder und Jugendlichen, die in Hamburg inklusiv beschult werden, besuchen Grundschulen und Stadtteilschulen. An Gymnasien findet Inklusion nach wie vor kaum statt.
  • Immer noch gibt es in Hamburg ein gut ausgebautes schulisches Sondersystem. Bestehend aus 26 staatlichen Sonderschulen und 5 privaten Sonderschulen.
  • Mehr als die Hälfte aller Hamburger Schülerinnen und Schüler mit geistigen Behinderungen, körperlichen Behinderungen, Sinnesbeeinträchtigungen und komplexen Behinderungen besucht nach wie vor eine Sonderschule.
  • Entscheiden sich die Eltern dieser Kinder für eine inklusive Beschulung, stehen ihnen dafür nur sogenannte Schwerpunktschulen offen.
  • Nur 68 von 380 Hamburger Regelschulen sind Schwerpunktschulen. Nur wenige davon haben sich bislang intensiv damit beschäftigt, schuleigene Konzepte für eine inklusive Schule und eine individualisierte Unterrichtsgestaltung zu erarbeiten. Die Gefahr ist groß, dass die gemeinsame Beschulung von Kindern mit und ohne Behinderungen zu einer neuen Sonderform wird in einem ansonsten weiterhin nicht inklusivem Regelsystem.
  • Der neue Hamburger Landesaktionsplan 2023 zeigt: Hamburg will weiterhin am sogenannten Elternwahlrecht und damit am schulischen Sondersystem festhalten. Anstelle eines inklusiven Umbaus des gesamten Bildungssystems plant die Stadt, ihr schulisches Sondersystem zu überarbeiten und zu „verbessern“.
Auf dem Bild sieht man die offizielle Flagge der Vereinten Nationen.

Erst im vergangenen Sommer ist Deutschland von der UNO zum zweiten Mal in einer Staatenprüfung heftig kritisiert worden:

Nach wie vor gebe es in Deutschland zu viele Sonderschulen und zu viele Probleme bei der inklusiven Beschulung von Kindern mit Behinderungen.

Der UN-Fachausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderung hat die Bundesregierung mit Nachdruck dazu aufgefordert, den inklusiven Umbau des gesamten Bildungssystems deutlich zu beschleunigen.

Vor allem die Bundesländer müssten endlich konkrete Aktionspläne erstellen, die tatsächlich mit den Vorgaben der UN-Behindertenrechtskonvention übereinstimmen.

Dies kommt einer beispiellosen Bloßstellung der Länder gleich.

Die Länder haben der UN-Behindertenrechtskonvention bereits am 19. Dezember 2008 einstimmig und verbindlich im Bundesrat zugestimmt. Trotzdem verzögern und verschleppen sie seitdem in ihrer Schulpolitik die notwendige inklusive Schulreform.

Eltern behinderter Kinder aus mehreren Bundesländern haben jüngst in einem Offenen Brief – unterstützt von mehr als 140 Organisationen – die Bundesregierung aufgefordert, Druck auf die säumigen Landesregierungen aufzubauen.

Erst vor wenigen Tagen hat der Europarat seinen Staatenbericht zur Menschenrechts-Lage in Deutschland veröffentlicht. Darin kritisiert er, dass ein selbstbestimmtes Leben behinderter Menschen und die Inklusion in Deutschland nach wie vor durch ausgrenzende Strukturen wie Sonderschulen und Werkstätten für behinderte Menschen äußerst erschwert sind.

Sechs Frauen und ein Mann stehen hinter einem großen schwarz-rot-gelben Banner mit der Aufschrift: "Seit 14 Jahren gilt die UN-Behindertenrechtskonvention: Schämt Euch! Shame on you! Deutschland verweigert das Menschenrecht auf inklusive Bildung. Eltern fordern Inklusion. Jetzt endlich!" Im Hintergrund sieht man den Uno-Hauptsitz in Genf.
Gemeinsam mit Eltern aus ganz Deutschland habe ich bei der 2. deutschen Staatenprüfung 2023 vor der UN in Genf demonstriert. Gleich mehrere Mitglieder des Uno-Fachausschusses für die Rechte von Menschen mit Behinderungen solidarisierten sich mit uns. Hier der Schweizer Markus Schefer, Professor für Staats- und Verwaltungsrecht an der Universität Basel. (Copyright Inklusion-in-hamburg.de)

Immer mehr Eltern in Hamburg kehren der schulischen Inklusion den Rücken zu.

Zu wenig Ressourcen, zu wenig Förderung und zu wenig Verlässlichkeit, so heißt es von allen Seiten.

Gleichzeitig bemängeln erste Eltern an Sonderschulen, dass auch dort immer mehr
Sonderpädagogen und Fachkräfte fehlen.

Dies zeigt:

Ein dauerhaftes Vorhalten von Sondersystem und Regelsystem, wie es Hamburg langfristig plant, ist angesichts von Lehrermangel und knapper Kassen zum Scheitern verurteilt.

Außerdem verstößt es gegen die UN-Behindertenrechtskonvention.

Hamburgs Senat ist aufgefordert

  • sich klar zur UN-Behindertenrechtskonvention zu bekennen und sich mit Nachdruck und
    verbindlich für die vollständige Umsetzung von inklusiver Bildung einzusetzen.
  • das Ergebnis der Staatenprüfung ernst zu nehmen und einen wirksamen Aktionsplan für den Ausbau inklusiver Schulen vorzulegen.

Dieser Aktionsplan muss einen konkreten Zeitplan enthalten, bis wann der inklusive Umbau des gesamten Schulsystems abgeschlossen sein soll.

Er muss die notwendigen Maßnahmen für Schulentwicklung, Qualität und Personal enthalten und koordinieren.

Und er muss klare Verantwortlichkeiten für die Steuerung der inklusiven Entwicklung benennen sowie eine ausreichende Finanzierung hinterlegen.

Ein paar Füße in schweren roten Schuhen stampfen auf Asphalt.

Alle Bundesländer – und damit auch Hamburg – müssen endlich die Vorgaben der UN-Behindertenrechtskonvention erfüllen und den Übergang vom Sonderschulsystem in ein inklusives Regelschulsystem zeitnah und verbindlich umsetzen.

#15Jahre #KeinGrundZumFeiern #InklusiveBildungJetzt!

Übrigens:

Auch in vielen anderen Bundesländern gab es heute solche Presseerklärungen zum Stand der inklusiven Bildung!

#WirWarenInGenf

Was sagt der Hamburger Landesaktionsplan 2023 zum Thema Inklusion an Schulen?

Nach der letzten Staatenprüfung im August 2023 zeigte sich der UN-Ausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen äußerst besorgt über die unzureichende Umsetzung von inklusiver Bildung in Deutschland.

Ganz besonders kritisierte er die weite Verbreitung von Förderschulen und Förderklassen.

Und die vielen Probleme, auf die behinderte Kinder, Jugendliche und ihre Familien stoßen, wenn sie sich für eine inklusive Beschulung entscheiden.

Umso interessanter ist es, was der neue Hamburger Landesaktionsplan 2023 zum Thema Inklusion an Schulen sagt.

Im Hintergrund des Bildes sieht man das Hauptgebäude der Vereinten Nationen in Genf, davor die Allee mit den Flaggen aller Mitgliedstaaten.

Im Landesaktionsplan wird zunächst die Entwicklung der schulischen Inklusion seit ihrer Einführung im Jahr 2012 vorgestellt.

Das ganze liest sich wie eine reine Erfolgsgeschichte.

Tatsächlich hat Hamburg im Vergleich mit anderen Bundesländern eine bemerkenswerte Entwicklung hingelegt.

Allerdings:

Die Stadt ist immer noch weit entfernt von einem inklusiven Schulsystem für alle.

  • Nach wie vor gibt es in Hamburg ein gut ausgebautes schulisches Sondersystem. Bestehend aus 26 staatlichen Sonderschulen und 5 privaten Sonderschulen.

Hier werden rund 40 Prozent aller Schülerinnen und Schüler mit Förderbedarfen unterrichtet. Mit steigender Tendenz.

  • Die allermeisten Kinder und Jugendlichen, die in Hamburg inklusiv beschult werden, besuchen Grundschulen und Stadtteilschulen. An Gymnasien findet Inklusion dagegen nach wie vor kaum statt.
  • Bereits seit mehreren Jahren stagniert die jährliche Exklusionsquote. Das heißt: Der Anteil der Schülerinnen und Schüler an Sonderschulen geht im Vergleich zu allen Hamburger Schülern nicht weiter zurück.

Die Hamburger Schulbehörde geht davon aus, dass sich hieran bis mindestens 2035 nichts ändern wird.

  • Die meisten Kinder und Jugendlichen mit geistigen Behinderungen, körperlichen Behinderungen, Sinnesbeeinträchtigungen und komplexen Behinderungen nehmen an inklusiver Bildung nach wie vor nicht teil.

Als Schülerinnen und Schüler mit speziellen Förderbedarfen werden sie überwiegend an Sonderschulen unterrichtet.

Im Schuljahr 2023/24 besuchten 2588 Schüler mit speziellen Förderbedarfen Sonderschulen.

Nur 1650 Schüler mit speziellen Förderbedarfen wurden inklusiv an Regelschulen unterrichtet.

Zum Vergleich:

Zu Beginn der schulischen Inklusion 2012/13 besuchten 1986 Schüler mit speziellen Förderbedarfen Sonderschulen und 1326 Regelschulen.

Außerdem steigt seit einigen Jahren die Zahl autistischer Schülerinnen und Schüler an Sonderschulen.

Das gleiche gilt für Schülerinnen und Schüler mit dem Förderschwerpunkt Emotional-soziale Entwicklung, unter ihnen viele mit FASD.

Nur Schülerinnen und Schüler mit den Förderschwerpunkten Lernen und Sprache konnten bislang mehrheitlich von der schulischen Inklusion profitieren. Sie werden inzwischen überwiegend an Regelschulen unterrichtet.

Dies alles zeigt:

Hamburgs angeblich so erfolgreiche Inklusion ist bislang nur eine sehr eingeschränkte Inklusion.

Weite Teile des Hamburger Schulsystems sind weiterhin auf Absonderung und Trennung ausgerichtet.

Ein Mensch studiert eine weißen Wand, an die viele Zettel und Pläne gepinnt sind.

Was plant Hamburg in Sachen schulische Inklusion?

1. Hamburg will an seinen Sonderschulen festhalten.

Damit Eltern behinderter Kinder weiterhin eine Wahl haben zwischen Sonderschule und Regelschule, will Hamburg am Sonderschulsystem festhalten.

Dies steht im Widerspruch zur UN-Behindertenrechtskonvention.

Die UN-Behindertenrechtskonvention sagt klar und deutlich:

Alle Kinder und Jugendlichen sollen gemeinsam unterrichtet werden.

Nach der Staatenprüfung im August 2023 hat der UN-Ausschuss Deutschland dazu aufgefordert, einen umfassenden Plan zu erstellen, wie der Übergang vom Sonderschulsystem in ein inklusives Regelschulsystem möglichst zügig umgesetzt werden kann.

Und zwar mit einem konkreten Zeitrahmen.

Mit der Zuweisung von personellen,
technischen und finanziellen Ressourcen.

Und mit klaren Verantwortlichkeiten für die
Umsetzung und Überwachung.

Darüber verliert der Hamburger Landesaktionsplan kein einziges Wort.

Drei grüne Kermit-Puppen sitzen nebeneinander auf zwei Holzbalken. Die erste Frosch-Figur hält sich die Ohren zu. Die zweite Frosch-Figur hält sich die Augen zu. Die dritte hält sich den Mund zu.

Stattdessen reduziert sich Hamburgs Planung darauf, „dass der Besuch einer allgemeinen Schule einen Mehrwert gegenüber anderen Schulformen bieten muss – durch konsequent gelebte Inklusion und ein positives Schulerlebnis besonders auch für Menschen mit Behinderungen.“

Als Mutter eines Kindes mit Behinderung bin ich fassungslos.

Bei inklusiver Bildung geht es um viel mehr als „positive“ Schulerlebnisse für Menschen mit Behinderungen.

Es geht um bestmögliche Bildung für alle.

Damit alle jungen Menschen ihre Persönlichkeit, ihre Begabungen und ihre Kreativität sowie ihre geistigen und körperlichen Fähigkeiten voll entfalten können.

Eine Zeichnung mit vier bunten Pfeilen, die sich in der Mitte des Bildes treffen.

2. Hamburg will Schwerpunktschulen weiter stärken.

Hamburg hat das Recht auf inklusive Beschulung in seinem Schulgesetz festgeschrieben.

Allerdings bedeutet das nicht automatisch, dass behinderte Kinder und deren Eltern die freie Schulwahl haben.

Kinder und Jugendliche mit speziellen Förderbedarfen sollen an sogenannten Schwerpunktschulen unterrichtet werden.

Schwerpunktschulen sind Schulen, die als besonders erfahren und ausgestattet gelten, was den Unterricht von Schülerinnen und Schülern mit Behinderungen angeht.

Fast alle Schwerpunktschulen haben bereits vor Einführung der Inklusion mit Integrationsklassen und integrativen Regelklassen gearbeitet.

Insgesamt gibt es in Hamburg 68 Schwerpunktschulen.

Nämlich 40 Grundschulen und 28 Stadtteilschulen, die sich sehr ungleichmäßig über das Stadtgebiet verteilen.

183 Grundschulen, 55 Stadtteilschulen und 74 Gymnasien sind keine Schwerpunktschulen.

Das bedeutet:

Nur jede 5. Hamburger Schule ist eine Schwerpunktschule.

Bereits der Landesaktionsplan 2019 sah vor, Schwerpunktschulen zu stärken.

Unter dem Namen „möglichmacher*“ entwickelte die Schulbehörde ein Modellprojekt, um ausgewählte Schwerpunktschulen bei ihrer inklusiven Schulentwicklung zu stärken und zu unterstützen.

An diesem Projekt beteiligten sich bislang 7 Grundschulen und 4 Stadtteilschulen.

Im neuen Landesaktionsplan bleibt offen, ob die Maßnahme „Schwerpunktschulen stärken“ diesmal alle Schwerpunktschulen mit einschließt.

Oder ob sie sich erneut nur auf ausgewählte Schwerpunktschulen konzentriert.

Sicher ist:

Nur ein kleiner Teil aller Hamburger Schwerpunktschulen scheint sich bislang intensiv damit beschäftigt zu haben, schuleigene Konzepte für eine inklusive Schule und eine individualisierte Unterrichtsgestaltung zu erarbeiten.

Dies erklärt auch, warum Eltern von inklusiv beschulten Kindern immer wieder über Schwierigkeiten berichten: bei Nachteilsausgleichen und Förderplanung, beim zieldifferenzierten Unterricht, bei der Zuweisung von Ressourcen oder der Zusammenarbeit mit Therapeuten.

Grundsätzlich halte ich das Konzept der Schwerpunktschulen für problematisch.

Zum einen geht es von einem medizinisch geprägten Behinderungsbegriff aus, der Beeinträchtigungen als Defizite ansieht.

Aufgrund dieser „Beeinträchtigungen“ sollen Schülerinnen und Schüler mit speziellen Förderbedarfen nur an besonders ausgestatteten Schulen oder spezialisierten Sonderschulen unterrichtet werden.

Zum andern ist die Gefahr groß, dass Schwerpunktschulen zu inklusiven Sonderformen werden in einem ansonsten weiterhin nicht inklusivem Regelsystem.

Vier Menschen sitzen gemeinsam an einem großen Tisch und arbeiten an ihren Laptops. Die Laptops sind mit einem größeren Computer verbunden. Auf dem Tisch liegen  verschiedene Zettel, Notizblöcke, Kabel und Handys. Außerdem sieht man einen Aktenordner, eine Brotdose und verschiedene Getränke.

3. Verbesserung der Beratungs- und Bildungsangebote

Der Landesaktionsplan 2023 sieht vor, Beratungsangebote und Bildungsangebote für Familien mit behinderten Kindern deutlich zu verbessern.

Und zwar über einen auf 5 Jahre angelegten Organisationsentwicklungsprozess.

Zuständig für den geplanten Organisationsentwicklungsprozess sind die speziellen Sonderschulen, die Regionalen Bildungs- und Beratungszentren und das Bildungs- und Beratungszentrum Pädagogik bei Krankheit/Autismus.

Ziel des Organisationsentwicklungsprozesses ist es, Strukturen und Prozesse der speziellen Sonderschulen und Beratungszentren zu überarbeiten und neu aufzustellen:

  • um individuelle und flexible Bildungsverläufe zu ermöglichen und Bildungschancen zu vergrößern,
  • um die Teilhabe an Bildung und sozialem Miteinander zu verbessern,
  • und um die Zusammenarbeit untereinander sowie mit verschiedenen Professionen zu intensivieren und zu erweitern.

Es sollen also die speziell für Schülerinnen und Schüler mit Förderbedarfen gedachten besonderen Bildungs- und Beratungsangebote neu gestaltet und verbessert werden.

Allerdings: So funktioniert keine Inklusion.

Inklusion bedeutet nicht, das Sondersystem umzugestalten.

Inklusion bedeutet, das Gesamtsystem Schule von Grund auf umzubauen und inklusiv zu gestalten.

Auf dem Bild sieht man den oberen Teil eines großen Baukrans vor blauem Himmel.

4. Verbesserung der Barrierefreiheit

Bereits der erste Landesaktionsplan aus dem Jahr 2012 sah vor, die bauliche Barrierefreiheit an Hamburgs Schulen zu verbessern.

Seitdem betont der Senat gerne und regelmäßig, dass er jedes Jahr sehr viel Geld investiert, um Hamburgs Schulgebäude barrierefreier zu machen.

Als konkrete Maßnahme im Landesaktionsplan 2023 ist vorgesehen, alle Schulneubauten nach DIN 18040-1 barrierefrei zu planen und zu errichten.

Bei Sanierungen und Umbauten sollen zusätzliche Leistungen zur Barrierefreiheit nach individuellem Bedarf und entsprechend der DIN umgesetzt werden.

Damit knüpft der Landesaktionsplan 2023 nahtlos an die bisherige Schulpolitik des Senats an.

Doch was heißt das genau?

Werden Schulen in Hamburg neu gebaut, erhalten sie gemäß DIN 18040-1 automatisch Aufzüge, barrierefreie Zugänge und behindertengerechte WCs.

Neu gegründete Schwerpunktschulen erhalten außerdem eine zusätzliche Fläche von 24 Quadratmetern pro Zug. Hier können bei Bedarf Pflegeräume eingerichtet werden.

Weitere Bedarfe an Barrierefreiheit sollen zu Beginn der Bauvorhaben in Abstimmung mit der Schule ermittelt werden.

An dieser Stelle lohnt es, etwas tiefer zu gehen.

Und zwar mit der Frage: Welche Kriterien wendet Hamburg an bei der Gestaltung von Barrierefreiheit an Schulen?

In Hamburg werden Schulen als halb-öffentliche Gebäude betrachtet.

Es gibt den öffentlichen Bereich einer Schule. Nämlich das Schulbüro, Gemeinschaftsflächen und die Sporthalle.

Alle übrigen Schulräume werden in erster Linie von Schülern und Lehrern genutzt.

Damit gelten diese Räume aus Sicht der Schulbehörde als nicht öffentlich.

Entsprechend reduzieren sich die Anforderungen an Barrierefreiheit.

Was das bedeutet, zeigt sich bei der Sanierung bereits bestehender Schulen.

Hinweisschild mit der Aufschrift "Barrierefreier Zugang", darunter ein Pfeil und ein Rollstuhlfahrerpiktogramm"

Werden bereits bestehende Schulen saniert, erhalten sie behindertengerechte Zugänge zu allen öffentlichen Bereichen.

Also zu Sporthallen, Schulbüros und Gemeinschaftsflächen. Außerdem soll mindestens
ein behindertengerechtes WC je Schule geschaffen werden.

Für bestehende Schwerpunktschulen sind darüber hinaus behindertengerechte Zugänge zu Fachräumen, Ganztagsflächen und zu einzelnen Klassenräumen vorgesehen.

Dabei ist jede Schwerpunktschule aufgefordert, geschaffene barrierefreie Räume – je nach Bedarf – bestimmten Klassen oder Jahrgängen zuzuordnen.

Dies bedeutet: Einzelne Gebäude einer Schwerpunktschule müssen nicht unbedingt einen Aufzug erhalten. Oder einen barrierefreien Zugang.

In einem dreigeschossigen Klassenhaus einer bestehenden Schwerpunktschule reicht es zum Beispiel aus, wenn Klassenräume im Erdgeschoss von Schülerinnen und Schülern mit Rollstuhl erreicht werden können.

Insgesamt ist die bauliche Barrierefreiheit an Hamburgs Schulen also erheblich eingeschränkt.

Sie konzentriert sich nur auf ausgewählte schulische Räume.

Und sie konzentriert sich auf ausgewählte Schulen.

Die UN-Behindertenrechtskonvention dagegen fordert klar und deutlich:

Schülerinnen und Schüler mit und ohne Behinderungen müssen gleichberechtig Zugang haben zu allen Schulen und zu allen von Schülern genutzten Räumen.

Von einer umfänglichen Barrierefreiheit, wie sie die UN-Behindertenrechtskonvention fordert, sind Hamburgs Schulen also noch weit entfernt.

Zwei rote Gummistiefel spiegeln sich in einer großen Pfütze mit Regentropfen.

Werden die im Landesaktionsplan 2023 vorgesehenen Maßnahmen ausreichen, um Hamburgs Schulen inklusiver zu machen und so der Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention ein gutes Stück näher zu kommen?

Meine Antwort darauf lautet: NEIN.

Denn Hamburg weigert sich weiterhin, sein Sonderschulsystem aufzugeben.

Gleichzeitig baut Hamburg mit seinen Schwerpunktschulen ein neues, vermeintlich inklusives Sondersystem aus.

Beides hat zur Folge, dass an den meisten Hamburger Schulen nach wie vor keine Kinder und Jugendlichen mit Behinderungen zu finden sind.

Was sagt der Hamburger Landesaktionsplan 2023 zum Thema berufliche Bildung?

Ihr wisst: Seit über zwei Jahren beschäftige ich mich intensiv mit den Themen Arbeit, Berufsvorbereitung und Ausbildung.

Darum wollte ich natürlich als erstes wissen:

Was sagt der neue Hamburger Landesaktionsplan 2023 zum Thema berufliche Bildung?

In Sachen berufliche Bildung heißt es im Landesaktionsplan:

Was Inklusion im Beruf angeht, hat Hamburg in den letzten Jahren viel getan.

Es gibt bereits vielfältige Unterstützungsangebote.

Trotzdem ist es nötig, den Übergang Schule – Beruf für Lernende noch besser zu gestalten.

Was genau hat Hamburg bereits unternommen?

Seit August 2021 gibt es an allen Berufsschulen sogenannte Inklusionsbeauftragte.

Das sind Lehrer oder Lehrerinnen, die zuvor vom Landesinstitut für Lehrerbildung in Sachen Inklusion ausgiebig geschult worden sind.

Die Inklusionsbeauftragten haben die Aufgabe:

  • ihre Kollegen in Sachen Inklusion fortzubilden und zu unterstützen,
  • passende individuelle Unterstützungsangebote für Schülerinnen und Schüler zu entwickeln (einschließlich barrierearmer Lernumgebungen und Unterrichtsmaterialien),
  • schulische Strukturen inklusiver zu gestalten.

Außerdem bieten die meisten Hamburger Berufsschulen inzwischen eine Ausbildungsvorbereitung dual & inklusiv an. Abgekürzt wird das mit AV dual&inklusiv.

In der inklusiven Ausbildungsvorbereitung werden Jugendliche mit speziellen Förderbedarfen durch Arbeitsassistenzen individuell begleitet und unterstützt.

Daneben werden barrierearme digitale Unterrichtsmaterialien entwickelt, erprobt und evaluiert.

Dazu gehören zum Beispiel Unterrichtsmaterialien in einfacher oder leichter Sprache.

All dies soll im Rahmen des Landesaktionsplans weiter entwickelt und auf die Bildungsgänge der Ausbildung übertragen werden.

Jugendliche mit festgestelltem Unterstützungsbedarf können dann auch im Berufsqualifizierungsjahr und in der dualen oder vollschulischen Ausbildung individuelle Arbeitsassistenzen erhalten.

Alle Lehrkräfte der Berufsschulen werden im Umgang mit barrierearmen digitalen Unterrichtsmaterialien geschult.

Auf dem Bild sieht man eine Frau mittleren Alters, die fragend in die Luft blickt. Um ihren Kopf herum sind lauter Fragezeichen abgebildet.

Nun ist die spannende Frage:

Wie wirksam sind diese Maßnahmen?

Werden sie möglichst viele junge Menschen mit Behinderungen erreichen?

Und werden sie dazu beitragen, dass mehr junge Menschen mit Behinderungen erfolgreich auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt ausgebildet werden?

Bislang hat noch keine Evaluation der bereits umgesetzten Maßnahmen stattgefunden.

Dennoch wage ich einige Überlegungen und Anmerkungen.

Auf dem Bild sieht man den vorderen Teil eines Rasenmähers, mit dem gerade eine Wiese gemäht wird.

1. Neben dem Ausbau der inklusiven Ausbildungsvorbereitung hält Hamburg an der exklusiven Berufsvorbereitung für Menschen mit Behinderungen fest.

Neben der inklusiven Ausbildungsvorbereitung an regulären Berufsschulen gibt es in Hamburg die sogenannte Berufsvorbereitung für Menschen mit Behinderungen.

In der Berufsvorbereitung werden überwiegend junge Menschen mit geistigen Behinderungen auf eine anschließende berufliche Beschäftigung vorbereitet.

Und zwar meist überbetrieblich und in nur wenigen ausgewählten Beschäftigungsfeldern wie Gartenbau oder Hauswirtschaft.

An einem Tag in der Woche besuchen die jungen Menschen eine Berufsschule für Schülerinnen und Schüler mit besonderem Förderbedarf.

Ein Übergang in eine Ausbildung ist nicht vorgesehen.

Im neuen Landesaktionsplan wird die exklusive Berufsvorbereitung für junge Menschen mit Behinderungen nicht erwähnt.

Ich gehe davon aus, dass sie weiterhin bestehen bleiben wird.

Das Bild zeigt das Ende eines Stumpfgleises, gesichert mit einem Prellbock. Im Hintergrund sieht man eine blühende Kastanie und Bahnanlagen.

2. Die Exklusivität des „inklusiven“ Übergangsbereichs

Junge Menschen mit Behinderungen, die inklusiv beschult wurden, wechseln nach der Schule so gut wie immer in den sogenannten Übergangsbereich.

Über ein inklusives oder exklusives Ausbildungsvorbereitungsjahr sollen sie auf den Arbeitsalltag vorbereitet werden und berufliche Interessen entwickeln.

Ganz anders ist dies bei Jugendlichen ohne Behinderung.

Bei ihnen bemühen sich Schule und Jugendberufsagentur, einen möglichst nahtlosen Übergang von der Schule in die Ausbildung zu erreichen.

Jugendliche ohne Behinderung wechseln nur dann in den Übergangsbereich, wenn es mit einem Ausbildungsplatz nicht geklappt hat.

Zum Beispiel wegen einem fehlenden Schulabschluss.

Oder wegen schlechter Deutschkenntnisse.

Oder wegen anderer familiärer oder sozialer Probleme.

Das heißt:

Der Übergangsbereich an sich ist bereits exklusiv.

Er wird immer mehr zu einem Auffangbecken für Schülerinnen und Schüler, die die Lernziele der Stadtteilschulen nicht erreicht haben.

An einer rosa gestrichenen Wand hängen sehr viele unterschiedliche Werkzeuge, darunter Zangen, Hammer und Wasserwaagen.

3. Der Eingangs- und Berufsbildungsbereich der Werkstätten für behinderte Menschen bleibt weiter bestehen.

Über 4400 Schülerinnen und Schüler wurden im Schuljahr 2022/23 in Hamburg exklusiv an Sonderschulen unterrichtet.

Die allermeisten von ihnen wechseln nach der Schule direkt in den Eingangs- und Berufsbildungsbereich einer Werkstatt für behinderte Menschen.

Aus den Sonderschulen kommen vor allem Jugendliche mit geistigen Behinderungen, körperlichen Behinderungen, Sinnesbeeinträchtigungen und komplexen Behinderungen.

Auch Jugendliche mit einer Autismus-Spektrum-Störung oder einer Fetalen Alkohol-Spektrum-Störung (FASD) gehören inzwischen dazu.

Im Eingangs- und Berufsbildungsbereich der Werkstätten durchlaufen die jungen Menschen zunächst eine erste Orientierungsphase.

Danach beginnt die sogenannte Berufsbildungszeit.

Über die Berufsbildungszeit soll herausgefunden werden, ob ein junger Mensch mit Behinderung für den allgemeinen Arbeitsmarkt geeignet ist.

Oder ob er in einer Werkstatt oder einer Einrichtung der Tagesförderung besser aufgehoben ist.

Die Berufsbildungszeit dauert meist zwei Jahre.

Das ist relativ lang.

Trotzdem ist die Berufsbildungszeit keine anerkannte berufliche Ausbildung.

Nach Abschluss der Berufsbildungszeit gelten junge Menschen mit Behinderungen weiterhin als ungelernt.

Während der Berufsbildungszeit besuchen junge Menschen mit Behinderungen einmal in der Woche die Berufsschule für den Berufsbildungsbereich der Werkstätten in der Beruflichen Schule Uferstraße.

Auch die exklusive Berufsbildungszeit im Eingangs- und Berufsbildungsbereich der Hamburger Werkstätten wird im Landesaktionsplan 2023 nicht erwähnt.

Das Bild zeigt zwei sich kreuzende Zebrawege auf einer riesigen Straßenkreuzung. In der Mitte der Zebrawege sieht man einen Menschen mit Rucksack. Ansonsten ist die Kreuzung leer.

4. Die Reha-Abteilung der Agentur für Arbeit vermittelt ausschließlich in Sonderformen.

Beim Übergang von der Schule in die Arbeitswelt hilft in Hamburg die Jugendberufsagentur.

Und das sehr erfolgreich.

Allerdings:

Für junge Menschen mit Behinderungen ist nicht die Jugendberufsagentur zuständig.

Sondern die Reha-Abteilung der Agentur für Arbeit.

Die Reha-Abteilung der Agentur für Arbeit ist eine eigene Welt für sich.

Die „Berufsberatung“ in der Reha-Abteilung orientiert sich an Angeboten und Maßnahmen, die ausschließlich für junge Menschen mit Behinderungen gedacht sind.

Dazu zählt die Vermittlung in den Eingangs- und Berufsbildungsbereich der Werkstätten.

Außerdem arbeitet die Reha-Abteilung eng mit Bildungsträgern zusammen, die sich auf die Ausbildung von jungen Menschen mit besonderen Förderbedarfen spezialisiert haben.

Anbieter dieser speziellen Ausbildungen sind die Berufliche Schule Uferstraße, das Bildungszentrum für Blinde und Sehbehinderte und das Berufsbildungswerk Eidelstedt.

Hier können junge Menschen mit Behinderungen entweder eine Vollausbildung oder eine theoriereduzierte Fachpraktiker-Ausbildung machen.

Allerdings nur in wenigen ausgewählten Berufen.

Und so gut wie nie in einem Ausbildungsbetrieb auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt.

Sondern in überbetrieblichen Werkstätten der Bildungsträger.

Und in exklusiven Berufsschulen.

In den allermeisten Fällen führen diese exklusiven Ausbildungen zu keiner dauerhaften Beschäftigung auf dem regulären Arbeitsmarkt.

Auf dem Bild sieht man einen Teil einer geöffneten roten Tür mit silbernem Türgriff. Auf Griff und Tür sind Wassertropfen.

5. Über neue inklusive Ausbildungsformen wird nicht nachgedacht.

Der Landesaktionsplan sieht vor, die Hamburger Jugendberufsagentur endlich auch für junge Menschen mit Behinderungen zu öffnen.

Das könnte ein wichtiger Schritt sein hin zu einem inklusiven Arbeits- und Ausbildungsmarkt.

Notwendig dafür wäre es allerdings, sich von den an die Werkstätten gebundenen Sonderformen Berufsvorbereitung und Berufsbildungszeit zu verabschieden.

Stattdessen müssten neue Formen der beruflichen Ausbildung entwickelt werden.

In solchen inklusiven Ausbildungen müssten junge Menschen mit und ohne Behinderungen gemeinsam in Berufsschulen lernen.

Und sie müssten gemeinsam in Betrieben des regulären Arbeitsmarktes oder in überbetrieblichen Werkstätten ausgebildet werden.

Jeder junge Mensch würde einen eigenen Ausbildungsplan erhalten.

Orientiert an seinen individuellen Stärken und Schwächen.

Am Ende der Ausbildung hätte jeder einen Abschluss – unabhängig von einer Behinderung.

Doch ob das jemals Realität wird?

Solange Hamburg am Sondersystem der Werkstätten festhalten wird, bezweifle ich das sehr.

Auf dem Bild sieht man eine ausgestreckte Hand, die verhindert, dass eine bunte Reihe aus Dominosteinen weiter umfällt.

Kommen wir zurück zur Ausgangsfrage:

Wie wirksam sind die im Landesaktionsplan 2023 vorgesehenen Maßnahmen zur beruflichen Bildung?

Ich gehe davon aus, dass die vorgesehenen Maßnahmen die meisten jungen Menschen mit Behinderungen gar nicht erreichen werden.

Schülerinnen und Schüler der Sonderschulen werden wohl weiterhin nach der Schule überwiegend in die Sondersysteme von Werkstätten und Bildungsträgern wechseln.

Und damit eigene, exklusive Berufsschulen besuchen.

Inklusiv beschulte Jugendliche mit Behinderungen werden das inklusive Ausbildungsvorbereitungsjahr für sich nutzen können.

Auch wenn diese Maßnahme nicht wirklich inklusiv ist.

Danach allerdings wird für die meisten von ihnen Schluss sein.

Denn:

Der reguläre Berufsschulunterricht ist an einen Ausbildungsplatz gekoppelt.

Den werden Menschen mit stärkeren Einschränkungen aber nicht finden, solange es keine wirklich inklusiven Ausbildungsformen gibt.

Ein roter Sportstiefel steht auf Stroh. Der dazu passende zweite Stiefel liegt schräg dahinter.

Die UN-Behindertenrechtskonvention sagt:

Menschen mit und ohne Behinderungen sollen gemeinsam und gleichberechtigt ausgebildet und weitergebildet werden.

Dieses Ziel wird mit dem neuen Landesaktionsplan nicht erreicht.


Spezielle Berufsvorbereitung für junge Menschen mit Behinderungen in Hamburg

Folgende Anbieter führen in Hamburg Maßnahmen zur speziellen Berufsvorbereitung für junge Menschen mit Behinderungen durch:

Die Berufsvorbereitung an der Berufsbildenden Schule Anlagen- und Konstruktionstechnik bietet Plätze für junge Menschen mit geistiger Behinderung an, die eine Berufstätigkeit im Bereich Haustechnik/ Hausmeisterei/ Gartenpflege ausüben wollen.

Ziel der Berufsvorbereitung ist die Teilqualifizierung für Tätigkeiten als Hausmeisterhelfer sowie für andere handwerkliche Aufgabenbereiche.

An einer rosa gestrichenen Wand hängen sehr viele unterschiedliche Werkzeuge, darunter Zangen, Hammer und Wasserwaagen.

Die Berufsvorbereitung an der Fachschule für Sozialpädagogik Altona biete Plätze für junge Menschen mit geistiger Behinderung, die eine Berufstätigkeit in der Kinderbetreuung anstreben.

Ziel der Berufsvorbereitung ist die Teilqualifizierung für Tätigkeiten als Kindertagesheimhelferin.

Die Berufsvorbereitung an der Beruflichen Schule Uferstraße bietet Plätze für junge Menschen mit geistiger Behinderung, die eine Berufstätigkeit im Bereich Hauswirtschaft/ Gastronomie oder im Bereich Haustechnik/ Dienstleistung anstreben.

Das Bildungszentrum für Blinde und Sehbehinderte bietet Plätze für schulpflichtige Jugendliche mit den Förderschwerpunkten „Sehen“, „Lernen“ sowie „emotionale und soziale Entwicklung“.

In den Projektangeboten „Bistro“ und „Büro“ werden berufsbezogene und lebenspraktische Kompetenzen in den Berufsfeldern „Ernährung und Hauswirtschaft“ sowie „Wirtschaft und Verwaltung“ vermittelt.

Das Berufsbildungswerk bietet Berufsvorbereitung für Jugendliche mit besonderem Förderbedarf an.

Der schulische Teil der Berufsvorbereitung findet in der Beruflichen Schule Eidelstedt auf dem Gelände des Berufsbildungswerkes statt.

Gleiche Startchancen für alle?

In Hamburg startet das neue Startchancen-Programm der Bundesregierung.

Es spült der neuen Schulsenatorin Ksenija Bekeris in den nächsten 10 Jahren insgesamt 215 Millionen Euro in die Kasse.

Mit dem Geld sollen sozial benachteiligte Schülerinnen und Schüler beim Lernen der Basiskompetenzen in Deutsch und Mathematik sowie in ihrer Persönlichkeitsentwicklung gefördert werden.

Für mehr Bildungsgerechtigkeit und gute Startchancen für alle.

Das Bild zeigt eine Schnur, an der sechs unterschiedliche Euro-Scheine mit Wäscheklammern befestigt sind. Im Hintergrund sieht man Holzplanken.

Geld für Bildung an sich ist eine gute Sache.

Gute Bildung bedeutet mehr gesellschaftliche Teilhabe und bessere Lebenschancen.

Das stärkt die Demokratie und sichert die Zukunft unseres Landes.

Allerdings:

Schülerinnen und Schüler mit Behinderungen werden im bundesweiten Startchancen-Programm – wieder einmal – vergessen.

Gute Startchancen für Menschen mit Behinderungen interessieren die Bundesregierung anscheinend nicht.

Obwohl das Recht auf gleichberechtigte Teilhabe an Bildung für Menschen mit Behinderungen seit 15 Jahren gesetzlich festgeschrieben ist.

Geht es um inklusive Bildung, dann heißt es derzeit von der Bundesregierung:

„Bildung ist Ländersache“.

Gleichzeitig zeigen das Startchancen-Programm und der Digital-Pakt:

Die Bundesregierung kann durchaus Verantwortung übernehmen in Sachen bundesweite Bildung.

So sie denn will.

Seit 4 Monaten warten 140 namhafte Vereine und Verbände und über 1.400 Einzelpersonen vergeblich darauf, dass die Bundesregierung den Offenen Brief #InklusiveBildungJetzt! beantwortet.

In Zeiten zunehmender Politikverdrossenheit und einer gleichzeitigen Radikalisierung in unserer Gesellschaft ein denkbar schlechtes Zeichen.

Dabei bietet inklusive Bildung den Schlüssel für mehr Bildungsgerechtigkeit für alle.

Das Bild zeigt mich vor einem gelben Briefkasten. Im Schlitz des Briefkastens stecken meine zwei blauen Briefe nach Berlin.
Copyright Inklusion-in-hamburg.de

Übrigens:

Inzwischen habe ich zwei blaue Briefe geschrieben und verschickt.

An die Bundesminister Hubertus Heil und Bettina Stark-Watzinger.

Eltern erhalten „blaue Briefe“ von der Schule, wenn die Versetzung ihrer Kinder gefährdet ist.

Meine blauen Briefe zeigen meine große Enttäuschung über das Schweigen der zwei Minister.

Es kann und darf nicht sein, dass in einem freiheitlich-demokratischen Land wie Deutschland das Menschenrecht auf Inklusion einfach ignoriert wird.

Zwei rote Schuhe baumeln mit Schnürsenkeln zusammengebunden in der Luft. Dahinter sieht man blauen Himmel.

Wollt ihr auch blaue Briefe nach Berlin schicken?

Alle Informationen dazu und auch einen Beispiel- Brief findet ihr hier:

#InklusiveBildungJetzt! Wo bleibt die Antwort auf unseren Offenen Brief? – mittendrin e.V. (mittendrin-koeln.de)

Enttäuschend: Hamburgs Landesaktionsplan 2023

Lange haben wir auf die Neufassung des Hamburger Landesaktionsplans zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention gewartet.

Nun ist sie endlich da.

Allerdings: Das Ergebnis bleibt deutlich hinter den Erwartungen von Menschen mit Behinderungen und deren Familien zurück.

Das Bild zeigt das Logo des Beteiligungsverfahren zur Neufassung des Hamburger Landesaktionsplans 2021/22: Mit uns! Inklusion gestalten.
Logo zum Beteiligungsverfahren Bild: © Sozialbehörde

Sie erinnern sich?

Zwischen März 2021 und Juni 2022 hatte die Hamburger Sozialbehörde ein breit angelegtes Beteiligungsverfahren durchgeführt.

Die Sozialbehörde wollte wissen:

Wie kann Inklusion in Hamburg verbessert werden?

Viele Menschen mit und ohne Behinderung haben darauf geantwortet.

Über 1.800 Vorschläge kamen so zusammen.

Dann begann das lange Warten.

Über ein Jahr lang waren Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen der Hamburger Fachbehörden beschäftigt.

Sie haben die über 1.800 Vorschläge gesichtet, geordnet, zusammengefasst, gewichtet und bewertet.

Auf der linken Bildseite sieht man Füße und Unterschenkel eines Menschen, der an der Kante eines Bahnsteigs steht. Der Mensch trägt Turnschuhe, Ringelsocken und eine schwarze Sporthose. Rechts im BIld sieht man Schienen, die im nebeligen Bild-Hintergrund verschwinden.

Am Ende übrig blieben 66 konkrete Maßnahmen, verteilt auf 8 zentrale Handlungsfelder.

Das ist nicht gerade viel.

Hinzu kommt:

Auch die Inhalte vieler Maßnahmen sind mager bis enttäuschend.

Einiges deckt sich nicht mit den Vorgaben der UN-Behindertenrechtskonvention.

Und auch nicht mit den Empfehlungen aus der 2./3. deutschen Staatenprüfung 2023 in Genf.

Mit meiner Kritik bin ich nicht alleine.

Die Senatskoordinatorin für die Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen, Ulrike Kloiber, mahnt in ihrer Stellungnahme zur Neufassung des Landesaktionsplans 2023:

  • Bei den meisten Maßnahmen fehlen konkrete Ziele.
  • Bei den meisten Maßnahmen fehlen konkrete Zeitangaben, ab wann sie beginnen sollen und bis wann sie umgesetzt sein sollen.
  • Generell fehlen Angaben und Vorschläge, wie sich Eignung und Wirksamkeit der Maßnahmen überprüfen lassen.
  • Es wird nicht deutlich, welche tatsächlichen Fortschritte Hamburg bei der Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention bislang gemacht hat.
  • Es fehlen konkrete Ansprechpartner, die für die Umsetzung der Maßnahmen zuständig sind.
Das Bild zeigt bunte Hürdenstöcke, wie sie bei Reitwettkämpfen verwendet werden.

Auch die Hamburger Landesarbeitsgemeinschaft für behinderte Menschen e.V. hat sich zur Neufassung des Landesaktionsplans 2023 geäußert.

Sie lobt: Mit dem Beteiligungsverfahren konnten viele Betroffene erstmals ihre Erfahrungen und Forderungen vortragen.

Dann führt sie kritisch an:

  • Weiterhin bestehen in Hamburg zu viele Hürden für Menschen mit Behinderungen.
  • Betroffene wünschen sich endlich spürbare Verbesserungen in ihrem Alltag.
  • Der Landesaktionsplan bleibt hinter den Erwartungen vieler Menschen mit Behinderungen und deren Angehörigen zurück.
Loge des Schattenbericht Hamburg (UN-BRK)

Für Juni 2024 ist der Schattenbericht Hamburg zum Landesaktionsplan 2023 angekündigt.

In diesem Bericht kommen ausschließlich Menschen mit Behinderungen und deren Selbstvertreter zu Wort.

Sie stellen vor, wie ein inklusives Hamburg in ihren Augen aussehen sollte.

Und sie werden klar und deutlich Stellung beziehen zum jetzt vorgelegten Landesaktionsplan 2023.

Das Bild zeigt einen Spiralblock mit fünf bunten Bewertungs-Smileys. Daneben liegt ein Bleistift.

Übrigens:

Bereits bei der Vorstellung des Landesaktionsplans 2023 auf der Landespressekonferenz Hamburg war zu spüren, welchen Stellenwert der Hamburger Senat dem Landesaktionsplan und seiner Umsetzung einräumt.

15 Jahre nach Inkrafttreten der UN-Behindertenrechtskonvention in Deutschland und 11 Jahre nach dem ersten Landesaktionsplan in Hamburg führte Hamburgs Sozialsenatorin Melanie Schlotzhauer tatsächlich an:

„Jetzt bedeutet ein Inkrafttreten nicht immer notwendigerweise, dass man sofort Maßnahmen aus einer gesetzlichen Regelung umsetzen kann.“

Zuvor hatte die Sozialsenatorin den neuen Landesaktionsplan damit beworben, dass auch Menschen ohne Behinderung von den Maßnahmen profitieren würden.

Außerdem erinnerte sie daran: Jeden kann irgendwann eine Behinderung treffen.

Dies zeigt mir:

Der Hamburger Senat hat den Kern der UN-Behindertenrechtskonvention nicht verstanden. Oder er will ihn nicht verstehen.

Die Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention braucht keine Rechtfertigung.

Sie ist eine Verpflichtung.

Denn es geht um Menschenrechte.

Füße in roten Turnschuhen baumeln über Pflastersteinen.

Als Mutter eines Kindes mit Behinderung in Hamburg erwarte ich deutlich mehr von der Hamburger Politik als das, was der Hamburger Senat mit dem neuen Landesaktionsplan 2023 geliefert hat.

Mehr zu einzelnen Inhalten des neuen Landesaktionsplans finden Sie hoffentlich möglichst bald hier in meinem Blog.

Den gesamten Landesaktionsplan 2023 zum Nachlesen finden Sie hier.

Inklusive Bildung steckt fest

Hamburgs jährliche Schulstatistiken zeigen es deutlich:

Die inklusive Bildung in Hamburgs Schulen steckt fest.

Und das bereits seit mehreren Jahren.

Auf dem Bild sieht man das Hinterrad eines Motorrads, das fast komplett mit Schlamm bedeckt ist.

Dass die Inklusion in Hamburgs Schulen auch inhaltlich festgefahren ist, zeigen die regelmäßigen Arbeitsberichte der Ombudsstelle Inklusive Bildung.

Die Frauen und Männer der Ombudsstelle Inklusive Bildung erhalten und bearbeiten jedes Jahr weit über 100 Anfragen von Eltern und Schülern, die Probleme mit der sonderpädagogischen Förderung haben.

Die zentralen Themen dieser Anfragen haben sich in den letzten zehn Jahren kaum verändert.

Immer wieder geht es um

  • Probleme bei Nachteilsausgleichen und Förderplanung,
  • unfreiwillige Schulzeitverkürzungen,
  • Probleme beim zieldifferenzierten Unterricht,
  • Probleme bei Schulbegleitungen,
  • Bildung und Erziehung bei Autismus-Spektrum-Störungen,
  • Bildung und Erziehung bei Schülerinnen und Schülern mit einer fetalen Alkoholspektrumstörung (FASD),
  • Zuweisungen zu Schwerpunktschulen.
Das Bild zeigt viele Glasmurmeln in unterschiedlichen Farben und Größen

Die vielen Anfragen weisen auf ein strukturelles Problem der Inklusion in Hamburgs Regelschulen hin.

Nämlich die nach wie vor nicht selbstverständliche Ausgestaltung und Umsetzung eines individualisierten Unterrichts für alle.

Inklusive Bildung denkt vom Kind aus.

Wo steht ein Kind? Was braucht ein Kind?

Und zwar unabhängig von einer Behinderung.

Ziel der inklusiven Bildung ist es, jedes Kind bestmöglich zu fördern.

Damit es später als erwachsener Mensch selbst bestimmt und möglichst selbständig an unserer Gesellschaft teilhaben kann.

Dies umzusetzen ist herausfordernd.

Es bedeutet zum Beispiel eine individuelle Förderplanung für jedes Kind.

An der alle beteiligt sind: Lehrkräfte, Therapeuten, Beratungskräfte, Schulbehörde, Eltern – und auch das Kind.

Bei dieser Förderplanung müssen Toilettengänge und Schulwege genauso selbstverständlich mitgedacht werden wie Kompetenzen in Mathe, Deutsch und Englisch.

Schule muss zu einem Bildungsort für alle werden.

Mit angepassten Unterrichtsmaterialien.

Mit Rückzugsräumen und reizarmen Lernumgebungen.

Mit Therapieräumen und viel Platz zum Bewegen.

Mit überschaubaren Lerngruppen und multi-professionellen Teams.

Das funktioniert nur mit beweglichen Strukturen. Mit Zusammenarbeit und der Bereitschaft, gemeinsam und voneinander zu lernen.

Und zwar auf allen Ebenen: In der Schule, mit Eltern, mit Verwaltung, mit Wissenschaft und Politik.

Der Blick aus einem Rafting Boot auf einen Wildwasser-Flußlauf. In der Spitze des Bootes sieht man zwei Mitfahrer von hinten, beide mit Paddeln, roten Helmen und Schwimmwesten.

Um solch ein lernendes System umzusetzen, braucht es einen klaren politischen Willen.

Doch ob der zur Zeit in unserer Stadt gegeben ist?

Die Frauen und Männer der Ombudsstelle wünschen sich bereits seit 2022 von der Schulbehörde, durch Corona ausgesetzte Arbeitsgruppen und den Beirat Inklusion wieder aufzunehmen.

Der gerade vorgestellte Landesaktionsplan 2023 enthält ein klares Bekenntnis zum Festhalten am Sonderschulsystem.

Außerdem soll die Inklusion nicht in allen Regelschulen gleichermaßen gefördert werden.

Sondern nur in den sogenannten Schwerpunktschulen.

Zwar wird im Landesaktionsplan das Ziel formuliert, „dass der Besuch einer allgemeinen Schule einen Mehrwert gegenüber anderen Schulformen bieten muss – durch konsequent gelebte Inklusion und ein positives Schulerlebnis besonders auch für Menschen mit Behinderungen.“

Allerdings bezweifle ich, dass dies jemals Wirklichkeit wird, solange Hamburg an seinen zwei Schulsystemen (Regelschule und Förderschule) festhält.

Rote Schuhspitzen auf grauen Holzplanken

Festgefahren: Inklusive Bildung in Hamburg 2023

Wie ist Hamburg bei der Umsetzung von Inklusion in seinen Schulen im Jahr 2023 vorangekommen?

Die Stadt gilt nach wie vor als Vorbild, was schulische Inklusion angeht.

Und im Vergleich mit anderen Bundesländern ist Hamburg sicherlich schon weit gekommen.

Trotzdem ist die Stadt noch weit entfernt von einem inklusiven Schulsystem, wie es die UN-Behindertenrechtskonvention vorsieht.

Nämlich einem Schulsystem, in dem Kinder und Jugendliche mit und ohne Behinderung gemeinsam lernen. Und zwar in einer Schule für alle.

Das Bild zeigt ein trocken gefallenes weißes Ruderboot im Schlick.

Nach wie vor gibt es in Hamburg ein gut ausgebautes schulisches Sondersystem.

Bestehend aus 26 staatlichen Sonderschulen und 5 privaten Sonderschulen.

Hier wurden im Schuljahr 2022/23 mehr als 4400 Schülerinnen und Schüler exklusiv unterrichtet.

Das waren rund 40 Prozent aller Schülerinnen und Schüler mit Förderbedarfen.

Die Graphik zeigt die Zahl der Schülerinnen und Schüler mit Förderbedarfen, die in Hamburg zwischen 2013 und 2023 in Regelschulen und Sonderschulen unterrichtet wurden. Und zwar aufgereiht nach Schuljahren.
Aus: Das Schuljahr 2022/23 in Zahlen. Das Hamburger Schulwesen. Hrsg. vom Institut für Bildungsmonitoring und Qualitätsentwicklung, Hamburg 2023. Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischen Förderschwerpunkten und speziellen Förderschwerpunkten sind hier zusammengefasst.

An diesen Zahlen hat sich in den letzten fünf Jahren nicht wirklich etwas verändert.

Und so wird es wohl auch in Zukunft bleiben.

Bildungsforscher gehen davon aus, dass die Exklusionsquote in Hamburg bis 2035 bei 2,66 stehen bleiben wird.

Die Exklusionsquote gibt den Anteil der Schülerinnen und Schüler mit Förderbedarfen an, die exklusiv an Sonderschulen unterrichtet werden. Und zwar gemessen an allen Schülerinnen und Schülern mit Vollzeitschulpflicht (Jahrgangsstufen 1 bis 9 bzw. 10).

Bei ihren Berechnungen für Hamburg stützen sich die Bildungsforscher auf Zahlenmaterial, das von der Hamburger Schulbehörde für die Kultusministerkonferenz der Länder zusammengestellt wurde.

Die Tabelle zeigt die tatsächlichen und erwarteten Exklusionsquoten für die Schuljahre 2008/09, 2020/21, 2025/26, 2030/31 und 2035/36 im Ländervergleich.
Klaus Klemm: Inklusion in Deutschlands Schulen: Eine bildungsstatistische Momentaufnahme 2020/21, Gütersloh 2022, S. 18.

Die Zahlen zeigen:

Bis 2035 wird in Hamburg ein großer Teil von Kindern und Jugendlichen mit Behinderungen weiterhin an Sonderschulen unterrichtet werden.

Damit scheint die Hamburger Politik zufrieden.

Denn:

Hamburg hat zwar das Recht auf Inklusion in seinem Schulgesetz verankert.

Allerdings will die Stadt ihr Sonderschulsystem nicht aufgeben.

Eltern sollen auch in Zukunft wählen können, ob ihr behindertes Kind in einer Regelschule oder in einer Sonderschule beschult wird.

Das verstößt gegen die UN-Behindertenrechtskonvention.

Das Deutsche Institut für Menschenrechte in Berlin stellte bereits 2017 klar:

Die Aufrechterhaltung zweier Schulsysteme lässt sich menschenrechtlich nicht über
das Elternwahlrecht rechtfertigen.

Der Staat darf seine Verantwortung für einen schulischen Systemwechsel nicht an Eltern abgeben.

Deutsches Institut für Menschenrechte (Hrsg.): Inklusive Bildung ist ein Menschenrecht.
Warum es die inklusive Schule für alle geben muss (Position Nr. 10), Berlin 2017.

Besonders Schülerinnen und Schüler mit speziellen Förderbedarfen werden in Hamburg nach wie vor an Sonderschulen unterrichtet. Und zwar mit steigender Tendenz.

Das zeigt die Schulstatistik 2022/23:

Eine Graphik zeigt die Anzahl der Schülerinnen und Schüler mit speziellen Förderbedarfen, die zwischen 2013 und 2023 an Regelschulen und an Sonderschulen unterrichtet wurden, aufgereiht nach Schuljahren.
Aus: Das Schuljahr 2022/23 in Zahlen. Das Hamburger Schulwesen. Hrsg. vom Institut für Bildungsmonitoring und Qualitätsentwicklung, Hamburg 2023. Unter speziellen Förderbedarfe werden die Förderschwerpunkte geistige Entwicklung, körperlich-motorische Entwicklung, Hören, Sehen und Autismus zusammengefasst.

Eine Graphik zeigt die Anzahl der Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischen Förderbedarfen, die zwischen 2013 und 2023 an Regelschulen und an Sonderschulen unterrichtet wurden, aufgereiht nach Schuljahren.
Aus: Das Schuljahr 2022/23 in Zahlen. Das Hamburger Schulwesen. Hrsg. vom Institut für Bildungsmonitoring und Qualitätsentwicklung, Hamburg 2023.

In der Gruppe der Schülerinnen und Schüler mit speziellen Förderbedarfen befinden sich mehrheitlich Kinder und Jugendliche mit geistigen Behinderungen, körperlichen Behinderungen, Sinnesbeeinträchtigungen und komplexen Behinderungen.

Also genau die Kinder und Jugendlichen, die eine zentrale Zielgruppe bei der Umsetzung von inklusiver Bildung sein sollten.

Doch die meisten dieser Kinder und Jugendlichen nehmen an Inklusion nach wie vor nicht teil.

Im Gegenteil.

Im Schuljahr 2022/23 wurden in Hamburg deutlich mehr Schülerinnen und Schüler mit speziellen Förderbedarfen exklusiv an Sonderschulen unterrichtet als zu Beginn der schulischen Inklusion.

Auf der linken Seite des Bildes sieht man eine Gruppe bunter Spielfiguren aus Holz, die im Kreis zusammen stehen. Auf der rechten Bildseite stehen eine schwarze und eine weiße Spielfigur nebeneinander, mit deutlichem Abstand zu den andern.

Nach der Einführung der schulischen Inklusion haben vor allem Schülerinnen und Schüler mit sogenannten geistigen Behinderungen an Sonderschulen zugenommen.

Gleiches gilt für Schülerinnen und Schüler, die sich keinem der klassischen Förderschwerpunkte zuordnen lassen. Hierunter fallen auch Schülerinnen und Schüler mit Autismusspektrumstörungen.

Außerdem stieg die Zahl der Schülerinnen und Schülern mit dem Förderschwerpunkt Emotional-soziale Entwicklung, die exklusiv an Sonderschulen unterrichtet werden.

Profitieren von der Inklusion konnten dagegen Schülerinnen und Schüler mit den sonderpädagogischen Förderschwerpunkten Lernen und Sprache. Sie werden in Hamburg inzwischen meist an Regelschulen unterrichtet.

Eine ähnliche Entwicklung zeigt sich übrigens auch in den anderen Bundesländern.

Ein Kreisdiagram zeigt die Häufigkeit der verschiedenen Förderschwerpunkte bei Schülerinnen und Schülern, die exklusiv in Sonderschulen unterrichtet werden. Und zwar für das Schuljahr 2011/12.
Sekretariat der Ständigen Konferenz der Kultusminister der Länder (Hrsg.): Sonderpädagogische Förderung in Schulen 2011 bis 2020, Berlin 2022.

Ein Kreisdiagram zeigt die Häufigkeit der verschiedenen Förderschwerpunkte bei Schülerinnen und Schülern, die exklusiv in Sonderschulen unterrichtet werden. Und zwar für das Schuljahr 2020/21.
Sekretariat der Ständigen Konferenz der Kultusminister der Länder (Hrsg.): Sonderpädagogische Förderung in Schulen 2011 bis 2020, Berlin 2022.

Neben seinem Sonderschulsystem hat Hamburg nach Einführung der schulischen Inklusion auch an einem zweigliedrigen Schulsystem ab Klasse 5 festgehalten.

Stadtteilschulen nehmen seitdem die meisten Schülerinnen und Schüler mit Förderbedarfen auf.

In Gymnasien dagegen fand auch im Schuljahr 2022/23 Inklusion kaum statt.

Diese Mischung von Inklusion und Exklusion in Hamburgs Schulen widerspricht den Vorgaben der UN-Behindertenrechtskonvention.

Im August 2023 prüften die Vereinten Nationen in Genf die Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention in Deutschland.

Das Ergebnis war beschämend.

In fast allen Lebensbereichen ist Deutschland in den letzten 14 Jahren mit der Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention kaum vorangekommen.

Das gilt auch für die inklusive Bildung.

Mehr als die Hälfte aller Kinder und Jugendlichen mit Behinderungen werden in Deutschland nach wie vor in Sonderschulen unterrichtet.

Viele Menschen stehen hinter einem großen schwarz-rot-gelben Banner mit der Aufschrift: "Seit 14 Jahren gilt die UN-Behindertenrechtskonvention: Schämt Euch! Shame on you! Deutschland verweigert das Menschenrecht auf inklusive Bildung. Eltern fordern Inklusion. Jetzt endlich!" Im Hintergrund sieht man den Uno-Hauptsitz in Genf.
Gemeinsam mit Eltern aus ganz Deutschland demonstrierte ich im August 2023 vor dem Uno-Hauptsitz in Genf. Zur gleichen Zeit fand drinnen die deutsche Staatenprüfung statt.

Was genau geschehen muss, damit Kinder und Jugendliche mit und ohne Behinderungen endlich in ganz Deutschland gemeinsam lernen können, hat der UN-Fachausschuss in seinen abschließenden Bemerkungen klar benannt.

In diesen abschließenden Bemerkungen fordert der UN-Fachausschluss die Bundesregierung, die Landesregierungen und die Kommunen dazu auf:

  • konkrete Zeitpläne zu erstellen, bis wann schulische Sondersysteme vollständig abgebaut sind.
  • konkrete Pläne zu erstellen, wie gemeinsame Schulen für alle möglichst zügig umgesetzt werden. Und zwar mit klaren Ressourcenzuweisungen, was Menschen, Technik und Geld angeht.
  • klar zu benennen, wer für die Umsetzung und Überwachung der Inklusion in Schulen zuständig ist.
  • Sensibilisierungs- und Bildungskampagnen zu starten. Um inklusive Bildung auf Gemeindeebene und bei den zuständigen Behörden zu fördern.
  • endlich sicherzustellen, dass alle Kinder mit Behinderungen Regelschulen besuchen können.

Bund und Länder und damit auch Hamburg sind nun gefordert.

Das Bild zeigt ein Paar rote Gummistiefel, die im Regen in einer Pfütze auf einer Brücke stehen.

Warum die Jugendberufsagentur Hamburg dringend inklusiv werden muss

Jugendberufsagenturen unterstützen junge Menschen beim Übergang von der Schule ins Berufsleben:

Sie helfen bei der beruflichen Orientierung.

Sie helfen bei der Suche nach einem Ausbildungsplatz.

Sie helfen bei Problemen während der Ausbildung.

Sie helfen beim beruflichen Anschluss nach der Ausbildung.

Und sie helfen auch bei finanziellen, familiären, gesundheitlichen oder anderen persönlichen Problemen, die den Weg ins Berufsleben erschweren.

Damit all dies gut gelingt, arbeiten in einer Jugendberufsagentur verschiedene öffentliche Einrichtungen Hand in Hand.

Das Bild zeigt einen Waldweg im Herbst. In der Mitte des Weges sieht man einen Menschen von hinten, ausgerüstet mit einem großen Rucksack.

Die Jugendberufsagentur Hamburg wurde 2012 als erste Jugendberufsagentur in Deutschland gegründet. Und zwar durch einen Zusammenschluss der folgenden Einrichtungen:

  • Agentur für Arbeit Hamburg,
  • Jobcenter team.arbeit.hamburg,
  • Behörde für Schule und Berufsbildung (BSB),
  • Bezirksämter und ihre Dienste,
  • Behörde für Arbeit, Soziales, Familie und Integration.

Das übergeordnete Ziel der Jugendberufsagentur Hamburg lautet:

Kein junger Mensch darf verloren gehen beim Übergang zwischen Schule und Beruf.

Damit sieht sich die Jugendberufsagentur ausdrücklich für alle jungen Menschen zuständig, die sich am Übergang von der Schule in die Berufsausbildung oder das Studium Beratung und Unterstützung wünschen.

Doch umfasst dieses alle tatsächlich alle jungen Menschen in unserer Stadt?

Die Antwortet darauf lautet bislang noch nein.

Junge Menschen mit Behinderung sind von den Angeboten der Jugendberufsagentur Hamburg weitgehend ausgeschlossen.

Denn: Für junge Menschen mit Behinderung ist in der Agentur für Arbeit die sogenannte Reha-Abteilung zuständig.

Die Reha-Abteilung gewährt Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben. Und zwar für alle langzeiterkrankten oder behinderten Menschen. Unabhängig von ihrem Alter.

Logo der Jugendberufsagentur Hamburg
Logo der Bundesagentur für Arbeit

Der Ausschluss von der Jugendberufsagentur und die Zuweisung zur Reha-Abteilung wirkt sich für junge Menschen mit Behinderung gleich in mehreren Punkten nachteilig aus.

Punkt 1:

Die Berater in der Jugendberufsagentur Hamburg arbeiten ausschließlich mit jungen Menschen zwischen 15 und 25. Sie sind also Profis im Umgang mit jungen Menschen.

Dagegen berät die Reha-Abteilung überwiegend Menschen, die bereits mitten im Berufsleben stehen. Und nur selten Jugendliche und junge Erwachsene, die ins Berufsleben starten wollen.

Punkt 2:

Die Jugendberufsagentur Hamburg ist bewusst dezentral organisiert. Ihre sieben Standorte sind über ganz Hamburg verteilt. So sollen Wege möglichst kurz gehalten werden.

Ganz anders die Reha-Abteilung. Sie ist zentral für ganz Hamburg in der Hauptagentur für Arbeit in der Kurt-Schumacher-Allee untergebracht. Das ist ein großes und unübersichtliches Gebäude mitten in der Hamburger Innenstadt.

Das Bild zeigt zwei sich kreuzende Zebrawege auf einer riesigen Straßenkreuzung. In der Mitte der Zebrawege sieht man einen Menschen mit Rucksack. Ansonsten ist die Kreuzung leer.

Punkt 3:

Ein Kernziel der Jugendberufsagentur Hamburg ist es, Jugendliche möglichst direkt nach der Schule in eine Ausbildung zu vermitteln. Damit dies gelingt, arbeiten die Berater der Jugendberufsagentur eng mit weiterführenden Schulen zusammen.

Jugendliche an Stadtteilschulen lernen ihre Berufsberater bereits in Klasse 8 kennen. Mit dem Beginn der schulischen Berufsorientierung. Dabei wird zunächst nicht zwischen behinderten und nicht-behinderten Jugendlichen unterschieden.

Spätestens in Klasse 10 erhalten behinderte Jugendliche an Stadtteilschulen zusätzliche Unterstützung bei der schulischen Berufsorientierung.

Allerdings führt diese „spezielle“ Unterstützung die inklusiv beschulten Jugendlichen nach Abschluss von Klasse 10 meist nicht in eine Ausbildung. Sondern so gut wie immer in den sogenannten Übergangsbereich. Gleichzeitig wird die Reha-Abteilung für die jungen Menschen zuständig.

Jugendliche ohne Behinderung dagegen behalten ihre Berater in der Jugendberufsagentur, bis sie 25 werden.

Jugendliche an speziellen Sonderschulen kommen überhaupt nicht in Kontakt mit der Jugendberufsagentur. Für ihre schulische Berufsorientierung ist von Anfang an die Reha-Abteilung zuständig.

Die Berater der Reha-Abteilung vermitteln Jugendliche aus Sonderschulen in der Regel in den Berufsbildungsbereich einer Werkstatt für behinderte Menschen oder in den Übergangsbereich.

Auf dem Bild sieht man zwei kleine Spielfiguren mit aufgemalten Gesichtern. Die linke Spielfigur hat ein lachendes Gesicht, die rechte ein weinendes.

Punkt 4:

Die Berater in der Jugendberufsagentur handeln auf und für den allgemeinen Arbeitsmarkt. Sie sind eng mit Kammern, Unternehmen, Betrieben und Gewerkschaften vernetzt.

Ganz anders die Berater in der Reha-Abteilung. Sie bewegen sich größtenteils in Sonderwelten. Ihre Beratung orientiert sich vorrangig an Angeboten und Maßnahmen, die ausschließlich für Menschen mit Behinderung gedachtet sind.

Angeboten werden solche Maßnahmen meist von großen Bildungsträgern, die sich auf die Arbeit mit behinderten Menschen spezialisiert haben. Gleichzeitig finanzieren sich diese Bildungsträger über das Geld, das sie von der Agentur für Arbeit erhalten.

Punkt 5:

Die Jugendberufsagentur Hamburg arbeitet sehr erfolgreich. Schafften vor der Gründung der Jugendberufsagentur Hamburg nur 25 Prozent der Schulabgänger nach Klasse 10 den direkten Übergang in eine Ausbildung, sind es inzwischen rund 40 Prozent.

Ganz anders sieht dies bei der Reha-Abteilung aus. Nach Durchlaufen des Übergangsbereichs verschwinden die meisten jungen Menschen mit Behinderung von Anfang an im Sondersystem. Ohne jemals eine wirkliche Chance auf eine Teilnahme am allgemeinen Arbeitsmarkt erhalten zu haben.

Einige Eltern von inklusiv beschulten Kindern mit sichtbaren Behinderungen vermeiden inzwischen ganz bewusst den Gang zur Agentur für Arbeit.

Sie sind sich sicher: Die Agentur für Arbeit weist ihre Kinder direkt der Reha-Abteilung zu. Und von da führt der Weg nur in eine Richtung – nämlich in eine Werkstatt für behinderte Menschen. Und nicht auf den allgemeinen Arbeitsmarkt.

Blick von oben auf neun graue Gehwegplatten. Am unteren Bildrand sieht man die Spitzen von zwei roten Turnschuhen.

Die UN-Behindertenrechtskonvention legt in Artikel 27 (Arbeit) unter Punkt d fest:

Die Vertragsstaaten sind dazu verpflichtet, Menschen mit Behinderungen wirksamen Zugang zu allgemeinen fachlichen und beruflichen Beratungsprogrammen, Stellenvermittlung sowie Berufsausbildung und Weiterbildung zu ermöglichen.

Nur so lässt sich eine gleichberechtigte Teilhabe am Arbeitsleben sicherstellen.

In Hamburg ist die Jugendberufsagentur die übliche und damit allgemeine Anlaufstelle für junge Menschen beim Übergang zwischen Schule und Beruf.

Die Reha-Abteilung der Agentur für Arbeit ist kein Teil der allgemeinen Berufsberatung. Sie ist ein Sondersystem für behinderte oder langzeiterkrankte Menschen.

Dieses Sondersystem geht davon aus, dass Menschen mit Behinderung besonders geschützt werden müssen.

Doch junge Menschen mit Behinderung brauchen nicht in erster Linie Schutz. Sie brauchen Chancen. Und zwar echte Chancen, die ihnen eine erfolgreiche Teilnahme am allgemeinen Arbeitsmarkt ermöglichen.

Mit der Jugendberufsagentur verfügt Hamburg über eine Einrichtung, die darauf spezialisiert ist, junge Menschen in Arbeit zu bringen. Und zwar orientiert an deren Fähigkeiten, Stärken und Interessen. Davon dürfen junge Menschen mit Behinderung nicht länger ausgeschlossen werden.

Das Bild zeigt einen Kompass.

Fachpraktiker-Ausbildung vorerst gescheitert

Ihr erinnert euch?

Im letzten Sommer erhielt unser Kind mit Behinderung ein Ausbildungsangebot.

Von einer kleinen Firma für Veranstaltungstechnik.

Das Bild zeigt den Eingang zur Handelskammer Hamburg.

Wegen seiner Behinderung wird unser Kind wohl keine Vollausbildung schaffen.

Daher hatten wir im Januar eine theoriereduzierte Fachpraktiker-Ausbildung beantragt. Und zwar bei der Handelskammer Hamburg.

Bereits im Sommer hatte sich immer mehr abgezeichnet:

Die Handelskammer Hamburg will keine Fachpraktiker-Ausbildung umsetzen.

Allerdings wollte die Handelskammer auch keine Fakten schaffen.

Bis zum Schluss hat sich die Handelskammer standhaft geweigert, den von uns gestellten Antrag auf Fachpraktiker-Ausbildung per Bescheid abzulehnen.

Denn gegen solch einen Bescheid hätten wir Widerspruch einlegen können. Mit berechtigten Chancen auf Erfolg.

Was dann folgte, war weniger schön.

Ein Mensch sitzt im Schneidersitz vor einer blauen Wand. Vor sein Gesicht hält er ein rotes Schild mit einem traurigen Strich-Gesicht.

Im September entschieden wir: Unser Kind fängt erst einmal mit der Vollausbildung an.

Damit es kein weiteres Jahr in der Warteschleife zubringen muss.

Das hat die Handelskammer für sich zu nutzen gewusst.

Nun führte die Handelskammer an:

Es geht nur eine Fachpraktiker-Ausbildung oder eine Vollausbildung. Beides wären zwei unterschiedliche paar Schuhe.

Wenn wir den Antrag auf die Fachpraktiker-Ausbildung nicht zurückzögen, wäre es fraglich, ob unser Kind zur Vollausbildung zugelassen werden könne. Denn dann wäre es ja definitiv zu „behindert“ für die Vollausbildung.

Darauf hat die Vormünderin unseres Kindes den Antrag auf Fachpraktiker-Ausbildung zurückgezogen. Um unserem Kind nicht zu „schaden“.

Das Bild zeigt eine schwarz-weiße Filmklappe.

Was bedeutet das?

Zunächst einmal: Unser Kind ist super glücklich. Endlich macht es eine Ausbildung – so wie seine besten Freunde auch.

Allerdings: Die Berufsschule für unser Kind beginnt erst im Dezember.

Ab da wird es vermutlich mehr als schwierig werden für unser Kind.

Denn der Unterricht an der Berufsschule für Veranstaltungstechnik ist sehr anspruchsvoll.

Blick auf den Fußboden eines Kleiderschrankes, auf dem sich viele Turnschuhpaare in den unterschiedlichsten Farben stapeln. Unter ihnen befinden sich auch rote Turnschuhe.

Unser Kind weiß:

Wegen seiner Behinderung wird es nicht alles so verstehen und schaffen wie seine zukünftigen Mitschüler.

Das lässt sich – auch mit viel Unterstützung – nicht ändern.

Unser Kind weiß auch:

Ein erfolgreicher Abschluss als „Fachkraft für Veranstaltungstechnik“ ist mehr als ungewiss.

Trotzdem lässt sich unser Kind auf das Wagnis Ausbildung ein.

Denn:

Unser Kind möchte möglichst alles über Veranstaltungstechnik lernen, was ihm möglich ist.

Und zwar in einem Rahmen, der für Gleichaltrige ohne Behinderung normal und üblich ist.

Damit unser Kind später erfolgreich in der Veranstaltungstechnik arbeiten kann.

Natürlich auf dem ersten Arbeitsmarkt.

Es geht nicht darum, Türen zu ersetzen

Vor einer Woche veröffentlichte das Hamburger Abendblatt einen ganzseitigen Artikel über die Fetale Alkoholspektrum-Störung FASD.

Und zwar an exponierter Stelle.

Normalerweise freue ich mich über solche Artikel. Ganz besonders als Mutter eines Kindes mit FASD.

Doch diesmal ist das anders.

Auf dem Bild sieht man einen lachenden Säugling in Bauchlage auf einer Decke.

Bereits den Anfang des Artikels finde ich problematisch:

„Eigentlich sollte es inzwischen wirklich jeder wissen: Schwangere dürfen keinen Alkohol trinken, denn dieser schädigt ihr ungeborenes Kind. Umso erschreckender ist, dass es trotzdem dauernd passiert“.

Hier wird mit dem moralischen Zeigefinger auf Mütter gezeigt: „Wie könnt ihr nur.“

Allerdings:

Wohl keine schwangere Frau trinkt mit der Absicht, ihrem ungeborenen Kind bewusst zu schaden.

Schwangere Frauen trinken:

  • weil sie sich amüsieren wollen und noch nicht wissen, dass sie schwanger sind.
  • weil ihnen immer noch Menschen sagen: „Ein oder zwei Schlückchen in der Schwangerschaft schaden doch nicht.“
  • weil sie gefangen sind in Drogen- oder Alkoholsucht.
  • weil sie andere schwerwiegende Probleme haben und dringend Unterstützung bräuchten.

Verurteilen wir leibliche Mütter von Kindern mit FASD, führt dies nur dazu, dass sie den Konsum von Alkohol in der Schwangerschaft verheimlichen.

Das hilft keinem. Ganz besonders nicht den betroffenen Kindern.

Wichtig ist es, leiblichen Müttern vorurteilsfrei zu begegnen. Zusammen mit ihren betroffenen Kindern müssen wir ihnen einen schnellen Zugang zum Hilfesystem ermöglichen.

Das Bild zeigt einen Holzstempel vor einem schwarzen Hintergrund. Auf den Griff des Stempels ist ein Strich-Gesicht gemalt. Dieses sieht aus, als würde es die Augenbrauen hochziehen.

Auch die Sichtweise auf Menschen mit FASD, die in dem Artikel zum Ausdruck kommt, bereitet mir Bauchschmerzen.

Bereits sehr früh fällt der Begriff des „Dorfdeppen“:

„Früher hatten wir das Wissen nicht. Jedes Dorf hatte seinen ‚Dorfdeppen‘. […] Wenn wir uns diese heute angucken würden, liegt die Vermutung nahe, dass der eine oder andere eine Alkoholschädigung hatte.“

Auch wenn dies sicherlich nicht beabsichtigt ist:

Hier wird an alte Bilder und Vorurteile angeknüpft, die hängen bleiben.

Die einen durch das Weiterlesen des Artikels und darüber hinaus begleiten.

Und die Menschen mit FASD und ihre Bezugspersonen verletzen können.

Im weiteren Verlauf des Artikels wird vorgestellt, wie sich die durch Alkohol verursachte vorgeburtliche Hirnschädigung auf das Leben von Menschen mit FASD auswirkt:

  • Menschen mit FASD bleiben ein Leben lang anders.
  • Menschen mit FASD verhalten sich auffällig bis herausfordernd, oft auch gewalttätig.
  • Menschen mit FASD sind freundlich und treu.
  • Menschen mit FASD können aus Erfahrung nicht lernen.
  • Kinder mit FASD schaffen in der Regel kein Abitur, auch wenn viele von ihnen einen normal hohen IQ haben.
  • Menschen mit FASD sind ein Leben lang auf Fürsorge und Unterstützung angewiesen.

Hinter dieser Beschreibung von Menschen mit FASD versteckt sich ein immer noch tief verwurzeltes medizinisch geprägtes Verständnis von Behinderung:

Eine Behinderung wird gesehen als etwas, das vom „Normalen“ abweicht.

Wie eine „biologische Funktionseinschränkung“ oder eine „Krankheit“.

Dazu passen Begriffe wie „Fehlbildung“, „hirnorganische Schädigungen“ oder „Heilung“, die sich wie ein roter Faden durch den Artikel ziehen.

Das Bild zeigt einen Playmobil-Arztkoffer.

Diese rein medizinisch geprägte Sicht auf Menschen mit FASD halte ich für äußerst problematisch.

Betroffene werden ausschließlich über ihre Gehirnschädigung definiert und als defizitär betrachtet.

Dadurch werden Menschen mit FASD bewertet, entmündigt und diskriminiert.

Der Blick von oben in eine geöffnete Eierpackung. In der Packung sind neun braune Eier und ein weißes Ei.

Die UN-Behindertenrechtskonvention hat bereits vor über zehn Jahren klargestellt:

Ein Mensch ist nicht per se behindert. Er wird durch eine Umwelt behindert, die individuelle Unterschiede nicht berücksichtigt.

Unser Kind hat FASD.

Unser Kind weiß: Wegen seiner FASD hat es verschiedene Einschränkungen.

Diese Einschränkungen sind für unser Kind normal. So normal wie seine Augenfarbe.

Problematisch wird es erst, wenn die Umwelt unseres Kindes diese Einschränkungen ignoriert. Wenn sie etwas erwartet, dass unser Kind aufgrund seiner Einschränkungen nicht erfüllen kann.

Dann wird unser Kind behindert.

Auf dem Bild sieht man die untere Hälfte eines Menschen in schwarzen Jeans und roten Turnschuhen, der einen Luftsprung macht.

Das Bundesteilhabegesetz legt fest:

„Menschen mit Behinderungen sind Menschen, die körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen haben, die sie in Wechselwirkung mit einstellungs- und umweltbedingten Barrieren an der gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft […] hindern können.“

Dadurch ändert sich der Blick auf Behinderung.

Für Kinder und Jugendliche mit FASD bedeutet das zum Beispiel:

Nicht ihre Einschränkungen durch FASD sind schuld daran, warum sie kein Abitur schaffen. Stattdessen verhindern bestehende schulische Strukturen, dass junge Menschen mit FASD auf ihre Potentiale zugreifen und gleichberechtigt an Bildung teilhaben können.

Wollen wir Menschen mit FASD wirksam unterstützen, müssen wir lernen, ihre individuellen Einschränkungen nicht als Defizite zu betrachten.

Sondern als unveränderliches Merkmal und damit als Teil menschlicher Vielfalt.

#InklusiveBildungJetzt! Der Bund ist gefordert.

Es besteht dringender Handlungsbedarf bei der Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention. Ganz besonders im Bereich inklusiver Bildung (Artikel 24).

Das ist die Botschaft unseres Offenen Briefes, der heute Mittag in Berlin an die Minister Hubertus Heil (Bundesministerium für Arbeit und Soziales) und Bettina Stark-Watzinger (Bundesministerium für Bildung und Forschung) übergeben wurde.

Vorschulkind mit Brille hält den Großausdruck des Offenen Briefes in die Kamera. Er steht vor dem Bundesarbeitsministerium.
Übergabe unseres Offenen Briefes vor dem Bundesministerium für Arbeit und Soziales. (copyright: Berliner Bündnis für schulische Inklusion, 2023)

Mehr als 140 Verbände und Organisationen sowie mehr als 1.400 Einzelpersonen aus ganz Deutschland haben unseren Offenen Brief inzwischen unterzeichnet.

Darunter sind viele Eltern von Kindern mit Behinderung. Und auch viele Menschen, die im Bereich Bildung und Wissenschaft tätig sind.

Zu den unterzeichnenden Verbänden gehören unter anderem

  • der Paritätische,
  • die Sozialverbände VdK und SoVD,
  • der Grundschulverband,
  • die Gewerkschaft GEW,
  • der Verband Sonderpädagogik,
  • der Verband der Kinder- und Jugendmedizin,
  • die Lebenshilfe,
  • die LIGA Selbstvertretung
  • zahlreiche Selbstvertretungs- und Elternorganisationen.
Auf dem Foto sieht man den deutschen Bundestag im ehemaligen Reichstaggebäude in Berlin. Davor weht eine große Deutschland-Flagge.

Unser offener Brief richtet sich bewusst nicht an die Bundesländer. Sondern an den Bund.

Deutschland als Gesamtstaat muss sich endlich seiner vollen Verantwortung für die konsequente Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention in Deutschland stellen. Die Rüge, die der Uno-Fachausschuss für die Rechte behinderter Menschen der Bundesregierung nach der Staatenprüfung ausgestellt hat, benennt dies klar und deutlich.

Zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention zählt die Schaffung eines inklusiven Bildungssystems für alle. Und zwar bundesweit.

Viel zu lange hat Deutschland seine Verantwortung für inklusive Bildung auf die Länder abgeschoben. Damit muss nun Schluss sein.

Ein Junge steht vor einem geöffneten Briefkasten. Er hält eine bunte Postkarte in seiner linken Hand.

In unserem Offenen Brief fordern wir:

  • umfassende Aktionspläne für inklusive Bildung in allen Bundesländern,
  • eine einheitliche Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention im Bildungsbereich,
  • ein offensives Eintreten für die Ziele der UN-Behindertenrechtskonvention in allen Bereichen,
  • eine bundesweite Aufklärungskampagne, die deutlich macht: Inklusion ist Menschenrecht. Inklusion ist Pflicht, keine Kür. Inklusion darf nicht mehr in das Belieben der Länder gestellt werden.

Alle jungen Menschen mit Behinderung müssen ihr Menschenrecht auf inklusive Bildung in einem inklusiven Schulsystem wahrnehmen können. Überall in Deutschland.

Sie wollen mehr über den Offenen Brief wissen?

Kein Problem! Den gesamten Brief sowie die Liste der Unterzeichner finden Sie hier.

Sie wollen den Offenen Brief gerne noch mit unterzeichnen?

Auch das ist noch möglich. Klicken Sie dafür bitte hier:

http://allianz-inklusive-bildung.de/unterzeichne-den-offenen-brief/


Sollte das Formular nicht funktionieren, können Sie mir auch gerne eine E-Mail schreiben:

silke-brockerhoff(ed)inklusion-in-hamburg.de

Antworten Sie einfach mit ‘Ja, ich möchte unterzeichnen!’ und geben Sie mir Ihren vollständigen Namen und Ihren Wohnort an. Bei Verbänden/Vereinen/Organisationen nehmen wir auch gern das Logo mit auf.

Mehrere Frauen und ein Kind stehen vor dem Bundesministerium für Bildung und Forschung und halten Großausdrucke des Offenen Briefes in die Kamera.
Mitstreiterinnen des Berliner Bündnisses für schulische Inklusion stehen vor dem Bundesministerium für Bildung und Forschung in Berlin und präsentieren unseren Offenen Brief. (copyright: Berliner Bündnis für schulische Inklusion, 2023)

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