Viele junge Menschen in Hamburg sind mit einer dualen Berufsausbildung gestartet.
Nur unser Kind wieder nicht.
Obwohl es seit einem Jahr eine feste Zusage auf einen betrieblichen Ausbildungsplatz hat. In einer Firma für Veranstaltungstechnik.
Woran das liegt?
Unser Kind hat eine fetale Alkoholspektrumstörung (FASD) und damit eine lebenslange Behinderung.
Aufgrund seiner Behinderung wird unser Kind keine Vollausbildung zur Fachkraft für Veranstaltungstechnik schaffen.
Es benötigt eine theoriereduzierte Fachpraktiker-Ausbildung nach § 66 des Berufsbildungsgesetzes (BBiG). Darauf hat es einen Anspruch.
Zuständig für Ausbildungen im Bereich Veranstaltungstechnik ist die Handelskammer Hamburg. Dort haben wir vor 7 Monaten einen Antrag auf eine theoriereduzierte Ausbildung zum Fachpraktiker für Veranstaltungstechnik gestellt.
Über diesen Antrag hat die Handelskammer bis heute nicht entschieden.
Inzwischen glaube ich: Die Handelskammer will gar nicht über unseren Antrag entscheiden.
Denn: Unser Antrag scheint die Zuständigen in der Handelskammer vor ein Problem gestellt zu haben.
Einerseits ist es nur schwer möglich, unseren Antrag abzulehnen. Da unser Kind alle Voraussetzungen für eine theoriereduzierte Fachpraktiker-Ausbildung erfüllt.
Gleichzeitig scheint es in der Handelskammer einflussreiche Stimmen zu geben, die sagen:
„Die Handelskammer Hamburg hat sich vor mehr als 40 Jahren bewusst gegen eine Behinderten-Ausbildung entschieden, ist damit immer gut gefahren und wird daran auch in Zukunft sicherlich nichts ändern.“
Tatsache ist: An der Handelskammer Hamburg hat es noch nie eine theoriereduzierte Fachpraktiker-Ausbildung nach § 66 BBiG gegeben.
Ganz im Gegensatz zu vielen anderen Industrie- und Handelskammern.
Dabei erscheint mir das Verfahren bei einer Fachpraktiker-Ausbildung relativ einfach.
Als erstes muss ein Ausbildungsrahmenplan geschrieben werden. Dafür gibt es klare Vorgaben.
Ist der Ausbildungsrahmenplan fertig, muss er dem Berufsbildungsausschuss der Handelskammer zur Genehmigung vorgelegt werden.
Stimmt der Berufsbildungsausschuss dem Ausbildungsrahmenplan zu, dann gilt er offiziell als erlassen – und unser Kind mit Behinderung könnte mit seiner Ausbildung beginnen.
Soweit die Theorie.
In der Praxis bekamen wir von der Handelskammer in den letzten Monaten immer wieder zu hören:
Das mit der Fachpraktiker-Ausbildung ist unheimlich kompliziert.
Bis zum Erlass des notwendigen Ausbildungsrahmenplans dauert es Jahre.
Das ganze Verfahren ist teuer.
Auf dem Arbeitsmarkt gibt es keinen Bedarf an Fachpraktikern für Veranstaltungstechnik.
Die theoriereduzierte Fachpraktiker-Ausbildung ist nicht anerkannt.
Eine Fachpraktiker-Ausbildung stigmatisiert.
Die Berufsschule für Veranstaltungstechnik hat keinerlei Erfahrung mit einer theoriereduzierten Ausbildung.
Der Unterricht an der Berufsschule wird unser Kind überfordern.
Inzwischen ist die Handelskammer dazu übergegangen, uns „attraktive Alternativen“ zur Fachpraktiker-Ausbildung vorzustellen.
Um uns dazu zu bewegen, unseren Antrag auf eine Fachpraktiker-Ausbildung wieder zurückzuziehen.
Ich gebe zu: Einiges davon klingt interessant.
Unser Kind könnte bereits jetzt Geld verdienen. Und müsste sich nicht durch die Berufsschule quälen. Gleichzeitig hätte es in drei Jahren ein Zertifikat der Handelskammer in Aussicht.
Allerdings: Das ganze wäre keine Ausbildung. Unser Kind bliebe offiziell ungelernt.
Von früh an wollte unser Kind mit Behinderung vor allem eins: Es wollte alles so machen wie andere auch.
Unser Kind hat eine inklusive Kita besucht.
Unser Kind hat sich zehn Jahre lang durch die inklusive Schule gekämpft.
Unser Kind hat sich intensiv um einen Ausbildungsplatz bemüht. Weil es gelernt hat: Menschen ohne abgeschlossene Ausbildung haben kaum Chancen auf dem 1. Arbeitsmarkt.
Unserem Kind ist es gelungen, einen Ausbildungsbetrieb von seinen Fähigkeiten und Kenntnissen zu überzeugen.
Ich bin stolz auf unser Kind!
Und werde weiter dafür kämpfen, dass sein eigentlich ganz stinknormaler Wunsch nach einer Ausbildung in Erfüllung geht.
Teilhabe an Bildung ist ein Menschenrecht und schließt berufliche Bildung ausdrücklich mit ein.
„Ich brauche eine Berufsausbildung. Damit ich auf dem 1. Arbeitsmarkt arbeiten kann.“
Eine Arbeit auf dem ersten Arbeitsmarkt ist unserem Kind sehr wichtig.
Damit es ausreichend Geld verdient.
Um sich selbst zu finanzieren. Um unabhängig zu sein.
Und um in eine eigene Wohnung ziehen zu können.
Tatsächlich ist es in Deutschland für Menschen ohne abgeschlossene Ausbildung kaum möglich, auf Dauer erfolgreich am ersten Arbeitsmarkt teilzuhaben.
Allerdings ist es unserem Kind aufgrund seiner Behinderung nicht möglich, alle inhaltlichen Anforderungen an eine Ausbildung in einem staatlich anerkannten Beruf zu erfüllen.
In so einem Fall bietet das Berufsbildungsgesetz in Paragraf 66 (entsprechend dazu Handwerksordnung, Paragraf 42m) die Möglichkeit einer theoriereduzierten Fachpraktiker-Ausbildung.
Fachpraktiker-Ausbildungen sind gerade sehr umstritten.
Das Deutsche Institut für Menschenrechte hat 2020 in seinem 5. Bericht zur Entwicklung der Menschenrechts-Situation in Deutschland geschrieben:
Fachpraktiker-Ausbildungen sind exklusiv und stigmatisierend.
Durch Fachpraktiker-Ausbildungen werden junge Menschen mit Behinderung anders behandelt als junge Menschen ohne Behinderung. Ihre Leistungen werden als nicht ausreichend betrachtet. Ihre Ausbildung findet getrennt von der ihrer Altersgenossen statt.
Fachpraktiker-Ausbildungen schaffen neue Sonderwelten und verhindern, dass junge Menschen mit Behinderung einen Zugang zum allgemeinen Arbeitsmarkt erhalten.
Tatsächlich finden Fachpraktiker-Ausbildungen bisher fast immer überbetrieblich statt. In speziellen Einrichtungen für junge Menschen mit Behinderung.
Außerdem werden Fachpraktiker bisher nur in wenigen Berufen ausgebildet.
In Hamburg bietet das Berufsbildungswerk in Eidelstedt folgende Fachpraktiker-Ausbildungen an:
Fachpraktiker für Metallbau,
Fachpraktiker für Holzbearbeitung,
Fachpraktiker im Gartenbau,
Fachpraktiker Maler und Lackierer,
Fachpraktiker Hauswirtschaft.
Die Auszubildenden werden überwiegend in Werkstätten des Berufsbildungswerks angeleitet.
Der Berufsschulunterricht findet direkt auf dem Gelände des Berufsbildungswerks statt. Und zwar in der beruflichen Schule Eidelstedt (BS 24), einer Berufsschule für junge Menschen mit besonderem Unterstützungsbedarf.
In dieser Form sind Fachpraktiker-Ausbildungen alles andere als inklusiv.
Gleichzeitig gibt es bislang keine Alternativen zur Fachpraktiker-Ausbildung.
Die Fachpraktiker-Ausbildung ist zur Zeit die einzige anerkannte Ausbildungsform für junge Menschen, die wegen einer Behinderung keine Regel-Ausbildung in einem anerkannten Ausbildungsberuf schaffen.
Daher habe ich mir die gesetzlichen Vorgaben für eine Fachpraktiker-Ausbildung einmal etwas näher angeschaut.
Das wichtigste vorweg:
Das Berufsbildungsgesetz schreibt vor, dass junge Menschen vorrangig in einem staatlich anerkannten Ausbildungsberuf ausgebildet werden sollen. Unabhängig davon, ob sie behindert sind oder nicht.
Behinderungsbedingte Nachteile sollen durch angemessene Nachteilsausgleiche ausgeglichen werden.
Nur wenn aufgrund der Art und Schwere einer Behinderung nicht alle inhaltlichen Anforderungen einer Regel-Ausbildung erfüllt werden können, dürfen junge Menschen zum Fachpraktiker ausgebildet werden.
Der Fachpraktiker ist also keine Regel-Ausbildung. Sondern eine Sonderform der Ausbildung.
Gedacht ist die Fachpraktiker-Ausbildung vor allem für Menschen mit kognitiven Einschränkungen.
Angepasst an deren individuellen Fähigkeiten sollen die theoretischen Inhalte einer Regel-Ausbildung reduziert und praktische Tätigkeiten stärker gewichtet werden.
Die Inhalte der Fachpraktiker-Ausbildung sollen aus den Inhalten anerkannter Ausbildungsberufe abgeleitet werden.
So orientiert sich zum Beispiel die Ausbildung zum Fachpraktiker im Garten- und Landschaftsbau an der Ausbildungsverordnung zum Garten- und Landschaftsbauer.
Auch sind Lage und Entwicklung des allgemeinen Arbeitsmarktes bei der Einführung einer neuen Fachpraktiker-Ausbildung zu berücksichtigen.
Theoretisch ist eine Fachpraktiker-Ausbildung in jedem anerkannten Ausbildungsberuf möglich.
Ziel der Fachpraktiker-Ausbildung ist der Erwerb beruflicher Handlungsfähigkeit.
Das heißt: Dem Auszubildenden sollen berufliche Fertigkeiten, Kenntnisse und Fähigkeiten vermittelt werden, die er für die Ausübung einer qualifizierten beruflichen Tätigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt braucht.
So soll zum Beispiel der Fachpraktiker im Garten- und Landschaftsbau so ausgebildet werden, dass er später unter fachlicher Anleitung eigenständig in Gärten, Parks, auf Baustellen oder auf Friedhöfen arbeiten kann.
Der Zugang zu einer Fachpraktiker-Ausbildung ist genau geregelt.
Nötig sind:
eine Bescheinigung der Agentur für Arbeit, dass Art und Schwere der Behinderung eine theoriereduzierte Ausbildung gemäß § 66 Berufsbildungsgesetz (beziehungsweise Paragraf 42m der Handwerksordnung) erforderlich machen. Festgestellt durch eine ausführliche berufspsychologische Untersuchung.
ein Ausbildungsplatz.
Liegt beides vor, muss bei der zuständigen Kammer ein Antrag auf eine Fachpraktiker-Ausbildung gestellt werden.
In der Regel ist das die Handwerkskammer, die Industrie- und Handelskammer oder die Landwirtschaftskammer.
Sind die Voraussetzungen für eine Fachpraktiker-Ausbildung gegeben, ist die Kammer verpflichtet, besondere Ausbildungsregelungen für den behinderten Antragsteller zu erlassen.
Orientiert an speziellen Empfehlungen des Hauptausschusses des Bundesinstituts für Berufsbildung (BIBB). Um auch Fachpraktiker-Ausbildungen einheitlicher und vergleichbarer zu machen.
Abschließend trägt die Kammer den Ausbildungsvertrag des behinderten Antragstellers in das Verzeichnis der Berufsausbildungsverhältnisse ein.
Die Fachpraktiker-Ausbildung dauert meist drei Jahre.
Gegenstand der Ausbildung sind die von der Kammer im Ausbildungsrahmenplan festgelegten Fertigkeiten, Kenntnisse und Fähigkeiten.
Je nach Behinderung oder Ausbildungsort sind Abweichungen davon möglich.
Am Ende seiner Ausbildung hat der Auszubildende eine Abschlussprüfung abzulegen. Vor der zuständigen Kammer.
Fachpraktiker sollen vorrangig in Betrieben ausgebildet werden.
So wie junge Menschen in Regel-Ausbildungen auch.
Hier ist das Berufsbildungsgesetz sehr klar.
Allerdings: Betriebliche Fachpraktiker-Ausbildung gibt es bisher nur äußerst selten.
Dabei lassen sich Auszubildende zum Fachpraktiker inzwischen gut über Arbeitsassistenzen unterstützen. Sowohl vor Ort im Betrieb wie auch in der Berufsschule.
Betriebliche Fachpraktiker-Ausbildungen bieten jungen Menschen mit kognitiven Einschränkungen die Möglichkeit, trotz ihrer Behinderung von Anfang an am ersten Arbeitsmarkt teilzuhaben.
Und sie vergrößern deren Chance, auf Dauer auf dem ersten Arbeitsmarkt Fuß zu fassen.
Es zeigt sich:
Eine ausführliche Auseinandersetzung mit der Fachpraktiker-Ausbildung lohnt!
Daher sollte die Fachpraktiker-Ausbildung nicht vorschnell als exklusiv abgestempelt werden.
Ohne Zweifel: Überbetriebliche Fachpraktiker-Ausbildungen in speziellen Einrichtungen für junge Menschen mit Behinderung sind exklusiv und verhindern einen direkten Zugang zum allgemeinen Arbeitsmarkt.
Allerdings hat die Fachpraktiker-Ausbildung durchaus inklusives Potential:
Sie ermöglicht einem jungen Menschen mit Behinderung eine anerkannte berufliche Qualifizierung, wenn wegen Art und Schwere seiner Behinderung eine Regel-Ausbildung mit Nachteilsausgleich nicht in Frage kommt.
Sie ermöglicht eine individualisierte Form der Ausbildung, angepasst an die Fähigkeiten und Stärken des Auszubildenden.
Wichtig ist es, Fachpraktiker viel stärker als bisher direkt vor Ort auszubilden. Nämlich in Betrieben des ersten Arbeitsmarktes.
So können junge Menschen mit Behinderung bereits von Anfang an teilhaben am allgemeinen Arbeitsmarkt. So wie Menschen ohne Behinderung auch.
Dort, wo eine überbetriebliche Ausbildung erforderlich ist, sollten junge Menschen mit und ohne Behinderung gemeinsam ausgebildet werden. Und zwar sowohl in Regel-Berufen wie auch als Fachpraktiker.
Auch die Berufsschule sollten Auszubildende mit und ohne Behinderung gemeinsam besuchen. Ermöglicht durch einen differenzierenden Unterricht.
Schließlich müssen Fachpraktiker-Ausbildungen in allen anerkannten Ausbildungsberufen möglich werden. Denn auch ein junger Mensch mit Behinderung hat das Recht, seinen Beruf frei zu wählen.
Die Fachpraktiker-Ausbildung als individualisierte Form der Ausbildung innerhalb des Regelsystems, orientiert an den Potentialen und Fähigkeiten eines jungen Menschen mit Behinderung – in diese Richtung lohnt es sich weiterzudenken!
Wow. Zum ersten Mal hat sich einer meiner Blog Beiträge inhaltlich überholt.
Und ist gleichzeitig weiter aktuell geblieben.
Vor gut einem Jahr hatte ich über fehlende Chancengleichheit geschrieben.
Fehlende Chancengleichheit für junge Menschen mit und ohne Behinderung, die in einer Pflegefamilie oder einer Einrichtung der Jugendhilfe leben.
Denn:
Noch 2022 mussten junge Menschen in Pflegefamilien oder Einrichtungen der Jugendhilfe ein Viertel ihres selbst verdienten Geldes an das Jugendamt abgeben. Um sich an den Kosten für ihren Unterhalt zu beteiligen.
Noch härter traf es behinderte junge Menschen in geförderten Ausbildungsmaßnahmen, die anstelle eines Ausbildungsgehalts Ausbildungsgeld oder Berufsausbildungsbeihilfe erhielten.
Ausbildungsgeld und Berufsausbildungsbeihilfe gelten nicht als Einkommen. Sondern als eine unterhaltssichernde Maßnahme. Daher konnten Jugendämter Ausbildungsgeld und Berufsausbildungsbeihilfe so gut wie vollständig einziehen.
Bereits seit langem war angemahnt worden, dass diese Art der Kostenheranziehung dem Auftrag der Jugendhilfe widerspreche:
„Wachsen junge Menschen außerhalb ihrer Herkunftsfamilie auf, haben sie bereits mit zusätzlichen Herausforderungen umzugehen und dadurch einen schwierigeren Start in ein eigenständiges Leben. Dieser Start wird nochmal erschwert, wenn sie einen Teil ihres Einkommens, das sie zum Beispiel im Rahmen eines Schüler- oder Ferienjobs oder ihrer Ausbildung verdienen, abgeben müssen.“ (Deutscher Bundestag – Kostenheranziehung in der Kinder- und Jugendhilfe wird abgeschafft)
Seit dem 1.1.2023 ist die Kostenheranziehung nun endlich Geschichte!
Allerdings nicht für alle jungen Menschen, die in Pflegefamilien oder Einrichtungen der Jugendhilfe leben.
Junge Menschen, die aufgrund einer Behinderung Ausbildungsgeld oder Berufsausbildungsbeihilfe erhalten, müssen nach wie vor den Großteil davon ans Jugendamt abgeben. Zur Deckung ihrer Unterhaltskosten.
Aktuell 126 Euro im Monat dürfen diese jungen Menschen jetzt behalten.
Ob das ausreicht für einen erfolgreichen Start in ein möglichst eigenständiges Leben?
Unser Kind mit Behinderung arbeitet seit Mai in einer Firma für Veranstaltungstechnik. Und ist dort super glücklich.
Auch der Betrieb ist mehr als zufrieden mit der Arbeit unseres Kindes. Gerne möchte er unserem Kind die Möglichkeit zur Qualifizierung geben.
Hätte unser Kind keine Behinderung, wäre es bereits vor drei Monaten mit der Ausbildung zur Fachkraft für Veranstaltungstechnik gestartet.
Doch mit Behinderung ist alles komplizierter.
Denn: Wegen seiner Lernschwierigkeiten schafft unser Kind keine Vollausbildung.
Das ist dem Betrieb egal. Der sagt: „Bis zu 80 Prozent der Ausbildung kann Ihr Kind schaffen. Das reicht uns.“
Ganz anders sieht das der für unser Kind zuständige Reha-Berater in der Agentur für Arbeit.
Die berufspsychologische Testung unseres Kindes durch die Agentur für Arbeit hat ergeben:
„Die Teilnahme an einer Vollausbildung ist unrealistisch. Dafür sind die behinderungsbedingten Lernschwierigkeiten zu groß.“
Daher empfiehlt das berufspsychologische Gutachten eine theoriereduzierte Ausbildung für „Förderschüler“. Mit entsprechend gestalteten Rahmenbedingungen wie einer kleinen Lerngruppe und einer intensiven sonderpädagogischen Unterstützung.
Der Haken an der Sache: Im Bereich Veranstaltungstechnik gibt es (noch) keine theoriereduzierte Ausbildung.
Also sagt der Reha-Berater: „Was es nicht gibt, kann auch nicht gefördert werden.“
Und empfiehlt unserem Kind eine Ausbildung zum Werker im Garten- und Landschaftsbau.
Auch wenn das nicht der Wunschberuf unseres Kindes ist.
Unser Kind könnte sich auch über eine Unterstützte Beschäftigung im Bereich Veranstaltungstechnik qualifizieren.
Bei einer Unterstützten Beschäftigung werden Menschen mit Behinderung direkt vor Ort in einem Betrieb angeleitet. Sie können ausprobieren, welche betrieblichen Tätigkeiten sie gut schaffen. Und sich darüber auf eine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung in dem Betrieb vorbereiten.
Allerdings: Die betriebliche Qualifizierung im Rahmen einer unterstützten Beschäftigung ist keine Ausbildung. Sie dient alleine dazu, behinderte Menschen auch ohne formale Bildungsabschlüsse in eine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt zu bringen.
Für unser Kind hieße das, dass es nicht über den Status eines angelernten Hilfsarbeiters hinaus käme. Überdies würde es in der Zeit der Qualifizierung kaum etwas verdienen.
Doch unser Kind möchte mehr. Es will sich nicht mit einem direkten Einstieg in eine Anlerntätigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt zufrieden geben. Es möchte lernen und eine Ausbildung machen – so wie seine nicht-behinderten Freunde auch.
Eigentlich wollte unser behindertes Kind direkt nach der Schule mit einer betrieblichen Ausbildung beginnen. So wie seine nicht behinderten Freunde auch.
Dazu hat unser Kind über ein Jahr lang Praktika gemacht, in unterschiedlichen Einrichtungen und Betrieben.
Am Ende der Praktika gab es von allen Seiten nur gute Rückmeldungen. Trotzdem hat unser Kind nach Abschluss der Schule mit keiner Ausbildung begonnen.
Hat sich unser Kind nicht ausreichend angestrengt? Hätten wir als Eltern mehr unterstützen müssen?
Inzwischen weiß ich:
Es liegt nicht an unserem Kind oder an uns, dass es mit einem nahtlosen Wechsel von der Schule in die Ausbildung nicht geklappt hat. Es liegt an einer strukturellen Diskriminierung von jungen Menschen mit Behinderung.
Nurwenigen Jugendlichen mit Behinderung gelingt in Deutschland ein nahtloser Wechsel von der Schule in eine betriebliche Ausbildung.
Etwas mehr schaffen den nahtlosen Wechsel in eine überbetriebliche Ausbildung.
Jugendliche mit einer geistigen oder psychischen Behinderung wechseln besonders häufig direkt nach der Schule in eine Werkstatt für behinderte Menschen.
Die meisten Jugendlichen mit Behinderung werden nach Schulende zunächst in Maßnahmen des sogenannten Übergangsbereich vermittelt.
Der Übergangsbereich ist für Jugendliche gedacht, die nach dem Ende ihrer Schulzeit noch keinen Ausbildungsplatz gefunden haben.
Ziel des Übergangbereichs ist es, die Ausbildungschancen dieser Jugendlichen zu verbessern.
Eine Vielzahl regional sehr unterschiedlicher Programme und Maßnahmen sollen die Berufsorientierung stärken und eine erste berufliche Qualifizierung ermöglichen. Auch Schulabschlüsse können im Übergangsbereich nachgeholt werden.
Allerdings führen die Angebote des Übergangbereichs zu keinem Berufsabschluss. Auf eine spätere Ausbildung werden sie nicht angerechnet.
Angelegt ist der Übergangsbereich als Notfallplan. Und damit als ein Plan B.
Ein Plan B, der nur dann in Kraft tritt, wenn es mit Plan A (dem nahtlosen Wechsel in eine Ausbildung) nicht geklappt hat.
Den meisten Jugendlichen ohne Behinderung gelingt in Deutschland tatsächlich ein nahtloser Wechsel von der Schule in eine Ausbildung. Für sie erübrigt sich damit der Übergangsbereich.
Anders sieht dies bei Jugendlichen mit Behinderung aus.
Für die meisten behinderten Jugendlichen ist der Übergangsbereich bereits Plan A und damit fester Bestandteil ihres Lebenslaufs.
Viele Lehrer und Berufsberater an den inklusiven Stadtteilschulen in Hamburg gehen einfach davon aus, dass behinderte Jugendliche nach Abschluss ihrer 10jährigen Schulzeit automatisch in ein sogenanntes Ausbildungsvorbereitungsjahr wechseln.
Auch bei unserem Kind war das so.
Den behinderten Jugendlichen und ihren Eltern wird gesagt:
Durch das Ausbildungsvorbereitungsjahr lässt sich das in Hamburg geltende 11. Pflichtschuljahr erfüllen. (Dass sich das 11. Pflichtschuljahr auch über den Besuch einer Berufsschule während des ersten Ausbildungsjahres erfüllen lässt, bleibt unerwähnt.)
Oft heißt es auch:
Jugendliche mit Behinderung sind nach dem Ende ihrer Schulzeit noch nicht reif für eine Ausbildung.
Beides hat zur Folge, dass sich behinderte Jugendliche während ihrer Schulzeit in der Regel erst gar nicht mit der Suche nach einem Ausbildungsplatz beschäftigen.
In der Agentur für Arbeit ist meist die sogenannte Reha-Abteilung für Menschen mit Behinderung zuständig.
In Hamburg beginnen die Berufsberater der Reha-Abteilung ihre Vermittlungstätigkeit generell erst am Ende der 11jährigen Pflicht-Schulzeit.
Damit wird das Ausbildungsvorbereitungsjahr im Anschluss an die 10jährige Schulzeit für inklusiv beschulte behinderte Jugendliche zum Pflichtjahr.
Und es geht noch weiter.
Am Ende des Ausbildungsvorbereitungsjahres empfehlen Hamburgs Reha-Berater oftmals die Teilnahme an einer weiteren berufsvorbereitenden Bildungsmaßnahme.
Das heißt: Behinderte Jugendliche sollen möglichst ein weiteres Jahr im Übergangsbereich verbleiben. Um weiterhin bestehende „Defizite“ auszugleichen.
Nur so lasse sich die Chance auf den erfolgreichen Abschluss einer anschließenden Ausbildung vergrößern.
Allerdings zeigt die Praxis: Genau das Gegenteil ist der Fall!
Je länger ein behinderter Jugendlicher im Übergangsbereich verbleibt, umso schlechter werden seine Chancen auf eine erfolgreiche Ausbildung und eine anschließende Beschäftigung auf dem 1. Arbeitsmarkt.
Viele sagen daher:
Der Übergangsbereich ist wie eine Black Box. Wer einmal im Übergangsbereich ist, dem gelingt kaum noch der Sprung in Ausbildung und Beschäftigung.
Der Übergangsbereich ist ein Sondersystem, das gegen die UN-Behindertenrechtskonvention verstößt.
Einzige Aufgabe dieses Sondersystems ist es, ausschließlich defizitär definierte Gruppen von Jugendlichen aufzufangen, denen ein nahtloser Wechsel von Schule in Ausbildung verwehrt wird.
Durch das dauerhafte Bereitstellen dieses Sondersystems müssen sich bestehende Exklusionsmechanismen des Arbeitsmarkts nicht ändern. Inklusion wird verhindert.
Vor 10 Jahren wurde in Hamburg die schulische Inklusion eingeführt.
Nun – 10 Jahre später – verlassen die ersten inklusiv beschulten Jugendlichen mit Behinderung die Regelschulen.
Wie geht es für sie weiter? Wie sieht ihre berufliche Zukunft aus? Welche Berufe wollen und können sie ergreifen? Wer hilft ihnen bei Berufswahl und Ausbildung?
Die UN-Behindertenrechtskonvention benennt klar und deutlich, wie inklusive Arbeit und Berufsbildung aussehen sollen:
Alle Menschen haben das Recht auf frei gewählte und gerecht bezahlte Arbeit, damit sie ihren Lebensunterhalt selbst verdienen können.
Um dieses Recht zu verwirklichen, müssen Arbeitsmarkt und Arbeitsumfeld inklusiv gestaltet und auch für Menschen mit Behinderung zugänglich sein.
Entscheidend für den späteren Berufsweg eines Menschen sind schulische und berufliche Bildung.
An ein inklusives Schulwesen muss sich ein inklusives Ausbildungswesen anschließen.
Berufsorientierung und Berufsvorbereitung sind inklusiv zu gestalten.
Menschen mit und ohne Behinderung sollen gemeinsam in Betrieben oder Schulen/Hochschulen ausgebildet werden.
Alle anerkannten Berufe sollen auch für Menschen mit Behinderung zugänglich sein. Wo nötig, müssen unterstützende individuelle Vorkehrungen getroffen werden.
Sonderausbildungen für Menschen mit Behinderung müssen abgeschafft werden.
Anstatt auf Gleichbehandlungsgebote und gleiche Leistungsanforderungen zu drängen, sollen Kreativität und Vielfalt gestärkt werden.
Ausgehend von diesen Punkten frage ich:
Wie inklusiv ist die berufliche Bildung in Hamburg inzwischen aufgestellt?
Im Juli hat unser behindertes Kind die Stadtteilschule ohne Abschluss beendet.
Eigentlich wollte es im Anschluss mit einer betrieblichen Ausbildung starten – so wie seine besten (nicht-behinderten) Freunde auch.
Doch während diese die Ausbildung längst begonnen haben, wartet unser Kind weiterhin auf eine klare, verlässliche Ausbildungsperspektive.
Dabei hat unser Kind ein Ausbildungsangebot – von einer Firma, in der es Praktikum gemacht hat und in der es seit drei Monaten erfolgreich jobbt.
Die Firma ist so zufrieden mit der Arbeit unseres Kindes, dass sie ihm die Möglichkeit zur Qualifizierung bieten möchte.
Die Firma weiß: Aufgrund seiner Behinderung schafft unser Kind keine reguläre Vollausbildung. Aber sie ist offen für alternative, inklusive Ausbildungswege.
Das Problem: Auch 13 Jahre nach Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention fehlen in Deutschland Vorgaben und Beispiele für eine inklusive Berufsausbildung.
Das Berufsbildungsgesetz (BBiG) legt fest, dass Menschen mit Behinderung vorrangig in einem anerkannten Ausbildungsberuf ausgebildet und die Verhältnisse behinderter Menschen berücksichtigt werden sollen (§ 65). Dies deckt sich mit den Forderungen der UN-Behindertenrechtskonvention.
Für Jugendliche, die aufgrund der Art und Schwere ihrer Behinderung keine reguläre Ausbildung schaffen, sieht das Berufsbildungsgesetz theoriereduzierte Fachpraktiker-Ausbildungen vor (§ 66). Bereits hier wird es problematisch.
Denn: Durch Fachpraktiker-Ausbildungen werden neue Sonderwelten für junge Menschen mit Behinderung geschaffen. Die Ausbildungen finden in speziellen Berufsschulen und überwiegend überbetrieblich statt. Der Beruf des Fachpraktikers ist ausschließlich für Menschen mit Behinderung gedacht und von Beginn an mit einer geringeren Entlohnung verbunden als bei regulären Berufen.
Hinzu kommt, dass Fachpraktiker-Ausbildungen zwar theoriereduziert, aber nicht individualisiert angelegt sind. Ausgehend von der Vorstellung, Leistungen vergleichbar machen zu müssen, setzen Fachpraktiker-Ausbildungen ein festgelegtes Maß an Wissen und Fähigkeiten voraus. Das heißt: Ein junger Mensch mit Behinderung muss sich an die Leistungsanforderungen der Ausbildung anpassen. Die Anpassung der Ausbildung an die individuellen Fähigkeiten und Bedürfnisse eines behinderten Menschen ist nicht möglich. Dadurch werden viele junge Menschen mit Lernbehinderung oder geistiger Behinderung von Fachpraktiker-Ausbildungen ausgeschlossen.
Für junge Menschen, die aufgrund ihrer Behinderung weder eine Vollausbildung noch eine Fachpraktiker-Ausbildung schaffen, bietet das Berufsbildungsgesetz die Möglichkeit, Qualifizierungsbausteine zu erwerben (§ 69).
Aufgabe von Qualifizierungsbausteinen ist es, „Grundlagen für den Erwerb beruflicher Handlungsfähigkeit“ zu vermitteln. Übersetzt heißt dies: Qualifizierungsbausteine sollen junge Menschen mit Beeinträchtigungen soweit fit machen, dass sie im Anschluss doch noch eine Ausbildung schaffen.
Der Erwerb von Qualifizierungsbausteinen ist auf berufliche Ausbildungsvorbereitungs-Maßnahmen begrenzt. Diese finden ausschließlich überbetrieblich in Sondereinrichtungen wie Werkstätten für behinderte Menschen statt. Erworbene Qualifikationen lassen sich nicht auf eine anschließende Ausbildung anrechnen.
Auch Qualifizierungsbausteine sind an einen festgelegten Leistungskatalog geknüpft. Wenn ein junger Mensch mit Behinderung nicht alle Anforderungen eines Qualifizierungsbausteins erfüllt, bleibt er auch hier bei der Qualifizierung außen vor.
Erschwerend kommt hinzu: Es ist äußerst aufwendig, normierte Vorgaben für Fachpraktiker-Ausbildungen und Qualifizierungsbausteine zu erstellen. Daher gibt es bisher nur eine sehr begrenzte Zahl an Berufen, in denen Fachpraktiker-Ausbildungen oder der Erwerb von Qualifizierungsbausteinen möglich sind. In Hamburg werden derzeit nur 5 (!) Fachpraktiker-Ausbildungen angeboten. Während nicht-behinderte junge Menschen zwischen vielen unterschiedlichen Berufen wählen können, ist behinderten Menschen eine echte Berufswahl somit nicht möglich.
Was bedeutet das für unser Kind mit Behinderung?
Zwar hat ein Betrieb unserem Kind eine Ausbildung in seinem Wunsch-Beruf angeboten. Trotzdem kann es diese Chance nicht nutzen, da es für diesen Beruf keine Fachpraktiker-Ausbildung gibt.
Selbst wenn es eine Fachpraktiker-Ausbildung für diesen Beruf gäbe, wäre es nicht sicher, ob unser Kind die dafür festgelegten theoretischen Anforderungen erfüllen könnte.
Qualifizierungsbausteine gibt es für den Wunsch-Beruf unseres Kindes ebenfalls nicht.
Es ist also völlig egal, wie gut sich unser Kind in der praktischen Arbeit vor Ort in seinem Wunsch-Beruf macht. So wie es zur Zeit aussieht, hat es nur eine einzige Perspektive: die Arbeit als Ungelernter in seinem Wunsch-Beruf.
Gleich zu Anfang seines Berufslebens erfahren zu müssen, dass man aufgrund seiner Behinderung keine Chance auf eine Berufsausbildung hat, ist hart und diskriminierend.Es verhindert eine gleichberechtigte soziale Teilhabe und verstößt gegen das Menschenrecht auf frei gewählte und gerecht bezahlte Arbeit.
Das Deutsche Institut für Menschenrechte hat 2020 in seinem 5. Bericht zur Entwicklung der Menschenrechtssituation in Deutschlandklargestellt:
Fachpraktiker-Ausbildungen sind exklusiv und stigmatisierend.
Durch Fachpraktiker-Ausbildungen werden junge Menschen mit Behinderung anders behandelt als junge Menschen ohne Behinderung. Ihre Leistungen werden als nicht ausreichend betrachtet. Ihre Ausbildung findet getrennt von der ihrer Altersgenossen statt.
Fachpraktiker-Ausbildungen schaffen neue Sonderwelten und verhindern, dass junge Menschen mit Behinderung einen Zugang zum ersten Arbeitsmarkt erhalten.
Dies lässt sich 1:1 auf eine Ausbildung über Qualifizierungsbausteine übertragen.
Für unser großes Kind war immer klar: Gleich nach der Schule möchte es mit einer Ausbildung beginnen. Endlich arbeiten, endlich eigenes Geld verdienen.
Für unser großes Kind und mich war auch klar: Das mit einer Ausbildung wird nicht einfach werden. Denn unser Kind hat eine Fetale Alkoholspektrumstörung, bekannt als FASD. Wegen dieser Behinderung hat unser Kind keinen Schulabschluss und wird mehr Unterstützung bei der Ausbildung benötigen als andere Jugendliche.
Damit es trotzdem mit einer Ausbildung klappt, hat unser Kind bereits in seinen letzten zwei Schuljahren angefangen, nach einer Ausbildungsmöglichkeit zu suchen.
Ursprünglich wollte unser Kind im Bereich Veranstaltungstechnik arbeiten. Doch nach einem Praktikum in einer Firma für Veranstaltungstechnik hieß es im Abschlussgespräch: Die theoretischen und technischen Hürden in der Ausbildung zur Fachkraft für Veranstaltungstechnik seien sehr hoch und mit der Lernbehinderung unseres Kindes wohl nicht zu schaffen.
Also hat sich unser Kind umorientiert.
Hat mit Ehrgeiz, Freude und Erfolg zahlreiche Praktika im Garten- und Landschaftsbau gemacht.
Hat rechtzeitig die Psychologischen Eignungsuntersuchung (PSU) bei der Agentur für Arbeit absolviert.
War zum Gespräch beim Fachberater in der inzwischen für unser Kind zuständigen Reha-Abteilung der Agentur für Arbeit.
Hatte schließlich die Zusage des Berufsbildungswerks auf eine begleitete betriebliche Ausbildung zum Werker im Garten- und Landschaftsbau in der Tasche.
Unser Kind war ganz schön stolz auf sich. Und ich auf unser Kind.
Doch dann rief kurz vor Schulschluss und Sommerferien überraschend das Berufsbildungswerk an und erklärte: Die Lehrer an der Berufsschule glaubten nicht, dass unser Kind die theoriereduzierte Ausbildung zum Werker schaffe. Seine “Lernrückstände“ seien einfach zu groß.
Darum zog das Berufsbildungswerk seine Zusage auf eine begleitete Werker-Ausbildung im Garten- und Landschaftsbau wieder zurück. Stattdessen solle unser Kind zunächst ein Ausbildungsvorbereitungsjahr machen und fleißig an seinen Mathekenntnissen arbeiten. Dann könne es sich im nächsten Jahr nochmals beim Berufsbildungswerk bewerben.
Unser Kind und ich verstanden die Welt nicht mehr.
Eigentlich ist die Ausbildung zum Werker als Alternative für behinderte Menschen gedacht, die aufgrund der Art und Schwere ihrer Behinderung keine übliche Ausbildung schaffen.
Und nun sollte das für unser Kind nicht möglich sein, weil die behinderungsbedingten „Lernrückstände“ zu groß seien?
Nur zwei Tage später rief die Firma für Veranstaltungstechnik an, bei der unser Kind Praktikum gemacht hatte. Sie bräuchten dringend Leute. Und würden unser Kind gerne als Aushilfe einstellen.
Unser Kind war selig: Doch noch arbeiten und Geld verdienen!
Und: Mit einer bezahlten Aushilfstätigkeit in der Hand wurde die Perspektive eines unbezahlten Ausbildungsvorbereitungsjahres für unser Kind endlich aushaltbar.
(Nur ich hatte etwas Stress und musste innerhalb weniger Wochen ein Ausbildungsvorbereitungsjahr organisieren.)
In gut drei Wochen soll es nun losgehen mit dem Ausbildungsvorbereitungsjahr. Eigentlich. Denn seit wenigen Tagen ist wieder alles anders:
Unser Kind hat ein Ausbildungsplatz-Angebot!
Bei der Firma für Veranstaltungstechnik, in der es jobbt!
Wie es jetzt weitergeht? Noch haben wir keinen Plan. Die Agentur für Arbeit ist angeschrieben. Ein Beratungstermin bei der zuständigen Handelskammer ist in Arbeit.
Für unser inzwischen nicht mehr kleines Kind beginnt demnächst der Ernst des Lebens: Arbeit und Ausbildung stehen an.
Unser Kind ist da für sich bereits schon ganz schön klar. Seit dem Frühjahr ist es dabei, Praktika zu machen. Mit Erfolg.
Seine bisherigen Praktikums-Zeugnisse zeigen: Es ist zuverlässig, motiviert, packt mit an und kommt gut mit Mitarbeitern und Kunden klar.
Außerdem : Nach jedem Praktikum weiß unser Kind besser, was es möchte und was nicht.
Ich dagegen sehe gerade alles andere als klar.
Unser Kind hat eine anerkannte Schwerbehinderung und keinen Schulabschluss.
Das sei nicht so schlimm, hörte ich vor einiger Zeit. Hamburg sei sehr gut aufgestellt, was Arbeits- und Ausbildungsmöglichkeiten für junge Menschen mit Behinderung angehe.
Das ist wahrscheinlich richtig – wenn frau denn erst mal durchsteigt.
Bisher hatte ich gedacht, nach zehn Jahren Erfahrung mit schulischer Inklusion gibt es nichts mehr, was komplizierter sein könnte.
Ich befürchte gerade, da war ich etwas voreilig.
Also, was ich bereits kenne und weiß:
Es gibt den ersten und den zweiten Arbeitsmarkt.
Zum zweiten Arbeitsmarkt zählen die Werkstätten für Menschen mit Behinderung. Da hat unser Kind ein Praktikum gemacht. Seitdem weiß es, dass es auf dem ersten Arbeitsmarkt arbeiten möchte. Denn nur da verdient es ausreichend Geld zum Leben.
Dann gibt es betriebliche und überbetriebliche Ausbildungen.
Das ist für alle Jugendlichen gleich. Unser Kind strebt eine betriebliche Ausbildung an. Mit echten Aufträgen, echten Kollegen und echten Kunden.
Schließlich gibt es normale Berufsschulen, die inklusiv arbeiten. Und es gibt spezielle Berufsschulen ausschließlich für Jugendliche mit Behinderung.
Was ich bisher noch nicht wusste:
Je nach Fähigkeiten und Kompetenzen eines Jugendlichen ist entweder die Jugend-Berufsagentur oder die Reha-Abteilung der Agentur für Arbeit für ihn zuständig.
Der Berufspsychologische Service der Agentur für Arbeit prüft die Zuständigkeit. Dazu wird eine Psychologische Eignungsuntersuchung (PSU) durchgeführt. Wenn nötig, erstellen Arbeitspsychologen weitere Gutachten.
Und: Für junge Menschen mit Behinderung gibt es verschiedeneMöglichkeiteneinerbegleiteten Ausbildung.
Spätestens hier wird es kompliziert.
Es beginnt damit, dass der Zugang zu den verschiedenen Unterstützungsmöglichkeiten an sehr viele unterschiedliche Voraussetzungen geknüpft ist.
So muss als erstes geklärt werden,
ob der Jugendliche mit Behinderung erwerbsfähig ist,
ob er ausbildungsfähig ist,
ob er eine Werkstattzugangsberechtigung hat oder
ob er über einen anerkannten Reha-Status verfügt.
Bereits an diesem Punkt verstehe ich bisher nur Bahnhof.
Aber ich werde mich weiter schlau machen und Sie auf dem Laufenden halten.
Im Januar wird die berufspsychologische Testung unseres Kindes durch die Agentur für Arbeit stattfinden.
MENSCHLICH. Leben mit Handicap. Eine Anzeigen-Sonderveröffentlichung.
Das Thema interessiert mich. Also fange ich an zu lesen.
Im ersten Artikel geht es um den „EinsatzimGrünen“. Vorgestellt wird die erfolgreiche Kooperation zwischen den Elbe-Werkstätten und der Firma Beiersdorf in Hamburg. Ein gelungenes Inklusions-Projekt, so heißt es da.
Trotzdem stört mich etwas an dem Artikel. Es dauert einen kurzen Moment, bis ich dahinter komme. Doch dann habe ich es.
An zwei Stellen im Artikel heißt es: „Verstärkung gewünscht!“
Zuerst werden Menschen mit Behinderung als Verstärkung für das Team gesucht. Angeboten werden abwechslungsreiche Arbeiten im Grünen und spannende Sondereinsätze. Und: Wenn die Arbeit nicht mehr gefällt, sind Wechsel in andere Projekte der Elbe-Werkstätten jederzeit möglich.
Dann werden Frauen und Männer als Verstärkung für das Team gesucht, die Lust haben, ihre handwerklichen Berufe mit einer pädagogischen Aufgabe zu verbinden. Ihnen wird angeboten: eine Beschäftigung mit Spaß und Sinn, vielen Gestaltungsmöglichkeiten, geregelten Arbeitszeiten und einer guten Bezahlung nach Tarif.
Sind bei letzteren auch Menschen mit Behinderung angesprochen? Ich bezweifle es.
Denn: Auf der Karriere-Seite der Elbe-Werkstätten im Internet gibt es „Stellenangebote für Menschen mit Behinderung“ und „tarifliche Stellenangebote“. Für letztere bleiben eigentlich nur noch Menschen ohne Behinderung übrig.
Was sich hier deutlich zeigt, ist das exklusive und längst nicht mehr zeitgemäße System von Behindertenwerkstätten in Deutschland:
Wegen ihrer vermeintlichen Einschränkungen werden Menschen mit Behinderung als besonders schutz- und hilfsbedürftig angesehen.
Aufgrund ihrer Behinderung können sie nicht die gleiche Arbeit leisten wie Menschen ohne Behinderung.
Also bietet ihnen die Behindertenwerkstatt einen Schonraum mit Rundumbetreuung und Beschäftigung an. Und mit einem durchschnittlichen Monatseinkommen von derzeit knapp 200 Euro. Das reicht nicht zum Leben.
Das ganze funktioniert, weil behinderte Menschen in Werkstätten per Gesetz keine Arbeitnehmer sind. Damit haben sie keinen Anspruch auf einen Mindestlohn.
Dies widerspricht der UN-Behindertenrechtskonvention.
Die UN-Behindertenrechtskonvention besagt in Artikel 27, dass Menschen mit Behinderung ein Rechtauf Arbeit haben.
Dieses Recht auf Arbeit schließt die Möglichkeit ein, den Lebensunterhalt durch Arbeit zu verdienen, die frei gewählt oder frei angenommen wird. Und zwar am besten bei öffentlichen und privaten Arbeitgebern auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt.
Nicht inklusive Beschäftigungsverhältnisse in Behindertenwerkstätten, so die UN-Behindertenrechtskonvention, sollen kontinuierlich abgebaut werden.
Was bedeutet das nun für den „Einsatz im Grünen“?
Der „Einsatz im Grünen“ ist kein gelungenes Inklusions-Projekt. Weil er an den exklusiven Beschäftigungsstrukturen von Behindertenwerkstätten festhält.
Wirklich inklusiv wird der „Einsatz im Grünen“ erst dann, wenn die Beschäftigten mit Behinderung für ihre Arbeit so entlohnt werden, dass sie davon leben können.
Noch inklusiver wird der Einsatz, wenn die Beschäftigten mit Behinderung einen Arbeitsvertrag mit Beiersdorf selbst oder einer „normalen“ Gartenbaufirma erhalten. Erst dann sind sie auch auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt beschäftigt.
Meine Wünsche für eine „Inklusionsmetropole“ Hamburg:
Eine Entlohnung für Menschen mit Behinderung, die den Lebensunterhalt sichert
Ausbau von Arbeitsplätzen für Menschen mit Behinderung auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt
Schrittweise Auflösung des exklusiven Sondersystems Behindertenwerkstätten
In Hamburg ist es seit Einführung der Inklusion 2012 nicht gelungen, die Anzahl der Beschäftigten mit Behinderung in den Elbe-Werkstätten spürbar zu reduzieren.
Quellen: Hamburgs öffentliche Unternehmen. Beteiligungsberichte 2011-2013; Elbe Werkstätten Hamburg GmbH: Konzernabschluss und Konzernlagebericht 2015 sowie 2017; Elbe Werkstätten Hamburg GmbH: Jahresabschluss und Lagebericht für die Jahre 2018 und 2019