Vor kurzem hat das Deutsche Institut für Menschenrechte seinen Jahresbericht 2021/22 über die Menschenrechts-Situation in Deutschland veröffentlicht.
Im Mittelpunkt des Berichts steht diesmal die inklusive Bildung für Kinder und Jugendliche mit Behinderung. Mit sehr ernüchternden Ergebnissen:
- Noch immer haben zu viele Kinder und Jugendliche mit Behinderung in Deutschland keinen diskriminierungsfreien Zugang zu einem inklusiven Schulsystem.
- Viele Landesregierungen bekennen sich zwar vordergründig zu einer inklusiven Bildung. Trotzdem halten sie am Sonderschulsystem für Schüler mit Behinderung fest.
- Immer noch werden mehr als die Hälfte aller Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf exklusiv an Förder- und Sonderschulen unterrichtet.
- Die meisten dieser Schülerinnen und Schüler verlassen die Schule ohne Abschluss.
Als Leuchttürme für inklusive Bildung gelten in Deutschland nur wenige Bundesländer, unter ihnen Hamburg.
Im Oktober 2009 beschloss die Hamburgische Bürgerschaft einstimmig eine Änderung des Hamburgischen Schulgesetzes. Seitdem haben Kinder und Jugendliche mit sonderpädagogischem Förderbedarf in Hamburg das Recht, allgemeine Schulen zu besuchen.
Im Juni 2012 verabschiedete die Hamburgische Bürgerschaft die Drucksache „Inklusive Bildung an Hamburgs Schulen„. Diese Drucksache enthält das Konzept, auf der die inklusive Umgestaltung des Hamburger Schulsystems fußt. Gleichzeitig war diese Drucksache der Startschuss für die praktische Umsetzung der Inklusion an Hamburgs Schulen.
Inzwischen sind 10 Jahre vergangen. Wie steht es um die inklusive Bildung für Kinder und Jugendliche mit Behinderung in Hamburg im Jahr 2022?
Ein Zeiger für den Stand von inklusiver Bildung ist die sogenannte Exklusionsquote.
Die Exklusionsquote zeigt, wie sich der Anteil der Schülerinnen und Schüler an Sonderschulen im Verhältnis zur Gesamtzahl aller Schüler entwickelt.
Zu Beginn des inklusiven Umbaus des Hamburger Schulsystems betrug die Exklusionsquote 3,6. Das heißt, 3,6 Prozent aller Schüler in Hamburg wurden 2012 exklusiv in Sonderschulen unterrichtet.
Sechs Jahre später lag die Exklusionsquote bei 2,4. Ein beeindruckendes Ergebnis.
Allerdings: In den letzten vier Jahren ist die Zahl der Schüler an Sonderschulen annähernd gleich geblieben. Dementsprechend stagniert die Exklusionsquote.
Was sind das für Schüler, die nach wie vor an Sonderschulen unterrichtet werden?
Gut die Hälfte aller rund 4400 weiterhin nicht inkludierten Schülerinnen und Schüler hat einen speziellen Förderbedarf in den Bereichen geistige Entwicklung, körperlich-motorische Entwicklung, Hören, Sehen oder Autismus.
Diese Schüler werden in Hamburg an sogenannten speziellen Sonderschulen unterrichtet.
Betrachtet man die Entwicklung der Schülerzahlen an den speziellen Sonderschulen in den letzten 10 Jahren, zeigt sich ein frustrierendes Bild:
Seit Einführung der schulischen Inklusion vor 10 Jahren ist es in Hamburg nicht gelungen, die Zahl der an speziellen Sonderschulen unterrichteten Schüler zu verringern.
Die meisten Schüler mit speziellen Förderbedarfen nehmen an inklusiver Bildung weiterhin nicht teil.
Woran liegt das?
Zwar hat seit Einführung der Inklusion jedes Kind mit Behinderung das Recht, eine Regelschule zu besuchen. Allerdings muss es keine Regelschule besuchen.
Hamburg hielt 2012 am sogenannten Elternwahlrecht fest. Das bedeutet: Eltern und Sorgeberechtigte sollen wählen können, ob ihr Kind mit Behinderung eine Regelschule oder eine Sonderschule besucht.
Um dieses Elternwahlrecht sicherzustellen, blieben die speziellen Sonderschulen trotz Einführung der schulischen Inklusion unverändert erhalten.
Die Begutachtung spezieller Förderbedarfe findet nach wie vor an den speziellen Sonderschulen statt.
Außerdem bieten die speziellen Sonderschulen mit Fahrdiensten und gesicherter Ganztagsbetreuung ein jahrelang erprobtes „Rundum-sorglos-Paket“ an.
Dagegen ist die inklusive Beschulung eines Kindes mit Behinderung an einer Regelschule nach wie vor ein Abenteuer mit vielen Hindernissen. Ein Abenteuer, das enorme Kraft, starke Nerven, Durchhaltevermögen und Eigeninitiative von Eltern fordert. Und das mit einem zunehmenden Fachkräftemangel immer schwerer zu bewältigen wird.
Die zweite Hälfte der noch nicht inkludierten Schüler hat einen sonderpädagogischen Förderbedarf in den Bereichen Lernen, Sprache oder emotional-soziale Entwicklung.
Bis 2012 wurden Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf in den Bereichen Lernen, Sprache oder emotional-soziale Entwicklung in Hamburg überwiegend an Förderschulen (ehemalige Lernbehinderten-Schulen) unterrichtet.
2012 wurden diese Förderschulen zusammen mit Sprachheilschulen und regionalen Beratungs- und Unterstützungsstellen (REBUS) zu Regionalen Bildungs- und Beratungszentren (ReBBZ) zusammengefasst. Dieser Schritt fand bundesweit viel Beachtung und wurde als „Abschaffung der Förderschulen“ gelobt.
Allerdings: Durch das Festhalten am Elternwahlrecht behielten auch Eltern von Kindern mit sonderpädagogischen Förderbedarfen einen Anspruch auf einen Schulplatz im Sondersystem. Daher blieb es eine zentrale Aufgabe der Regionalen Bildungs- und Beratungszentren, Schüler mit sonderpädagogischen Förderbedarfen auf Dauer zu unterrichten.
Die Folge: Unter dem Deckmantel der Regionalen Bildungs- und Beratungszentren blieben offiziell abgeschaffte Förderschulen weiter erhalten. Seit einigen Jahren werden sie als ReBBZ-Schulen ganz offen wieder unter Sonderschulen gelistet.
Die UN-Behindertenrechtskonvention sagt:
- Alle Schüler sollen zusammen lernen und aufwachsen – unabhängig davon, ob sie eine Behinderung haben oder nicht.
- Das funktioniert nur in einem inklusiven Bildungssystem für alle. Dieses muss kontinuierlich ausgebaut werden.
- Im Gegenzug müssen Förder- und Sonderschulen nach und nach abgebaut werden.
Gemessen an den Vorgaben der UN-Behindertenrechtskonvention zeigt sich die inklusive Bildung in Hamburg im Jahr 2022 alles andere als vorbildlich:
Nach wie vor gibt es ein gut ausgebautes schulisches Sondersystem in der Stadt.
Dort werden seit Jahren kontinuierlich weit über 4.000 Kinder und Jugendliche exklusiv beschult. Mit steigender Tendenz.
Perspektiven, dass sich daran etwas ändert, sind nicht in Sicht.
Ja, es stimmt. Hamburg hat 2009 das Recht auf inklusive Bildung in seinem Schulgesetz verankert. Das war ein mutiger und wichtiger Schritt!
Doch dann ist Hamburg nicht weitergegangen.
Vielmehr hat sich die Stadt über das Elternwahlrecht die Hintertür zum alten Sondersystem weit offen gehalten.
Das Deutsche Institut für Menschenrechte findet in seinem aktuellen Jahresbericht deutliche Worte, was das Elternwahlrecht angeht:
- Das Elternwahlrecht steht im Widerspruch zum Auftrag der UN-Behindertenrechtskonvention.
- Aufgabe eines Staates ist es, ein inklusives Bildungssystem aufzubauen, das den Bedarfen aller Schüler gerecht wird. Unabhängig davon, ob ein Schüler eine Beeinträchtigung hat oder nicht.
- Eltern sollen erst gar nicht vor der Wahl stehen müssen, ob sie ihr Kind mit Behinderung an einer Regelschule oder besser an einer Sonderschule beschulen lassen sollen.
- Der Verantwortung, ein inklusives Bildungssystem aufzubauen, kann sich Deutschland nicht über „das Konstrukt des Elternwillens“ entledigen.
Eine Antwort auf „Ernüchternd: Inklusive Bildung in Hamburg 2022“
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