Bereits im Sommer hatte sich immer mehr abgezeichnet:
Die Handelskammer Hamburg will keine Fachpraktiker-Ausbildung umsetzen.
Allerdings wollte die Handelskammer auch keine Fakten schaffen.
Bis zum Schluss hat sich die Handelskammer standhaft geweigert, den von uns gestellten Antrag auf Fachpraktiker-Ausbildung per Bescheid abzulehnen.
Denn gegen solch einen Bescheid hätten wir Widerspruch einlegen können. Mit berechtigten Chancen auf Erfolg.
Was dann folgte, war weniger schön.
Im September entschieden wir: Unser Kind fängt erst einmal mit der Vollausbildung an.
Damit es kein weiteres Jahr in der Warteschleife zubringen muss.
Das hat die Handelskammer für sich zu nutzen gewusst.
Nun führte die Handelskammer an:
Es geht nur eine Fachpraktiker-Ausbildung oder eine Vollausbildung. Beides wären zwei unterschiedliche paar Schuhe.
Wenn wir den Antrag auf die Fachpraktiker-Ausbildung nicht zurückzögen, wäre es fraglich, ob unser Kind zur Vollausbildung zugelassen werden könne. Denn dann wäre es ja definitiv zu „behindert“ für die Vollausbildung.
Darauf hat die Vormünderin unseres Kindes den Antrag auf Fachpraktiker-Ausbildung zurückgezogen. Um unserem Kind nicht zu „schaden“.
Was bedeutet das?
Zunächst einmal: Unser Kind ist super glücklich. Endlich macht es eine Ausbildung – so wie seine besten Freunde auch.
Allerdings: Die Berufsschule für unser Kind beginnt erst im Dezember.
Ab da wird es vermutlich mehr als schwierig werden für unser Kind.
Denn der Unterricht an der Berufsschule für Veranstaltungstechnik ist sehr anspruchsvoll.
Unser Kind weiß:
Wegen seiner Behinderung wird es nicht alles so verstehen und schaffen wie seine zukünftigen Mitschüler.
Das lässt sich – auch mit viel Unterstützung – nicht ändern.
Unser Kind weiß auch:
Ein erfolgreicher Abschluss als „Fachkraft für Veranstaltungstechnik“ ist mehr als ungewiss.
Trotzdem lässt sich unser Kind auf das Wagnis Ausbildung ein.
Denn:
Unser Kind möchte möglichst alles über Veranstaltungstechnik lernen, was ihm möglich ist.
Und zwar in einem Rahmen, der für Gleichaltrige ohne Behinderung normal und üblich ist.
Damit unser Kind später erfolgreich in der Veranstaltungstechnik arbeiten kann.
Viele junge Menschen in Hamburg sind mit einer dualen Berufsausbildung gestartet.
Nur unser Kind wieder nicht.
Obwohl es seit einem Jahr eine feste Zusage auf einen betrieblichen Ausbildungsplatz hat. In einer Firma für Veranstaltungstechnik.
Woran das liegt?
Unser Kind hat eine fetale Alkoholspektrumstörung (FASD) und damit eine lebenslange Behinderung.
Aufgrund seiner Behinderung wird unser Kind keine Vollausbildung zur Fachkraft für Veranstaltungstechnik schaffen.
Es benötigt eine theoriereduzierte Fachpraktiker-Ausbildung nach § 66 des Berufsbildungsgesetzes (BBiG). Darauf hat es einen Anspruch.
Zuständig für Ausbildungen im Bereich Veranstaltungstechnik ist die Handelskammer Hamburg. Dort haben wir vor 7 Monaten einen Antrag auf eine theoriereduzierte Ausbildung zum Fachpraktiker für Veranstaltungstechnik gestellt.
Über diesen Antrag hat die Handelskammer bis heute nicht entschieden.
Inzwischen glaube ich: Die Handelskammer will gar nicht über unseren Antrag entscheiden.
Denn: Unser Antrag scheint die Zuständigen in der Handelskammer vor ein Problem gestellt zu haben.
Einerseits ist es nur schwer möglich, unseren Antrag abzulehnen. Da unser Kind alle Voraussetzungen für eine theoriereduzierte Fachpraktiker-Ausbildung erfüllt.
Gleichzeitig scheint es in der Handelskammer einflussreiche Stimmen zu geben, die sagen:
„Die Handelskammer Hamburg hat sich vor mehr als 40 Jahren bewusst gegen eine Behinderten-Ausbildung entschieden, ist damit immer gut gefahren und wird daran auch in Zukunft sicherlich nichts ändern.“
Tatsache ist: An der Handelskammer Hamburg hat es noch nie eine theoriereduzierte Fachpraktiker-Ausbildung nach § 66 BBiG gegeben.
Ganz im Gegensatz zu vielen anderen Industrie- und Handelskammern.
Dabei erscheint mir das Verfahren bei einer Fachpraktiker-Ausbildung relativ einfach.
Als erstes muss ein Ausbildungsrahmenplan geschrieben werden. Dafür gibt es klare Vorgaben.
Ist der Ausbildungsrahmenplan fertig, muss er dem Berufsbildungsausschuss der Handelskammer zur Genehmigung vorgelegt werden.
Stimmt der Berufsbildungsausschuss dem Ausbildungsrahmenplan zu, dann gilt er offiziell als erlassen – und unser Kind mit Behinderung könnte mit seiner Ausbildung beginnen.
Soweit die Theorie.
In der Praxis bekamen wir von der Handelskammer in den letzten Monaten immer wieder zu hören:
Das mit der Fachpraktiker-Ausbildung ist unheimlich kompliziert.
Bis zum Erlass des notwendigen Ausbildungsrahmenplans dauert es Jahre.
Das ganze Verfahren ist teuer.
Auf dem Arbeitsmarkt gibt es keinen Bedarf an Fachpraktikern für Veranstaltungstechnik.
Die theoriereduzierte Fachpraktiker-Ausbildung ist nicht anerkannt.
Eine Fachpraktiker-Ausbildung stigmatisiert.
Die Berufsschule für Veranstaltungstechnik hat keinerlei Erfahrung mit einer theoriereduzierten Ausbildung.
Der Unterricht an der Berufsschule wird unser Kind überfordern.
Inzwischen ist die Handelskammer dazu übergegangen, uns „attraktive Alternativen“ zur Fachpraktiker-Ausbildung vorzustellen.
Um uns dazu zu bewegen, unseren Antrag auf eine Fachpraktiker-Ausbildung wieder zurückzuziehen.
Ich gebe zu: Einiges davon klingt interessant.
Unser Kind könnte bereits jetzt Geld verdienen. Und müsste sich nicht durch die Berufsschule quälen. Gleichzeitig hätte es in drei Jahren ein Zertifikat der Handelskammer in Aussicht.
Allerdings: Das ganze wäre keine Ausbildung. Unser Kind bliebe offiziell ungelernt.
Von früh an wollte unser Kind mit Behinderung vor allem eins: Es wollte alles so machen wie andere auch.
Unser Kind hat eine inklusive Kita besucht.
Unser Kind hat sich zehn Jahre lang durch die inklusive Schule gekämpft.
Unser Kind hat sich intensiv um einen Ausbildungsplatz bemüht. Weil es gelernt hat: Menschen ohne abgeschlossene Ausbildung haben kaum Chancen auf dem 1. Arbeitsmarkt.
Unserem Kind ist es gelungen, einen Ausbildungsbetrieb von seinen Fähigkeiten und Kenntnissen zu überzeugen.
Ich bin stolz auf unser Kind!
Und werde weiter dafür kämpfen, dass sein eigentlich ganz stinknormaler Wunsch nach einer Ausbildung in Erfüllung geht.
Teilhabe an Bildung ist ein Menschenrecht und schließt berufliche Bildung ausdrücklich mit ein.
„Ich brauche eine Berufsausbildung. Damit ich auf dem 1. Arbeitsmarkt arbeiten kann.“
Eine Arbeit auf dem ersten Arbeitsmarkt ist unserem Kind sehr wichtig.
Damit es ausreichend Geld verdient.
Um sich selbst zu finanzieren. Um unabhängig zu sein.
Und um in eine eigene Wohnung ziehen zu können.
Tatsächlich ist es in Deutschland für Menschen ohne abgeschlossene Ausbildung kaum möglich, auf Dauer erfolgreich am ersten Arbeitsmarkt teilzuhaben.
Allerdings ist es unserem Kind aufgrund seiner Behinderung nicht möglich, alle inhaltlichen Anforderungen an eine Ausbildung in einem staatlich anerkannten Beruf zu erfüllen.
In so einem Fall bietet das Berufsbildungsgesetz in Paragraf 66 (entsprechend dazu Handwerksordnung, Paragraf 42m) die Möglichkeit einer theoriereduzierten Fachpraktiker-Ausbildung.
Fachpraktiker-Ausbildungen sind gerade sehr umstritten.
Das Deutsche Institut für Menschenrechte hat 2020 in seinem 5. Bericht zur Entwicklung der Menschenrechts-Situation in Deutschland geschrieben:
Fachpraktiker-Ausbildungen sind exklusiv und stigmatisierend.
Durch Fachpraktiker-Ausbildungen werden junge Menschen mit Behinderung anders behandelt als junge Menschen ohne Behinderung. Ihre Leistungen werden als nicht ausreichend betrachtet. Ihre Ausbildung findet getrennt von der ihrer Altersgenossen statt.
Fachpraktiker-Ausbildungen schaffen neue Sonderwelten und verhindern, dass junge Menschen mit Behinderung einen Zugang zum allgemeinen Arbeitsmarkt erhalten.
Tatsächlich finden Fachpraktiker-Ausbildungen bisher fast immer überbetrieblich statt. In speziellen Einrichtungen für junge Menschen mit Behinderung.
Außerdem werden Fachpraktiker bisher nur in wenigen Berufen ausgebildet.
In Hamburg bietet das Berufsbildungswerk in Eidelstedt folgende Fachpraktiker-Ausbildungen an:
Fachpraktiker für Metallbau,
Fachpraktiker für Holzbearbeitung,
Fachpraktiker im Gartenbau,
Fachpraktiker Maler und Lackierer,
Fachpraktiker Hauswirtschaft.
Die Auszubildenden werden überwiegend in Werkstätten des Berufsbildungswerks angeleitet.
Der Berufsschulunterricht findet direkt auf dem Gelände des Berufsbildungswerks statt. Und zwar in der beruflichen Schule Eidelstedt (BS 24), einer Berufsschule für junge Menschen mit besonderem Unterstützungsbedarf.
In dieser Form sind Fachpraktiker-Ausbildungen alles andere als inklusiv.
Gleichzeitig gibt es bislang keine Alternativen zur Fachpraktiker-Ausbildung.
Die Fachpraktiker-Ausbildung ist zur Zeit die einzige anerkannte Ausbildungsform für junge Menschen, die wegen einer Behinderung keine Regel-Ausbildung in einem anerkannten Ausbildungsberuf schaffen.
Daher habe ich mir die gesetzlichen Vorgaben für eine Fachpraktiker-Ausbildung einmal etwas näher angeschaut.
Das wichtigste vorweg:
Das Berufsbildungsgesetz schreibt vor, dass junge Menschen vorrangig in einem staatlich anerkannten Ausbildungsberuf ausgebildet werden sollen. Unabhängig davon, ob sie behindert sind oder nicht.
Behinderungsbedingte Nachteile sollen durch angemessene Nachteilsausgleiche ausgeglichen werden.
Nur wenn aufgrund der Art und Schwere einer Behinderung nicht alle inhaltlichen Anforderungen einer Regel-Ausbildung erfüllt werden können, dürfen junge Menschen zum Fachpraktiker ausgebildet werden.
Der Fachpraktiker ist also keine Regel-Ausbildung. Sondern eine Sonderform der Ausbildung.
Gedacht ist die Fachpraktiker-Ausbildung vor allem für Menschen mit kognitiven Einschränkungen.
Angepasst an deren individuellen Fähigkeiten sollen die theoretischen Inhalte einer Regel-Ausbildung reduziert und praktische Tätigkeiten stärker gewichtet werden.
Die Inhalte der Fachpraktiker-Ausbildung sollen aus den Inhalten anerkannter Ausbildungsberufe abgeleitet werden.
So orientiert sich zum Beispiel die Ausbildung zum Fachpraktiker im Garten- und Landschaftsbau an der Ausbildungsverordnung zum Garten- und Landschaftsbauer.
Auch sind Lage und Entwicklung des allgemeinen Arbeitsmarktes bei der Einführung einer neuen Fachpraktiker-Ausbildung zu berücksichtigen.
Theoretisch ist eine Fachpraktiker-Ausbildung in jedem anerkannten Ausbildungsberuf möglich.
Ziel der Fachpraktiker-Ausbildung ist der Erwerb beruflicher Handlungsfähigkeit.
Das heißt: Dem Auszubildenden sollen berufliche Fertigkeiten, Kenntnisse und Fähigkeiten vermittelt werden, die er für die Ausübung einer qualifizierten beruflichen Tätigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt braucht.
So soll zum Beispiel der Fachpraktiker im Garten- und Landschaftsbau so ausgebildet werden, dass er später unter fachlicher Anleitung eigenständig in Gärten, Parks, auf Baustellen oder auf Friedhöfen arbeiten kann.
Der Zugang zu einer Fachpraktiker-Ausbildung ist genau geregelt.
Nötig sind:
eine Bescheinigung der Agentur für Arbeit, dass Art und Schwere der Behinderung eine theoriereduzierte Ausbildung gemäß § 66 Berufsbildungsgesetz (beziehungsweise Paragraf 42m der Handwerksordnung) erforderlich machen. Festgestellt durch eine ausführliche berufspsychologische Untersuchung.
ein Ausbildungsplatz.
Liegt beides vor, muss bei der zuständigen Kammer ein Antrag auf eine Fachpraktiker-Ausbildung gestellt werden.
In der Regel ist das die Handwerkskammer, die Industrie- und Handelskammer oder die Landwirtschaftskammer.
Sind die Voraussetzungen für eine Fachpraktiker-Ausbildung gegeben, ist die Kammer verpflichtet, besondere Ausbildungsregelungen für den behinderten Antragsteller zu erlassen.
Orientiert an speziellen Empfehlungen des Hauptausschusses des Bundesinstituts für Berufsbildung (BIBB). Um auch Fachpraktiker-Ausbildungen einheitlicher und vergleichbarer zu machen.
Abschließend trägt die Kammer den Ausbildungsvertrag des behinderten Antragstellers in das Verzeichnis der Berufsausbildungsverhältnisse ein.
Die Fachpraktiker-Ausbildung dauert meist drei Jahre.
Gegenstand der Ausbildung sind die von der Kammer im Ausbildungsrahmenplan festgelegten Fertigkeiten, Kenntnisse und Fähigkeiten.
Je nach Behinderung oder Ausbildungsort sind Abweichungen davon möglich.
Am Ende seiner Ausbildung hat der Auszubildende eine Abschlussprüfung abzulegen. Vor der zuständigen Kammer.
Fachpraktiker sollen vorrangig in Betrieben ausgebildet werden.
So wie junge Menschen in Regel-Ausbildungen auch.
Hier ist das Berufsbildungsgesetz sehr klar.
Allerdings: Betriebliche Fachpraktiker-Ausbildung gibt es bisher nur äußerst selten.
Dabei lassen sich Auszubildende zum Fachpraktiker inzwischen gut über Arbeitsassistenzen unterstützen. Sowohl vor Ort im Betrieb wie auch in der Berufsschule.
Betriebliche Fachpraktiker-Ausbildungen bieten jungen Menschen mit kognitiven Einschränkungen die Möglichkeit, trotz ihrer Behinderung von Anfang an am ersten Arbeitsmarkt teilzuhaben.
Und sie vergrößern deren Chance, auf Dauer auf dem ersten Arbeitsmarkt Fuß zu fassen.
Es zeigt sich:
Eine ausführliche Auseinandersetzung mit der Fachpraktiker-Ausbildung lohnt!
Daher sollte die Fachpraktiker-Ausbildung nicht vorschnell als exklusiv abgestempelt werden.
Ohne Zweifel: Überbetriebliche Fachpraktiker-Ausbildungen in speziellen Einrichtungen für junge Menschen mit Behinderung sind exklusiv und verhindern einen direkten Zugang zum allgemeinen Arbeitsmarkt.
Allerdings hat die Fachpraktiker-Ausbildung durchaus inklusives Potential:
Sie ermöglicht einem jungen Menschen mit Behinderung eine anerkannte berufliche Qualifizierung, wenn wegen Art und Schwere seiner Behinderung eine Regel-Ausbildung mit Nachteilsausgleich nicht in Frage kommt.
Sie ermöglicht eine individualisierte Form der Ausbildung, angepasst an die Fähigkeiten und Stärken des Auszubildenden.
Wichtig ist es, Fachpraktiker viel stärker als bisher direkt vor Ort auszubilden. Nämlich in Betrieben des ersten Arbeitsmarktes.
So können junge Menschen mit Behinderung bereits von Anfang an teilhaben am allgemeinen Arbeitsmarkt. So wie Menschen ohne Behinderung auch.
Dort, wo eine überbetriebliche Ausbildung erforderlich ist, sollten junge Menschen mit und ohne Behinderung gemeinsam ausgebildet werden. Und zwar sowohl in Regel-Berufen wie auch als Fachpraktiker.
Auch die Berufsschule sollten Auszubildende mit und ohne Behinderung gemeinsam besuchen. Ermöglicht durch einen differenzierenden Unterricht.
Schließlich müssen Fachpraktiker-Ausbildungen in allen anerkannten Ausbildungsberufen möglich werden. Denn auch ein junger Mensch mit Behinderung hat das Recht, seinen Beruf frei zu wählen.
Die Fachpraktiker-Ausbildung als individualisierte Form der Ausbildung innerhalb des Regelsystems, orientiert an den Potentialen und Fähigkeiten eines jungen Menschen mit Behinderung – in diese Richtung lohnt es sich weiterzudenken!
Vor 10 Jahren wurde in Hamburg die schulische Inklusion eingeführt.
Nun – 10 Jahre später – verlassen die ersten inklusiv beschulten Jugendlichen mit Behinderung die Regelschulen.
Wie geht es für sie weiter? Wie sieht ihre berufliche Zukunft aus? Welche Berufe wollen und können sie ergreifen? Wer hilft ihnen bei Berufswahl und Ausbildung?
Die UN-Behindertenrechtskonvention benennt klar und deutlich, wie inklusive Arbeit und Berufsbildung aussehen sollen:
Alle Menschen haben das Recht auf frei gewählte und gerecht bezahlte Arbeit, damit sie ihren Lebensunterhalt selbst verdienen können.
Um dieses Recht zu verwirklichen, müssen Arbeitsmarkt und Arbeitsumfeld inklusiv gestaltet und auch für Menschen mit Behinderung zugänglich sein.
Entscheidend für den späteren Berufsweg eines Menschen sind schulische und berufliche Bildung.
An ein inklusives Schulwesen muss sich ein inklusives Ausbildungswesen anschließen.
Berufsorientierung und Berufsvorbereitung sind inklusiv zu gestalten.
Menschen mit und ohne Behinderung sollen gemeinsam in Betrieben oder Schulen/Hochschulen ausgebildet werden.
Alle anerkannten Berufe sollen auch für Menschen mit Behinderung zugänglich sein. Wo nötig, müssen unterstützende individuelle Vorkehrungen getroffen werden.
Sonderausbildungen für Menschen mit Behinderung müssen abgeschafft werden.
Anstatt auf Gleichbehandlungsgebote und gleiche Leistungsanforderungen zu drängen, sollen Kreativität und Vielfalt gestärkt werden.
Ausgehend von diesen Punkten frage ich:
Wie inklusiv ist die berufliche Bildung in Hamburg inzwischen aufgestellt?
Im Juli hat unser behindertes Kind die Stadtteilschule ohne Abschluss beendet.
Eigentlich wollte es im Anschluss mit einer betrieblichen Ausbildung starten – so wie seine besten (nicht-behinderten) Freunde auch.
Doch während diese die Ausbildung längst begonnen haben, wartet unser Kind weiterhin auf eine klare, verlässliche Ausbildungsperspektive.
Dabei hat unser Kind ein Ausbildungsangebot – von einer Firma, in der es Praktikum gemacht hat und in der es seit drei Monaten erfolgreich jobbt.
Die Firma ist so zufrieden mit der Arbeit unseres Kindes, dass sie ihm die Möglichkeit zur Qualifizierung bieten möchte.
Die Firma weiß: Aufgrund seiner Behinderung schafft unser Kind keine reguläre Vollausbildung. Aber sie ist offen für alternative, inklusive Ausbildungswege.
Das Problem: Auch 13 Jahre nach Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention fehlen in Deutschland Vorgaben und Beispiele für eine inklusive Berufsausbildung.
Das Berufsbildungsgesetz (BBiG) legt fest, dass Menschen mit Behinderung vorrangig in einem anerkannten Ausbildungsberuf ausgebildet und die Verhältnisse behinderter Menschen berücksichtigt werden sollen (§ 65). Dies deckt sich mit den Forderungen der UN-Behindertenrechtskonvention.
Für Jugendliche, die aufgrund der Art und Schwere ihrer Behinderung keine reguläre Ausbildung schaffen, sieht das Berufsbildungsgesetz theoriereduzierte Fachpraktiker-Ausbildungen vor (§ 66). Bereits hier wird es problematisch.
Denn: Durch Fachpraktiker-Ausbildungen werden neue Sonderwelten für junge Menschen mit Behinderung geschaffen. Die Ausbildungen finden in speziellen Berufsschulen und überwiegend überbetrieblich statt. Der Beruf des Fachpraktikers ist ausschließlich für Menschen mit Behinderung gedacht und von Beginn an mit einer geringeren Entlohnung verbunden als bei regulären Berufen.
Hinzu kommt, dass Fachpraktiker-Ausbildungen zwar theoriereduziert, aber nicht individualisiert angelegt sind. Ausgehend von der Vorstellung, Leistungen vergleichbar machen zu müssen, setzen Fachpraktiker-Ausbildungen ein festgelegtes Maß an Wissen und Fähigkeiten voraus. Das heißt: Ein junger Mensch mit Behinderung muss sich an die Leistungsanforderungen der Ausbildung anpassen. Die Anpassung der Ausbildung an die individuellen Fähigkeiten und Bedürfnisse eines behinderten Menschen ist nicht möglich. Dadurch werden viele junge Menschen mit Lernbehinderung oder geistiger Behinderung von Fachpraktiker-Ausbildungen ausgeschlossen.
Für junge Menschen, die aufgrund ihrer Behinderung weder eine Vollausbildung noch eine Fachpraktiker-Ausbildung schaffen, bietet das Berufsbildungsgesetz die Möglichkeit, Qualifizierungsbausteine zu erwerben (§ 69).
Aufgabe von Qualifizierungsbausteinen ist es, „Grundlagen für den Erwerb beruflicher Handlungsfähigkeit“ zu vermitteln. Übersetzt heißt dies: Qualifizierungsbausteine sollen junge Menschen mit Beeinträchtigungen soweit fit machen, dass sie im Anschluss doch noch eine Ausbildung schaffen.
Der Erwerb von Qualifizierungsbausteinen ist auf berufliche Ausbildungsvorbereitungs-Maßnahmen begrenzt. Diese finden ausschließlich überbetrieblich in Sondereinrichtungen wie Werkstätten für behinderte Menschen statt. Erworbene Qualifikationen lassen sich nicht auf eine anschließende Ausbildung anrechnen.
Auch Qualifizierungsbausteine sind an einen festgelegten Leistungskatalog geknüpft. Wenn ein junger Mensch mit Behinderung nicht alle Anforderungen eines Qualifizierungsbausteins erfüllt, bleibt er auch hier bei der Qualifizierung außen vor.
Erschwerend kommt hinzu: Es ist äußerst aufwendig, normierte Vorgaben für Fachpraktiker-Ausbildungen und Qualifizierungsbausteine zu erstellen. Daher gibt es bisher nur eine sehr begrenzte Zahl an Berufen, in denen Fachpraktiker-Ausbildungen oder der Erwerb von Qualifizierungsbausteinen möglich sind. In Hamburg werden derzeit nur 5 (!) Fachpraktiker-Ausbildungen angeboten. Während nicht-behinderte junge Menschen zwischen vielen unterschiedlichen Berufen wählen können, ist behinderten Menschen eine echte Berufswahl somit nicht möglich.
Was bedeutet das für unser Kind mit Behinderung?
Zwar hat ein Betrieb unserem Kind eine Ausbildung in seinem Wunsch-Beruf angeboten. Trotzdem kann es diese Chance nicht nutzen, da es für diesen Beruf keine Fachpraktiker-Ausbildung gibt.
Selbst wenn es eine Fachpraktiker-Ausbildung für diesen Beruf gäbe, wäre es nicht sicher, ob unser Kind die dafür festgelegten theoretischen Anforderungen erfüllen könnte.
Qualifizierungsbausteine gibt es für den Wunsch-Beruf unseres Kindes ebenfalls nicht.
Es ist also völlig egal, wie gut sich unser Kind in der praktischen Arbeit vor Ort in seinem Wunsch-Beruf macht. So wie es zur Zeit aussieht, hat es nur eine einzige Perspektive: die Arbeit als Ungelernter in seinem Wunsch-Beruf.
Gleich zu Anfang seines Berufslebens erfahren zu müssen, dass man aufgrund seiner Behinderung keine Chance auf eine Berufsausbildung hat, ist hart und diskriminierend.Es verhindert eine gleichberechtigte soziale Teilhabe und verstößt gegen das Menschenrecht auf frei gewählte und gerecht bezahlte Arbeit.
Das Deutsche Institut für Menschenrechte hat 2020 in seinem 5. Bericht zur Entwicklung der Menschenrechtssituation in Deutschlandklargestellt:
Fachpraktiker-Ausbildungen sind exklusiv und stigmatisierend.
Durch Fachpraktiker-Ausbildungen werden junge Menschen mit Behinderung anders behandelt als junge Menschen ohne Behinderung. Ihre Leistungen werden als nicht ausreichend betrachtet. Ihre Ausbildung findet getrennt von der ihrer Altersgenossen statt.
Fachpraktiker-Ausbildungen schaffen neue Sonderwelten und verhindern, dass junge Menschen mit Behinderung einen Zugang zum ersten Arbeitsmarkt erhalten.
Dies lässt sich 1:1 auf eine Ausbildung über Qualifizierungsbausteine übertragen.