Wie inklusiv sind Fachpraktiker-Ausbildungen?

Unser großes Kind mit Behinderung sagt:

„Ich brauche eine Berufsausbildung. Damit ich auf dem 1. Arbeitsmarkt arbeiten kann.“

Eine Arbeit auf dem ersten Arbeitsmarkt ist unserem Kind sehr wichtig.

Damit es ausreichend Geld verdient.

Um sich selbst zu finanzieren. Um unabhängig zu sein.

Und um in eine eigene Wohnung ziehen zu können.

Tatsächlich ist es in Deutschland für Menschen ohne abgeschlossene Ausbildung kaum möglich, auf Dauer erfolgreich am ersten Arbeitsmarkt teilzuhaben.

Allerdings ist es unserem Kind aufgrund seiner Behinderung nicht möglich, alle inhaltlichen Anforderungen an eine Ausbildung in einem staatlich anerkannten Beruf zu erfüllen.

In so einem Fall bietet das Berufsbildungsgesetz in Paragraf 66 (entsprechend dazu Handwerksordnung, Paragraf 42m) die Möglichkeit einer theoriereduzierten Fachpraktiker-Ausbildung.

Fachpraktiker-Ausbildungen sind gerade sehr umstritten.

Das Deutsche Institut für Menschenrechte hat 2020 in seinem 5. Bericht zur Entwicklung der Menschenrechts-Situation in Deutschland geschrieben:

  • Fachpraktiker-Ausbildungen sind exklusiv und stigmatisierend.
  • Durch Fachpraktiker-Ausbildungen werden junge Menschen mit Behinderung anders behandelt als junge Menschen ohne Behinderung. Ihre Leistungen werden als nicht ausreichend betrachtet. Ihre Ausbildung findet getrennt von der ihrer Altersgenossen statt.
  • Fachpraktiker-Ausbildungen schaffen neue Sonderwelten und verhindern, dass junge Menschen mit Behinderung einen Zugang zum allgemeinen Arbeitsmarkt erhalten.
In der Mitte des Bildes steht "Human Rights". Darum herum sind viele bunte Handflächen einschließlich Handgelenken bzw. Unterarmen gezeichnet.

Tatsächlich finden Fachpraktiker-Ausbildungen bisher fast immer überbetrieblich statt. In speziellen Einrichtungen für junge Menschen mit Behinderung.

Außerdem werden Fachpraktiker bisher nur in wenigen Berufen ausgebildet.

In Hamburg bietet das Berufsbildungswerk in Eidelstedt folgende Fachpraktiker-Ausbildungen an:

  • Fachpraktiker für Metallbau,
  • Fachpraktiker für Holzbearbeitung,
  • Fachpraktiker im Gartenbau,
  • Fachpraktiker Maler und Lackierer,
  • Fachpraktiker Hauswirtschaft.

Die Auszubildenden werden überwiegend in Werkstätten des Berufsbildungswerks angeleitet.

Der Berufsschulunterricht findet direkt auf dem Gelände des Berufsbildungswerks statt. Und zwar in der beruflichen Schule Eidelstedt (BS 24), einer Berufsschule für junge Menschen mit besonderem Unterstützungsbedarf.

In dieser Form sind Fachpraktiker-Ausbildungen alles andere als inklusiv.

Gleichzeitig gibt es bislang keine Alternativen zur Fachpraktiker-Ausbildung.

Die Fachpraktiker-Ausbildung ist zur Zeit die einzige anerkannte Ausbildungsform für junge Menschen, die wegen einer Behinderung keine Regel-Ausbildung in einem anerkannten Ausbildungsberuf schaffen.

Daher habe ich mir die gesetzlichen Vorgaben für eine Fachpraktiker-Ausbildung einmal etwas näher angeschaut.

Das wichtigste vorweg:

Das Berufsbildungsgesetz schreibt vor, dass junge Menschen vorrangig in einem staatlich anerkannten Ausbildungsberuf ausgebildet werden sollen. Unabhängig davon, ob sie behindert sind oder nicht.

Behinderungsbedingte Nachteile sollen durch angemessene Nachteilsausgleiche ausgeglichen werden.

Nur wenn aufgrund der Art und Schwere einer Behinderung nicht alle inhaltlichen Anforderungen einer Regel-Ausbildung erfüllt werden können, dürfen junge Menschen zum Fachpraktiker ausgebildet werden.

Der Fachpraktiker ist also keine Regel-Ausbildung. Sondern eine Sonderform der Ausbildung.

Gedacht ist die Fachpraktiker-Ausbildung vor allem für Menschen mit kognitiven Einschränkungen.

Angepasst an deren individuellen Fähigkeiten sollen die theoretischen Inhalte einer Regel-Ausbildung reduziert und praktische Tätigkeiten stärker gewichtet werden.

Die Inhalte der Fachpraktiker-Ausbildung sollen aus den Inhalten anerkannter Ausbildungsberufe abgeleitet werden.

So orientiert sich zum Beispiel die Ausbildung zum Fachpraktiker im Garten- und Landschaftsbau an der Ausbildungsverordnung zum Garten- und Landschaftsbauer.

Auch sind Lage und Entwicklung des allgemeinen Arbeitsmarktes bei der Einführung einer neuen Fachpraktiker-Ausbildung zu berücksichtigen.

Theoretisch ist eine Fachpraktiker-Ausbildung in jedem anerkannten Ausbildungsberuf möglich.

Ziel der Fachpraktiker-Ausbildung ist der Erwerb beruflicher Handlungsfähigkeit.

Das heißt: Dem Auszubildenden sollen berufliche Fertigkeiten, Kenntnisse und Fähigkeiten vermittelt werden, die er für die Ausübung einer qualifizierten beruflichen Tätigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt braucht.

So soll zum Beispiel der Fachpraktiker im Garten- und Landschaftsbau so ausgebildet werden, dass er später unter fachlicher Anleitung eigenständig in Gärten, Parks, auf Baustellen oder auf Friedhöfen arbeiten kann.

Der Zugang zu einer Fachpraktiker-Ausbildung ist genau geregelt.

Nötig sind:

  • eine Bescheinigung der Agentur für Arbeit, dass Art und Schwere der Behinderung eine theoriereduzierte Ausbildung gemäß § 66 Berufsbildungsgesetz (beziehungsweise Paragraf 42m der Handwerksordnung) erforderlich machen. Festgestellt durch eine ausführliche berufspsychologische Untersuchung.
  • ein Ausbildungsplatz.

Liegt beides vor, muss bei der zuständigen Kammer ein Antrag auf eine Fachpraktiker-Ausbildung gestellt werden.

In der Regel ist das die Handwerkskammer, die Industrie- und Handelskammer oder die Landwirtschaftskammer.

Sind die Voraussetzungen für eine Fachpraktiker-Ausbildung gegeben, ist die Kammer verpflichtet, besondere Ausbildungsregelungen für den behinderten Antragsteller zu erlassen.

Orientiert an speziellen Empfehlungen des Hauptausschusses des Bundesinstituts für Berufsbildung (BIBB). Um auch Fachpraktiker-Ausbildungen einheitlicher und vergleichbarer zu machen.

Abschließend trägt die Kammer den Ausbildungsvertrag des behinderten Antragstellers in das Verzeichnis der Berufsausbildungsverhältnisse ein.

Die Fachpraktiker-Ausbildung dauert meist drei Jahre.

Gegenstand der Ausbildung sind die von der Kammer im Ausbildungsrahmenplan festgelegten Fertigkeiten, Kenntnisse und Fähigkeiten.

Je nach Behinderung oder Ausbildungsort sind Abweichungen davon möglich.

Am Ende seiner Ausbildung hat der Auszubildende eine Abschlussprüfung abzulegen. Vor der zuständigen Kammer.

Fachpraktiker sollen vorrangig in Betrieben ausgebildet werden.

So wie junge Menschen in Regel-Ausbildungen auch.

Hier ist das Berufsbildungsgesetz sehr klar.

Allerdings: Betriebliche Fachpraktiker-Ausbildung gibt es bisher nur äußerst selten.

Dabei lassen sich Auszubildende zum Fachpraktiker inzwischen gut über Arbeitsassistenzen unterstützen. Sowohl vor Ort im Betrieb wie auch in der Berufsschule.

Betriebliche Fachpraktiker-Ausbildungen bieten jungen Menschen mit kognitiven Einschränkungen die Möglichkeit, trotz ihrer Behinderung von Anfang an am ersten Arbeitsmarkt teilzuhaben.

Und sie vergrößern deren Chance, auf Dauer auf dem ersten Arbeitsmarkt Fuß zu fassen.

Es zeigt sich:

Eine ausführliche Auseinandersetzung mit der Fachpraktiker-Ausbildung lohnt!

Daher sollte die Fachpraktiker-Ausbildung nicht vorschnell als exklusiv abgestempelt werden.

Ohne Zweifel: Überbetriebliche Fachpraktiker-Ausbildungen in speziellen Einrichtungen für junge Menschen mit Behinderung sind exklusiv und verhindern einen direkten Zugang zum allgemeinen Arbeitsmarkt.

Allerdings hat die Fachpraktiker-Ausbildung durchaus inklusives Potential:

  • Sie ermöglicht einem jungen Menschen mit Behinderung eine anerkannte berufliche Qualifizierung, wenn wegen Art und Schwere seiner Behinderung eine Regel-Ausbildung mit Nachteilsausgleich nicht in Frage kommt.
  • Sie ermöglicht eine individualisierte Form der Ausbildung, angepasst an die Fähigkeiten und Stärken des Auszubildenden.

Wichtig ist es, Fachpraktiker viel stärker als bisher direkt vor Ort auszubilden. Nämlich in Betrieben des ersten Arbeitsmarktes.

So können junge Menschen mit Behinderung bereits von Anfang an teilhaben am allgemeinen Arbeitsmarkt. So wie Menschen ohne Behinderung auch.

Dort, wo eine überbetriebliche Ausbildung erforderlich ist, sollten junge Menschen mit und ohne Behinderung gemeinsam ausgebildet werden. Und zwar sowohl in Regel-Berufen wie auch als Fachpraktiker.

Auch die Berufsschule sollten Auszubildende mit und ohne Behinderung gemeinsam besuchen. Ermöglicht durch einen differenzierenden Unterricht.

Schließlich müssen Fachpraktiker-Ausbildungen in allen anerkannten Ausbildungsberufen möglich werden. Denn auch ein junger Mensch mit Behinderung hat das Recht, seinen Beruf frei zu wählen.

Die Fachpraktiker-Ausbildung als individualisierte Form der Ausbildung innerhalb des Regelsystems, orientiert an den Potentialen und Fähigkeiten eines jungen Menschen mit Behinderung – in diese Richtung lohnt es sich weiterzudenken!


Zum Nach- und Weiterlesen:

Doreen Kalina: Inklusive Berufsausbildung im Berufsbildungsrecht (2020)

Deutsches Institut für Menschenrechte: Junge Menschen mit Behinderungen: anerkannte Berufsausbildung statt Sonderwege (2020)

Deutsches Institut für Menschenrechte: Das Recht auf Arbeit für Menschen mit Behinderungen verwirklichen (2018)

Kirsten Vollmer: Inklusion kontovers – Schlaglichter auf Diskussionspunkte
in der Beruflichen Bildung (2020)


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