Für unser inzwischen nicht mehr kleines Kind beginnt demnächst der Ernst des Lebens: Arbeit und Ausbildung stehen an.
Unser Kind ist da für sich bereits schon ganz schön klar. Seit dem Frühjahr ist es dabei, Praktika zu machen. Mit Erfolg.
Seine bisherigen Praktikums-Zeugnisse zeigen: Es ist zuverlässig, motiviert, packt mit an und kommt gut mit Mitarbeitern und Kunden klar.
Außerdem : Nach jedem Praktikum weiß unser Kind besser, was es möchte und was nicht.
Ich dagegen sehe gerade alles andere als klar.
Unser Kind hat eine anerkannte Schwerbehinderung und keinen Schulabschluss.
Das sei nicht so schlimm, hörte ich vor einiger Zeit. Hamburg sei sehr gut aufgestellt, was Arbeits- und Ausbildungsmöglichkeiten für junge Menschen mit Behinderung angehe.
Das ist wahrscheinlich richtig – wenn frau denn erst mal durchsteigt.
Bisher hatte ich gedacht, nach zehn Jahren Erfahrung mit schulischer Inklusion gibt es nichts mehr, was komplizierter sein könnte.
Ich befürchte gerade, da war ich etwas voreilig.
Also, was ich bereits kenne und weiß:
Es gibt den ersten und den zweiten Arbeitsmarkt.
Zum zweiten Arbeitsmarkt zählen die Werkstätten für Menschen mit Behinderung. Da hat unser Kind ein Praktikum gemacht. Seitdem weiß es, dass es auf dem ersten Arbeitsmarkt arbeiten möchte. Denn nur da verdient es ausreichend Geld zum Leben.
Dann gibt es betriebliche und überbetriebliche Ausbildungen.
Das ist für alle Jugendlichen gleich. Unser Kind strebt eine betriebliche Ausbildung an. Mit echten Aufträgen, echten Kollegen und echten Kunden.
Schließlich gibt es normale Berufsschulen, die inklusiv arbeiten. Und es gibt spezielle Berufsschulen ausschließlich für Jugendliche mit Behinderung.
Was ich bisher noch nicht wusste:
Je nach Fähigkeiten und Kompetenzen eines Jugendlichen ist entweder die Jugend-Berufsagentur oder die Reha-Abteilung der Agentur für Arbeit für ihn zuständig.
Der Berufspsychologische Service der Agentur für Arbeit prüft die Zuständigkeit. Dazu wird eine Psychologische Eignungsuntersuchung (PSU) durchgeführt. Wenn nötig, erstellen Arbeitspsychologen weitere Gutachten.
Und: Für junge Menschen mit Behinderung gibt es verschiedeneMöglichkeiteneinerbegleiteten Ausbildung.
Spätestens hier wird es kompliziert.
Es beginnt damit, dass der Zugang zu den verschiedenen Unterstützungsmöglichkeiten an sehr viele unterschiedliche Voraussetzungen geknüpft ist.
So muss als erstes geklärt werden,
ob der Jugendliche mit Behinderung erwerbsfähig ist,
ob er ausbildungsfähig ist,
ob er eine Werkstattzugangsberechtigung hat oder
ob er über einen anerkannten Reha-Status verfügt.
Bereits an diesem Punkt verstehe ich bisher nur Bahnhof.
Aber ich werde mich weiter schlau machen und Sie auf dem Laufenden halten.
Im Januar wird die berufspsychologische Testung unseres Kindes durch die Agentur für Arbeit stattfinden.
MENSCHLICH. Leben mit Handicap. Eine Anzeigen-Sonderveröffentlichung.
Das Thema interessiert mich. Also fange ich an zu lesen.
Im ersten Artikel geht es um den „EinsatzimGrünen“. Vorgestellt wird die erfolgreiche Kooperation zwischen den Elbe-Werkstätten und der Firma Beiersdorf in Hamburg. Ein gelungenes Inklusions-Projekt, so heißt es da.
Trotzdem stört mich etwas an dem Artikel. Es dauert einen kurzen Moment, bis ich dahinter komme. Doch dann habe ich es.
An zwei Stellen im Artikel heißt es: „Verstärkung gewünscht!“
Zuerst werden Menschen mit Behinderung als Verstärkung für das Team gesucht. Angeboten werden abwechslungsreiche Arbeiten im Grünen und spannende Sondereinsätze. Und: Wenn die Arbeit nicht mehr gefällt, sind Wechsel in andere Projekte der Elbe-Werkstätten jederzeit möglich.
Dann werden Frauen und Männer als Verstärkung für das Team gesucht, die Lust haben, ihre handwerklichen Berufe mit einer pädagogischen Aufgabe zu verbinden. Ihnen wird angeboten: eine Beschäftigung mit Spaß und Sinn, vielen Gestaltungsmöglichkeiten, geregelten Arbeitszeiten und einer guten Bezahlung nach Tarif.
Sind bei letzteren auch Menschen mit Behinderung angesprochen? Ich bezweifle es.
Denn: Auf der Karriere-Seite der Elbe-Werkstätten im Internet gibt es „Stellenangebote für Menschen mit Behinderung“ und „tarifliche Stellenangebote“. Für letztere bleiben eigentlich nur noch Menschen ohne Behinderung übrig.
Was sich hier deutlich zeigt, ist das exklusive und längst nicht mehr zeitgemäße System von Behindertenwerkstätten in Deutschland:
Wegen ihrer vermeintlichen Einschränkungen werden Menschen mit Behinderung als besonders schutz- und hilfsbedürftig angesehen.
Aufgrund ihrer Behinderung können sie nicht die gleiche Arbeit leisten wie Menschen ohne Behinderung.
Also bietet ihnen die Behindertenwerkstatt einen Schonraum mit Rundumbetreuung und Beschäftigung an. Und mit einem durchschnittlichen Monatseinkommen von derzeit knapp 200 Euro. Das reicht nicht zum Leben.
Das ganze funktioniert, weil behinderte Menschen in Werkstätten per Gesetz keine Arbeitnehmer sind. Damit haben sie keinen Anspruch auf einen Mindestlohn.
Dies widerspricht der UN-Behindertenrechtskonvention.
Die UN-Behindertenrechtskonvention besagt in Artikel 27, dass Menschen mit Behinderung ein Rechtauf Arbeit haben.
Dieses Recht auf Arbeit schließt die Möglichkeit ein, den Lebensunterhalt durch Arbeit zu verdienen, die frei gewählt oder frei angenommen wird. Und zwar am besten bei öffentlichen und privaten Arbeitgebern auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt.
Nicht inklusive Beschäftigungsverhältnisse in Behindertenwerkstätten, so die UN-Behindertenrechtskonvention, sollen kontinuierlich abgebaut werden.
Was bedeutet das nun für den „Einsatz im Grünen“?
Der „Einsatz im Grünen“ ist kein gelungenes Inklusions-Projekt. Weil er an den exklusiven Beschäftigungsstrukturen von Behindertenwerkstätten festhält.
Wirklich inklusiv wird der „Einsatz im Grünen“ erst dann, wenn die Beschäftigten mit Behinderung für ihre Arbeit so entlohnt werden, dass sie davon leben können.
Noch inklusiver wird der Einsatz, wenn die Beschäftigten mit Behinderung einen Arbeitsvertrag mit Beiersdorf selbst oder einer „normalen“ Gartenbaufirma erhalten. Erst dann sind sie auch auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt beschäftigt.
Meine Wünsche für eine „Inklusionsmetropole“ Hamburg:
Eine Entlohnung für Menschen mit Behinderung, die den Lebensunterhalt sichert
Ausbau von Arbeitsplätzen für Menschen mit Behinderung auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt
Schrittweise Auflösung des exklusiven Sondersystems Behindertenwerkstätten
In Hamburg ist es seit Einführung der Inklusion 2012 nicht gelungen, die Anzahl der Beschäftigten mit Behinderung in den Elbe-Werkstätten spürbar zu reduzieren.
Quellen: Hamburgs öffentliche Unternehmen. Beteiligungsberichte 2011-2013; Elbe Werkstätten Hamburg GmbH: Konzernabschluss und Konzernlagebericht 2015 sowie 2017; Elbe Werkstätten Hamburg GmbH: Jahresabschluss und Lagebericht für die Jahre 2018 und 2019