Den meisten Kindern mit FASD sieht man ihre Behinderung von außen nicht an. Sie verfügen über eine große sprachliche Kompetenz. Im direkten Umgang sind sie freundlich, motiviert und zugewandt. Und dennoch haben fast alle von ihnen gravierende Probleme in der Schule. Woran liegt das?
Bedingt durch die vorgeburtliche Schädigung von Gehirn und Nervensystem können sich Kinder mit FASD nur schwer konzentrieren, vergessen viele Dinge, sind unruhig und impulsiv.
Vielen fehlt ein genaues Verständnis von Zeit und Raum.
Das Verhalten ihrer Mitmenschen können Kinder mit FASD ebenso schwer einschätzen wie Gefahren. Daher sind sie äußerst leicht verführbar.
Aus Erfahrungen können sie nicht lernen, ihre Handlungsplanung ist stark eingeschränkt.
Aufgaben können sie nur bewältigen, wenn diese in viele kleine Arbeitsschritte eingeteilt sind.
Überdies zeigen viele Kinder mit FASD Entwicklungsverzögerungen, Teilleistungsschwächen und Lernschwierigkeiten.
Von außen ganz normal wirkend und sprachlich kompetent, werden Kinder mit FASD von ihrer Umwelt regelmäßig überschätzt. Das gilt ganz besonders für die Schule. Hier geraten Kinder mit FASD immer wieder in Überforderungssituationen, auf die sie äußerst heftig reagieren können, sei es mit wüsten verbalen Beschimpfungen, körperlichen Angriffen auf Lehrer und Mitschüler oder einer völligen Verweigerung.
Dieses „auffällige Verhalten“ wird von Seiten der Schule (zu) häufig als schlechtes Benehmen, Widerspenstigkeit oder Faulheit fehlinterpretiert und entsprechend sanktioniert, was eine erneute Überforderung der Kinder zur Folge hat.
Diese „Teufelskreise“ lassen sich nur dadurch aufbrechen, indem die Schule die Bedürfnisse von Kindern mit FASD erkennt und Unterricht und Schulalltag daran anpasst. Dazu ist es nötig, FASD als eine lebenslange organische Behinderung zu begreifen, die eine spezielle sonderpädagogische Förderung nötig macht.
Mein Wunsch für eine „Inklusionsmetropole Hamburg“: Anerkennung eines speziellen sonderpädagogischen Förderbedarfs bei Kindern und Jugendlichen mit FASD !
Im Oktober 2009 beschloss die Hamburgische Bürgerschaft einstimmig eine Änderung des Hamburgischen Schulgesetzes. Seitdem haben alle Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf in Hamburg einen Rechtsanspruch auf den Besuch einer allgemeinen Schule.
Im März 2012 stellte der Hamburgische Senat sein „Konzept für inklusive Bildung“ vor. Damit wurde ein erster wichtiger Schritt eingeleitet auf dem Weg zu einer inklusiven Schule für alle, wie sie Artikel 24 der UN-Behindertenrechtskonvention fordert.
Die bisherigen Förder- (früher Lernbehinderten-) und Sprachheilschulen wurden aufgelöst. Gemeinsam mit den Regionalen Beratungs- und Unterstützungsstellen REBUS ( für besonders verhaltensauffällige Schülerinnen und Schüler) wurden sie zu 13 neuen Regionalen Bildungs- und Beratungszentren (ReBBZ) zusammengeschlossen.
Gleichzeitig wurden die an einigen allgemeinen Schulen bestehenden integrierten Regelklassen abgeschafft. Alle Klassen an allgemeinen Schulen sind seitdem für Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf in den Bereichen Lernen, Sprache und/oder emotionale-soziale Entwicklung geöffnet.
Die speziellen Sonderschulen für Kinder mit Behinderung in den Bereichen Hören, Sehen, geistige Entwicklung und körperlich-motorische Entwicklung blieben weiter bestehen. Schülerinnen und Schüler mit speziellem Förderbedarf in diesen Bereichen haben allerdings seitdem die Möglichkeit, anstelle einer Sonderschule eine allgemeine Schwerpunktschule zu besuchen.
Mit diesen 2009 und 2012 getroffenen Regelungen vollzog Hamburg einen beeindruckenden Start in die von der UN-Behindertenrechtskonvention geforderte schulische Inklusion. Seitdem gilt Hamburg als Vorreiter eines inklusiven Schulwesens in Deutschland.
Inzwischen schreiben wir das Jahr 2021. Wo steht Hamburg in Sachen schulische Inklusion heute?
Nach dem beeindruckenden Start vor mehr als 10 Jahren ist Ernüchterung eingetreten. Nach wie vor dominiert die Segregation Hamburgs Bildungssystem:
Sonderschulen bestehen nicht nur weiterhin, sondern verzeichnen seit einigen Jahren wieder steigende Schülerzahlen.
Die alten Förderschulen sind über die Hintertür zurückgekehrt und verbergen sich nun hinter der Bezeichnung ReBBZ Schulen. Hier stagnieren die Schülerzahlen, gehen nicht weiter zurück.
Quellen: Mitteilung des Senats an die Bürgerschaft: Bericht zum 4. Quartal 2020; Geschäftsbericht und Haushaltsrechnung für die Jahre 2017-2019, Haushalts- und Konzernrechnungen für die Jahre 2015-2016
Elternvertretung wurde von Beginn an nicht inklusiv gedacht: Die gesetzliche Elternvertretung der allgemeinen Schulen ist regional nach Schulkreisen in 15 Kreiselternräten (KER) organisiert. Parallel dazu gibt es den Kreiselternrat Hamburger Sonderschulen (KER SO) als gesetzliche Elternvertretung der Hamburger speziellen Sonderschulen sowie der Regionalen Bildungs- und Beratungszentren.
Die Verwaltungsstrukturen innerhalb der Behörde für Schule und Berufsbildung sind weiterhin auf Trennung ausgerichtet. Neben einer bezirklich organisierten Schulaufsicht für allgemeine Schulen gibt es eine Schulaufsicht spezielle Sonderschulen / Schulbegleitung sowie eine Schulaufsicht Regionale Bildungs-und Beratungszentren (ReBBZ) / Beratungszentrum Pädagogik bei Krankheit/Autismus (BBZ). Die Themen Inklusion und Sonderpädagogik werden im Referat Gestaltung und Unterrichtsentwicklung exklusiv in einer eigenen Abteilung gedacht.
Der 2019 von der Behörde für Schule und Berufsbildung vorgelegte Schulentwicklungsplan hat ausschließlich staatliche Grundschulen, Stadtteilschulen und Gymnasien in Hamburg im Blick. Für die speziellen Sonderschulen und die Regionalen Bildungs- und Beratungszentren sieht die Behörde eine gesonderte Planung vor.
In der öffentlichen Diskussion wird inzwischen wieder wie selbstverständlich von allgemeinen Schulen, Sonderschulen und Förderschulen gesprochen.
Fazit
Nach wie vor ist Hamburg weit entfernt von einem inklusiven Bildungssystem, wie es die UN-Behindertenrechtskonvention fordert.
Ziel der UN-Behindertenrechtskonvention ist ein inklusives Schulsystem für alle. Dies schließt eine Beibehaltung von unterschiedlichen Bildungssystemen in Form von allgemeinen Schulen, Sonderschulen und Förderschulen aus.
Die Politik in Hamburg ist aufgefordert, ein Zeichen zu setzen und konkrete Pläne für eine Zusammenführung von Sonderschulen, ReBBZ Schulen und Regelschulen zu erarbeiten.
Erste Schritte hierzu können sein:
die Zusammenführung parallel existierender Verwaltungsstrukturen (z. B. Allgemeine Schulaufsicht – Aufsicht Sonderschulen – Aufsicht ReBBZ),
eine gemeinsame Organisation der Eltern- und Schülerräte von Regel-, Sonder- und Förderschulen auf Kreisebene,
eine verbindliche Zusammenarbeit von Regel- und Sonderschulen.
Mein Wunsch für eine „Inklusionsmetropole Hamburg“: Erarbeitung eines konkreten Fahrplans für die Zusammenführung von Sonderschulen, ReBBZ und allgemeinen Schulen !
Corona hat Schule verändert. Im Lockdown fand Schule plötzlich digital zu Hause statt und nicht mehr in Präsenz im Klassenzimmer.
Die Schule unseres Kindes gehörte zu den Vorzeigeschulen in Hamburg. Relativ schnell waren alle Schülerinnen und Schüler mit digitalen Endgeräten ausgestattet. Der Schul-Server wurde genutzt, um Aufgaben und Arbeitsmaterialien zu übermitteln. Unterrichtsstunden fanden in Form von Zoomkonferenzen statt. Das war wirklich beeindruckend.
Allerdings: Der differenzierte Unterricht blieb auf der Strecke. Unser Kind saß vor dem Bildschirm und verstand kaum noch etwas. Das war nicht gut für das Selbstwertgefühl und auch nicht gut für die Stimmung.
Dabei bietet Digitalisierung gerade für die inklusive Bildung vielfältige Möglichkeiten:
Schüler*innen ohne eigene Lautsprache können über Apps mit anderen kommunizieren.
Schüler*innen mit Leseproblemen können sich über Smartphones und Tablets Texte vorlesen lassen.
Schüler*innen mit Schwierigkeiten im Schreiben können Texte diktieren.
Unterrichtsmaterialien lassen sich mi Hilfe von Apps gezielt auf individuelle Lernbedürfnisse zuschneiden. So lassen sich beispielsweise mit Book Creator Lernbücher erstellen, in denen Bilder, Filme oder Ton verschiedene Sinne ansprechen.
Eine nicht inklusiv gedachte Digitalisierung führt dagegen dazu, dass verschiedene Gruppen von Schülern erneut ausgegrenzt werden:
Schulplattformen wie I-Serv sind für Schüler*innen mit Lernschwierigkeiten ohne fremde Hilfe kaum zugänglich.
Aufgabenformate im digitalen Unterricht, die sich überwiegend auf Lesen und Schreiben beschränken, hängen Schüler*innen mit Migrationshintergrund ebenso ab wie Schüler*innen mit Leserechtschreibschwäche, mit Sehbehinderung oder kognitiven Einschränkungen.
Unter dem verstärkten Druck, die Lernziele eines Jahrgangs zu erreichen, finden Differenzierung und Individualisierung im Lernen kaum noch Raum.
Hamburg hat das Recht auf inklusive Bildung gesetzlich festgeschrieben. Damit dies auch in der Praxis gut gelingen kann, gilt es, Digitalisierung konsequent inklusiv zu denken und barrierefrei zu gestalten.
Mein Wunsch für eine „Inklusionsmetropole Hamburg“:Inklusive Bildung und Digitalisierung konsequent zusammen denken und umsetzen!
Frühjahr 2012, Schuleingangsuntersuchung im Gesundheitsamt Bergedorf
Nach der Untersuchung und Testung unseres sechsjährigen Pflegekindes teilte uns die zuständige Ärztin mit:
„Also, auf einer normalen Schule sehe ich ihr Kind nicht. Da kommt es nicht mit.
Auf der Sprachheilschule sehe ich es auch nicht. Dafür ist es sprachlich zu fit.
Auf der Sonderschule sehe ich es auch nicht. Dazu ist es nicht behindert genug.“
Die Förderschule war nach Einführung der Inklusion gerade aufgelöst. Die ging also auch nicht.
Ich fragte nach: „Auf welche Schule soll unser Kind denn dann? Schließlich gibt es in Deutschland eine allgemeine Schulpflicht.“
Die Ärztin reagierte mit einem Schulterzucken und antwortete:
„Ja, das weiß ich auch nicht.“
Frühjahr 2021
Seit drei Jahren wissen wir: Unser Pflegekind hat eine Fetale Alkohol-Spektrumstörung (FASD).
Bei seiner Einschulung 2012 haben wir uns für den inklusiven Weg entschieden. Nun liegen vier Jahre Grundschule und fünf Jahre Stadtteilschule hinter uns.
Viele tolle Lehrerinnen und Lehrer haben sich auf unser Kind eingelassen und tragfähige Bindungen zu ihm aufgebaut. Durch seine offene und zugewandte Art hat es sich einen festen Platz in der Klassengemeinschaft erobert. Seine Stärken werden gesehen. Ihm wird etwas zugetraut.
Allerdings:
Das Lernen ist auf der Strecke geblieben. Ein individualisierter Unterricht funktioniert bis heute nicht. Immer noch wissen Lehrerinnen und Lehrer zu wenig über die Behinderung unseres Kindes.
Regelmäßig müssen wir als Eltern mit dem Regionalen Bildungs- und Beratungszentrum und der Schulbehörde um eine ausreichende Unterstützung für unser Kind ringen. Die Schulbegleitung wurde jährlich gekürzt. Der Sonderpädagoge ist zu selten in der Klasse.
Unser Akku als Eltern ist so gut wie leer. Inzwischen geht es nur noch darum, das letzte Schuljahr an der Stadtteilschule so gut wie möglich hinter uns zu bringen. Für unser Kind wird das bedeuten, möglichst viele Praktika zu machen, während sich seine Klassenkameraden auf den ersten und zweiten Schulabschluss vorbereiten.
Fazit
Die passende Schule für unser Kind gibt es bis heute nicht.
Mein Wunsch für eine „Inklusionsmetropole Hamburg“:Ein inklusives Schulsystem, das sich den individuellen Bedürfnissen von Kindern und Jugendlichen mit Behinderung anpasst!