Gut zu kennen: die Ombudsstelle Inklusive Bildung

Eltern behinderter Kinder können ein Lied davon singen: Inklusive Bildung ist noch lange kein Selbstläufer. Anträge stellen, Gutachten einholen, sich immer wieder erklären, in Widerspruch gehen …

Gut ist es, wenn Eltern bei all dem Rat und Hilfe haben, zum Beispiel durch die Ombudsstelle Inklusive Bildung.

Auf dem Bild sieht man bunte Kieselsteine.

Seit 2012 gibt es in Hamburg die Ombudsstelle Inklusive Bildung. Sie ist angesiedelt am Schulinformationszentrum (SIZ) in der Hamburger Straße 125a.

In der Ombudsstelle arbeiten aktuell vier Ombudsfrauen und ein Ombudsmann, nämlich Petra Demmin, Karin Limmer, Renate Wiegandt, Birgit Zeidler und Andreas Heintze.

Sie sind ehemalige Lehrerinnen und Lehrer und haben in verantwortungsvollen Funktionen in der Schule und in der Schulbehörde gearbeitet.

Jetzt sind sie im Ruhestand und ehrenamtlich für die Ombudsstelle tätig.

Die Ombudsstelle inklusive Bildung hat folgende Aufgaben:

  • Sie hilft und unterstützt bei Fragen zur pädagogischen und sonderpädagogischen Förderung.

  • Sie berät Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf und deren Eltern oder Sorgeberechtigten.

  • Sie unterstützt Eltern und Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf bei Konflikten und schulischen Widerspruchsverfahren.

Als Mutter eines schulpflichtigen Kindes mit FASD habe ich regelmäßig mit der Ombudsstelle zu tun.

Das Bild zeigt einen Fuß in einem roten Turnschuh.

Was ich an den Frauen und Männern der Ombudsstelle besonders schätze:

  • Für sie steht das Wohl von Kindern und Jugendlichen im Vordergrund.
  • Für sie bleiben Kinder und Jugendliche keine bloßen Namen. Sie gehen vor Ort in die Schulen und machen sich selbst ein Bild.
  • Die Frauen und Männer der Ombudsstelle verfügen über langjährige Erfahrung in Sachen schulischer Inklusion und sind sehr gut vernetzt.
  • Die Ombudsleute können Eltern und Sorgeberechtigte bei Gesprächen mit Lehrkräften, Förderkoordinatoren, Schulleitungen und Beratern aus der Schulbehörde unterstützen.
  • Und: Die Ombudsleute reagieren schnell, oft sogar innerhalb eines Tages.
Auf dem Bild sieht man eine kleine Stein-Pyramide auf einem Steinstrand. Im Hintergrund schimmert blaues Wasser.

Die Ombudsleute können nicht alles. Sie dürfen beraten und vermitteln. Abschließende Entscheidungen treffen dürfen sie nicht.

Dafür tun sie etwas anderes: Sie führen über ihre Tätigkeit genau Buch.

Jedes Jahr schreiben sie einen Arbeitsbericht über

  • die Anzahl der durchgeführten Beratungen,
  • die Themenschwerpunkte der Beratungen,
  • den zeitliche Umfang der Beratungen,
  • stattgefundene Kontakte und Gespräche mit Vertretern der Schulbehörde und anderen Institutionen und Organisationen.

Dabei zeigt sich den Ombudsleuten immer wieder, dass die persönlichen Einzelfälle in der Beratung auf größere strukturelle Probleme in der schulischen Inklusion aufmerksam machen.

Diese Problemlagen fassen die Ombudsleute in ihren Arbeitsberichten zusammen und besprechen sie mit dem Schulsenator, dem Staatsrat und dem Landesschulrat.

Sie erreichen die Ombudsstelle telefonisch unter der Nummer 040 42863-2733 oder
per email an
ombudsstelleinklusion@bsb.hamburg.de.

Auch in den Ferien können Sie die Ombudsstelle erreichen.

Schon gehört?

Im September 2021 hat sich das Amt für Bildung innerhalb der Behörde für Schule und Berufsbildung (BSB) umstrukturiert.

Ganz still und leise und ohne viel Kommunikation nach außen.

Selbst der wöchentliche Newsletter der BSB hat nicht darüber berichtet.

Auf dem Bild sieht man den Eingang einer Schule in Hamburg mit großen grünen Türen und roten Backsteinmauern.

Was hat sich verändert?

Im Amt für Bildung gibt es jetzt eine eigene Abteilung „Inklusive Bildung“ (B4), die direkt dem Landesschulleiter unterstellt ist.

Innerhalb der Abteilung „Inklusive Bildung“ gibt es drei Unterabteilungen:

  • Grundsatz und Qualitätsentwicklung inklusive Bildung, Schulbegleitung, pädagogisch-therapeutisches Fachpersonal (B 41),
  • Aufsicht und Fachaufsicht spezielle Sonderschulen, ReBBZ und BBZ (B 42),
  • Gewaltprävention (B 43).

Kopie des aktuellen Organigramms des Amtes für Bildung der BSB Hamburg, Stand September 2021
Organigramm BSB – Amt für Bildung (Stand September 2021)

Wie war es vorher?

Vorher unterstanden die speziellen Sonderschulen der „Schul- und Fachaufsicht allgemeinbildende Schulen“. So wie alle anderen Schulen in der Stadt.

„Inklusion und Sonderpädagogik“ war eine Unterabteilung der Abteilung „Gestaltung, Unterrichtsentwicklung, Grundsatz und Internationales“ (B 3), ebenso die „Gewaltprävention“.


Kopie des vorherigen Organigramms des Amtes für Bildung der BSB Hamburg, Stand Oktober 2019
Organigramm BSB – Amt für Bildung (Stand Oktober 2019)

Dann ist die inklusive Bildung durch die Umstrukturierung also aufgewertet und gestärkt worden?

Auf den ersten Blick mag dies so scheinen: „Inklusive Bildung“ als Top 4 unter den direkt der Amtsleitung unterstellten Fachabteilungen.

Allerdings:

Zuständig ist die neue Abteilung „Inklusive Bildung“ ausschließlich für Schülerinnen und Schüler mit diagnostiziertem sonderpädagogischen Förderbedarf. Also für Schülerinnen und Schüler mit Behinderung oder starken Verhaltensauffälligkeiten.

Damit bleibt inklusive Bildung weiterhin genau auf diejenigen Schülerinnen und Schüler reduziert, die doch eigentlich inkludiert werden sollen.

Für sie wird eine eigene Fachaufsicht geschaffen, werden eigene Unterrichtsinhalte und -konzepte diskutiert.

So werden Sonderstrukturen ausgebaut und gefestigt, nicht abgebaut.

Das ist genau das Gegenteil von Inklusion.

Auf der linken Seite des Bildes sieht man eine Gruppe roter Mensch-Ärger-Dich-Nicht-Figuren eng nebeneinander stehend. Auf der rechten Bildseite steht eine einzelne schwarze Spielfigur, mit deutlichem Abstand zu den andern.

Inklusive Bildung geht alle an, schließt alle ein.

Inklusive Bildung besteht vor allem darin, keine Schubladen aufzumachen:

dort die Schülerinnen und Schüler mit Behinderung und dort die ohne.

Inklusive Bildung heißt gemeinsamer Unterricht in einer Schule für alle.

In der jedes Kind die Chance erhält auf eine bestmögliche Bildung, ausgerichtet an seinen Bedürfnissen und Fähigkeiten.

Das Bild zeigt viele bunte Mensch-Ärger-Dich-Nicht-Figuren auf einem Holzbrett.

Wie aber lässt sich eine inklusive Schule für alle planen und entwickeln, wenn behinderte Schüler bei der Diskussion um Grundsätzliches, Unterrichtsentwicklung, zentrale Prüfungen, Steigerung von Bildungschancen, Bildungswettbewerbe, Ganztag und Qualität in der Berufsvorbereitung außen vor bleiben?

Die Behörde argumentiert, es gebe Schnittstellen zwischen den verschiedenen Abteilungen. Aber reicht das wirklich aus?

Ich erlebe immer wieder: Beim Thema Bildung und Unterricht werden Schülerinnen und Schüler mit Behinderung nach wie vor nicht mitgedacht, sind nicht selbstverständlich.

Die aktuelle Diskussion über „Lernrückstände“ zeigt dies deutlich.

Viel zu oft greift weiter die Schere im Kopf: „Normale“ Kinder, die leistungsfähig sind versus „behinderte“ Kinder, die nicht so können wie die anderen. Die eigene Schutzräume brauchen.

Die UN-Behindertenrechtskonvention ist beim Thema inklusive Bildung klar und deutlich:

Menschen mit Behinderungen sollen gleichberechtigt mit anderen in der Gemeinschaft, in der sie leben, Zugang zu einem integrativen, hochwertigen und unentgeltlichen Unterricht an Grundschulen und weiterführenden Schulen haben.

Daher fordert die UN-Behindertenrechtskonvention ein möglichst schnelles Ende von Sondersystemen.

Übrigens nicht nur im Bereich Bildung.

Eine eigene Abteilung „Inklusive Bildung“ in der Hamburger Schulbehörde, reduziert auf Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf, ist in meinen Augen ein klarer Rückschritt auf dem mühsamen Weg zur Inklusion.

Das Bild zeigt ein Paar Füße in roten Turnschuhen, die auf einer grünen Wiese stehen.

Mein Unwort des Jahres 2021: Lernrückstände

Ich habe mich entschieden. Mein persönliches Unwort des Jahres 2021 lautet: Lernrückstände.

Spätestens seit Ende des zweiten Lockdowns wird in ganz Deutschland intensiv über das Ausmaß der „Lernrückstände“ diskutiert, die durch die pandemiebedingten Schulschließungen entstanden sind.

Ganz konkret geht es um Lücken in Deutsch und Mathematik, die um so größer ausfallen, je schwieriger die soziale Lage der betroffenen Kinder und Jugendlichen ist.

Die soziale Ungleichheit im Bereich von Schule und Bildung hat sich also deutlich verschärft.

Darauf hinzuweisen ist wichtig und gut.

Allerdings:

Kaum jemand scheint sich bewusst, wie exkludierend die Diskussion über Lernrückstände ist!

Auf dem Bild sieht man zwei Mädchen im Grundschulalter, die sich gemeinsam über ein Heft beugen. Eins der Mädchen schreibt bzw. malt mit einem Bleistift in das Heft.

Mit der Unterzeichnung der UN-Behindertenrechtskonvention hat sich Deutschland für die Einführung eines inklusiven Bildungssystems entschieden.

Grundlegend für inklusive Bildung ist ein ganzheitlicher, personenbezogener Ansatz.

So unterschiedlich Menschen sind, so unterschiedlich sind auch ihre Arten zu lernen und sich zu bilden.

Hierauf müssen Bildungssysteme eingehen.

Über flexible Lehrpläne, Lehr- und Lernmethoden muss jeder Mensch die Möglichkeit erhalten, sein ihm eigenes Potential bestmöglich zu entfalten.

Bildungssystem müssen sich also an die Bedürfnisse aller Lernenden anpassen.

Nicht mehr die Lernenden an ein bestehendes, starres System.

Der in der aktuellen bildungspolitischen Diskussion genutzte Begriff der Lernrückstände geht dagegen von einem für alle verbindlichen Bildungsplan als „Sollstand“ aus.

Dies widerspricht dem Grundgedanken von inklusiver Bildung!

Die aus diesen „Bildungsrückständen“ abgeleiteten Fördermaßnahmen schließen alle Schülerinnen und Schüler von vornherein aus, die lernzieldifferenziert unterrichtet werden. Sowohl an Sonderschulen wie auch an inklusiven Regelschulen.

Das Bild zeigt die Spitze eines Fahnenmastes mit wehender Hamburg-Fahne. Im Hintergrund sieht man verschwommen Wasser.

In Hamburg bedeutet das: Für Schülerinnen und Schüler mit Behinderung, die nicht im Rahmen des Bildungsplans unterrichtet werden, sehen Schulbehörde und Schulsenator weder Lernferien noch Klassenwiederholungen oder andere Förderprogramme vor.

Dabei haben gerade diese Kinder und Jugendlichen in unserer Stadt massiv unter den Schulschließungen gelitten:

  • Schulbegleitungen durften zu Hause nicht unterstützen.
  • Differenzierte digitale Lernangebote fehlten.
  • Die eh schon große soziale Isolation vieler dieser Schülerinnen und Schüler wurde nochmals verschärft. Soziales Lernen war nicht möglich.

Hier gilt es dringend gegenzusteuern!

Das Thema Schulbegleitung – ein Dauerbrenner

Klaus Wicher, erster Landesvorsitzende des Sozialverbands Deutschland (SoVD) in Hamburg, warnte vor kurzem: Die Inklusion in Hamburgs Schulen laufe nicht störungsfrei. 

„Vor allem fehlt es an ausreichend qualifizierten Schulbegleiter*innen. Das hat zur Folge, dass Kinder nicht richtig am Unterricht teilhaben können und benachteiligt werden. Ich empfehle der Stadt dringend neue Strukturen für die Betreuung und verweise auf Pool-Modelle, die in anderen Städten schon erfolgreich laufen.“ (Aktuelle Meldungen des SoVD, Landesverband Hamburg)

Das kann ich nur unterstützen!

Allein in meinem näheren Bekanntenkreis kenne ich aktuell drei Familien, deren Kinder häufig bis regelmäßig einen verkürzten Schultag haben, weil es an Schulbegleitung fehlt.

Schulbegleitung: Allgemeine gesetzliche Grundlagen

Artikel 24 der UN-Behindertenrechtskonvention sieht vor, dass alle Kinder einen Anspruch auf bestmögliche Bildung haben. Um dies sicherzustellen, verpflichten sich die Vertragsstaaten, ausreichende Vorkehrungen für Schülerinnen und Schüler mit Behinderung zur Verfügung zu stellen. Eine solche Vorkehrung ist die Schulbegleitung.

In Deutschland fußte der Anspruch auf Schulbegleitung bis 2018 auf zwei verschiedenen gesetzlichen Grundlagen:

Kinder und Jugendliche mit körperlicher oder geistiger Behinderung hatten die Möglichkeit, eine Schulbegleitung nach § 54 SGB XII zu beantragen. Zuständig für diese Leistung war die Eingliederungshilfe.

Für Kinder und Jugendliche mit drohender oder vorhandener seelischer Behinderung regelte die Kinder- und Jugendhilfe den Bedarf. Grundlage hierfür war § 35a SGB VIII .

Seit dem 1. Januar 2017 tritt in Deutschland das neue Bundesteilhabegesetz stufenweise in Kraft.

Ab dem 1. Januar 2018 wurde die Eingliederungshilfe für Kinder und Jugendliche mit Behinderungen den für alle Rehabilitationsträger geltenden allgemeinen Regeln des Teils 1 und 2 des SGB IX unterworfen und zwar unabhängig davon, ob sie aus dem SGB XII oder dem SGB VIII zu leisten ist.

Zum 1. Januar 2020 wurde die Eingliederungshilfe aus dem SGB XII herausgelöst. Sie wird nun im zweiten Teil des SGB IX als „Besondere Leistungen zur selbstbestimmten Lebensführung für Menschen mit Behinderung“ geregelt. Gleichzeitig wurde § 35a SGB VIII an die Eingliederungshilfe des SGB IX (Teil 2) angepasst.

Schulbegleitung: der Hamburger Weg

Hamburg beschritt mit Einführung der Inklusion seinen eigenen Weg in Sachen Schulbegleitung.

Um Familien mit behinderten Kindern möglichst zu entlasten, beschloss der Hamburger Senat 2014/2015, die Zuständigkeit für Schulbegleitung an die Behörde für Schule und Berufsbildung zu übertragen. Die Auswahl des Lernortes, die Zusammensetzung der Klassen und die Ausstattung der Schulen sollten von nun an so gestaltet werden, dass die Gewährung individueller Eingliederungsleistungen überflüssig würde.

Das hört sich nach einer guten Entscheidung für Schülerinnen und Schüler mit Behinderung an!

Allerdings: Bei der Beantragung und Organisation von Schulbegleitung hielt die Behörde für Schule und Berufsbildung an der Unterscheidung zwischen (drohenden) seelischen Beeinträchtigungen auf der einen und körperlichen oder geistigen Behinderungen auf der andern Seite fest.

So blieb es weiterhin kompliziert.

Benötigen Schülerinnen und Schüler mit komplexen psychosozialen Beeinträchtigungen eine Schulbegleitung, sind seit April 2014 die Regionalen Bildungs- und Beratungszentren (ReBBZ) zuständig.

Einen Antrag auf Schulbegleitung über das ReBBZ kann nur die Schule stellen, nicht die Sorgeberechtigten eines Kindes. Damit ist Sorgeberechtigten das Recht auf Widerspruch verwehrt, wenn das ReBBZ den Antrag auf Schulbegleitung ablehnt. Sieht die Schule keinen Bedarf an Schulbegleitung oder zögert eine Antragstellung aus unterschiedlichen Gründen heraus, sind Sorgeberechtigte so gut wie machtlos.

Die ReBBZ sehen Schulbegleitung vorrangig als pädagogische Maßnahme. Ziel ist es, ein Kind in seiner Entwicklung so zu fördern, dass es perspektivisch keine Schulbegleitung mehr benötigt. Schulbegleitungen über ein ReBBZ sind daher nie auf Dauer, sondern immer nur befristet. Meist muss eine Schulbegleitung jedes Schulhalbjahr neu beantragt werden.

Eltern von Kindern und Jugendlichen mit komplexen psychosozialen Beeinträchtigungen hören von den ReBBZ regelmäßig, dass Schulbegleitungen nie länger als für ein bis maximal zwei Jahre bewilligt werden, in der Regel nie über 20 Stunden/Woche hinausgehen und spätestens ab der achten Klasse generell nicht mehr möglich seien.

Zwar ist dies nirgendwo festgeschrieben, soll aber vermutlich dazu dienen, die Kosten für Schulbegleitung nicht noch weiter ansteigen zu lassen.

Denn: Während Hamburg 2011 nur ca. 3 Millionen Euro Euro für Schulbegleitung ausgab, waren es 2020 mehr als 15 Millionen Euro.

Verantwortlich für die Suche und Einstellung einer Schulbegleitung ist das ReBBZ. Eltern sind an der Auswahl der Schulbegleitung für ihr Kind nicht beteiligt.

Weiterführende Informationen finden Sie hier:

Dienstanweisung zum Einsatz von Schulbegleitungen für Schülerinnen und Schüler mit erheblichem Betreuungs- und Unterstützungsbedarf aufgrund einer komplexen psychosozialen Beeinträchtigung (1. April 2014)

Brauchen Schülerinnen und Schüler mit erheblichem oder umfassenden Unterstützungsbedarf im Bereich der geistigen oder körperlich-motorischen Entwicklung eine Schulbegleitung, regelt dies seit September 2021 die stellvertretende Abteilungsleitung der neu geschaffenen Abteilung B 4 – Inklusive Bildung innerhalb der Schulbehörde. Zwischen Mai 2015 und August 2021 lag das Verfahren in den Händen der Schulaufsicht spezielle Sonderschulen.

Auch bei Schülerinnen und Schülern mit erheblichem oder umfassenden Unterstützungsbedarf im Bereich der geistigen oder körperlich-motorischen Entwicklung ist eine Bedarfsklärung durch die Schule vorgesehen. Allerdings haben Sorgeberechtigte hier die Möglichkeit, einen eigenen Antrag auf Schulbegleitung zu stellen. Die Entscheidung über diesen Antrag wird Sorgeberechtigten über einen rechtsmittelfähigen Bescheid mitgeteilt. Somit haben sie die Möglichkeit, gegen die Entscheidung Widerspruch einzulegen.

Schulbegleitungen für Schülerinnen und Schüler mit erheblichem oder umfassenden Unterstützungsbedarf im Bereich der geistigen oder körperlich-motorischen Entwicklung werden als notwendige Unterstützungsmaßnahmen angesehen, um das Recht behinderter Kinder und Jugendlicher auf Teilhabe an Bildung sicher zu stellen.

Es wird davon ausgegangen, dass der Bedarf dieser Kinder und Jugendlichen weitgehend konstant bleibt. Eine generelle zeitliche Befristung der Schulbegleitung ist daher nicht vorgesehen. Trotzdem muss die Schulbegleitung jährlich neu beantragt werden.

Bei Schülerinnen und Schülern mit erheblichem oder umfassenden Unterstützungsbedarf im Bereich der geistigen oder körperlich-motorischen Entwicklung, denen eine persönliche Schulbegleitung zugesprochen wurde, liegt es in den Händen der Sorgeberechtigten, eine geeignete Schulbegleitung zu finden und einzustellen. Dabei sollen Sorgeberechtigte von der Schule unterstützt werden.

Weitere Informationen finden Sie hier:

Dienstanweisung zum Einsatz von Schulbegleitungen für Schülerinnen und Schüler mit erheblichem Betreuungs- und Unterstützungsbedarf aufgrund einer Behinderung (Mai 2015)

Topp oder Flopp? Warum eine Reform der Schulbegleitung in Hamburg dringend nötig ist

Die bisherige Organisation von Schulbegleitung durch die Behörde für Schule und Berufsbildung hat gleich mehrere Schwachstellen:

  • Die unterschiedlichen Zuständigkeiten innerhalb der Behörde und die Unterschiede bei der Beantragung und Organisation von Schulbegleitung machen das gesamte Verfahren für Lehrer, Eltern und Schüler sehr unübersichtlich und schwer verständlich.
  • Die regelhaften Befristungen und Unsicherheiten bei der Weiterbewilligung von Schulbegleitung verhindern Kontinuität und Verlässlichkeit. Oftmals sind Schulbegleiterstellen bei Beginn eines Schuljahrs noch nicht besetzt.
  • Verschärfend kommt hinzu, dass es keine Vertretungen bei Schulbegleitung gibt. Fällt ein Schulbegleiter aus, geht das unterstützte Kind häufig nicht in die Schule.
  • Befristete Arbeitsverträge, keine Beschäftigung während der Ferien und eine meist dürftige Bezahlung haben zur Folge, dass es kaum qualifizierte Schulbegleiter gibt. Nicht selten sind es junge Menschen im Freiwilligen Sozialen Jahr, die Schulbegleitungen übernehmen.
  • Mit dem Bundesteilhabegesetz wurde ein neues Verständnis von Behinderung eingeführt:

„Menschen mit Behinderungen sind Menschen, die körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen haben, die sie in Wechselwirkung mit einstellungs- und umweltbedingten Barrieren an der gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate hindern können“ (§ 2 Abs. 1 SGB IX).

Damit wird Behinderung nicht mehr ausschließlich als Eigenschaft und Defizit einer Person gesehen. Stattdessen werden – in Übereinstimmung mit der UN-Behindertenrechtskonvention – gesundheitliche Beeinträchtigungen im Zusammenspiel mit Kontextfaktoren sowie mit den Interessen und Wünschen der betroffenen Menschen betrachtet.

Bei der Vorgehensweise in Hamburg begründen ausschließlich erhebliche, umfassende oder komplexe Defizite von Kindern und Jugendlichen die Notwendigkeit einer Schulbegleitung.

  • Erschwerend kommt hinzu: Komplexe psychosoziale Beeinträchtigungen werden von der Behörde für Schule und Berufsbildung nicht als Behinderung gesehen. Daraus ergibt sich eine Ungleichbehandlung von Schülerinnen und Schülern mit seelischen Beeinträchtigungen, die nicht im Einklang steht mit den Vorgaben der UN-Behindertenrechtskonvention und des Bundesteilhabegesetzes.
  • Es gibt Behinderungen, die sich nur schwer oder gar nicht in das Verfahren der Behörde für Schule und Berufsbildung einordnen lassen. Dazu zählen besonders die sogenannten unsichtbaren Behinderungen wie Autismus und FASD.

Verhaltensauffälligkeiten von Kindern und Jugendlichen mit FASD zum Beispiel werden von der Schulbehörde gerne als komplexe psychosoziale Beeinträchtigungen eingestuft. Allerdings sind diese Verhaltensauffälligkeiten Folge einer Gehirnschädigung, daher langfristig und nicht durch Pädagogik heilbar.

Eltern von Kindern und Jugendlichen mit FASD gehen in Hamburg inzwischen dazu über, bei der Eingliederungshilfe ein persönliches Budget zu beantragen, um darüber eine verlässliche und ausreichende schulische Assistenz zu finanzieren. Mit Erfolg.

Mein Wunsch für eine „Inklusionsmetropole“ Hamburg:

Eine Neuorganisation von Schulbegleitung, die

Sorgeberechtigte entlastet,

verständlich, einheitlich und transparent ist,

sich am individuellen Bedarf orientiert,

Verlässlichkeit und Kontinuität schafft,

fachliche Standards setzt und prüft

und so Teilhabe an Bildung für alle möglich macht!

Die Beantragung von Hilfen – ein Dauerlauf mit Hindernissen

BTHG, EUTB, GdB, Heilpädagogischer Förderbedarf, Sonderpädagogischer Förderbedarf, Spezieller Förderbedarf, LSE, GE, KmE, SGB, KJSG, § 35a, ReBBZ, WAZ, systemische Ressource, persönliche Ressource, Förderkoordinator, Förderplan, UNBRK, SPZ, JPPD, JPD, Pflegestufe, Verhinderungspflege, AUL, Persönliches Budget, Eingliederungshilfe . . .

Steigen Sie noch durch?

Solchen Abkürzungen und Begriffen begegnen Eltern, die sich um Unterstützung bemühen für ihr Kind mit Behinderung. Das beginnt mit der Frühförderung. Geht weiter in Krippe, Kita und Schule. Und ist mit der Berufsvorbereitung und Ausbildung noch längst nicht zu Ende.

Als Eltern eines Kindes mit Behinderung lernt man schnell: Nichts geht einfach. Nichts geht schnell. Nichts ist auf Dauer. Nichts ist selbstverständlich. Nichts geht ohne Druck und Nachhaken.

Nein, damit meine ich nicht die Entwicklung unseres Kindes.

Damit meine ich die Bewilligung von Hilfen, die unser Kind benötigt, um sich gut zu entwickeln. Um wie alle Kinder in die Kita zu gehen oder in die Schule.

Oft komme ich mir vor wie eine Hürdenläuferin.

Die erste Hürde: Ich muss vorab bereits wissen, was es an Hilfen gibt.

Die zweite Hürde: Ich muss wissen, wer für die Bewilligung einer Hilfe zuständig ist.

Die dritte Hürde: Ich muss überzeugend nachweisen, was mein Kind an Hilfen benötigt und dass es einen Anspruch darauf hat.

Die vierte Hürde: Ich muss viel Geduld haben. Und ich muss aufpassen, dass das Bewilligungsverfahren nirgendwo stecken bleibt.

Die fünfte Hürde: Ich muss wissen, was bei der Bewilligung oder auch Ablehnung einer Hilfe zu tun ist.

Diesen Hürdenlauf absolviere ich nicht nur einmal sondern regelmäßig.

Denn: Kinder entwickeln sich. Daher sind bewilligte Hilfen in der Regel auf ein Jahr befristet. Die Tatsache, dass mein Kind eine lebenslange Behinderung hat und dauerhaft auf Hilfe angewiesen sein wird, interessiert da nicht.

Erschwerend kommt hinzu: Mit jedem Entwicklungsschritt meines Kindes (von der Frühförderung in die Kita, von der Kita in die Grundschule usw.) wechseln die für die Bewilligung von Hilfen zuständigen Menschen und Behördenstellen. Müssen Bedarfe neu beantragt, ermittelt, begründet und geprüft werden. Beginnen wir als Eltern quasi wieder am Punkt Null.

Ein Beispiel:

Unser Kind war drei Jahre lang in der Kita. Jedes Jahr wuchsen die Anforderungen an unser Kind. Und damit auch sein Bedarf an Unterstützung.

Im letzten Kita-Jahr hatte unser Kind die Zuschlagstufe III. Damit ließ sich die inzwischen nötige 1:1 Betreuung halbwegs abdecken.

Dann stand der Wechsel in die Grundschule an. Als Eltern war uns klar: Unser Kind wird die inklusive Grundschule nur meistern, wenn es eine verlässliche Begleitung an seiner Seite hat.

Also haben wir Druck gemacht. Wir haben Schule und Kita ein Jahr vor der Einschulung zu einem gemeinsamen Gespräch zusammen gebracht. Wir haben noch während der Kita-Zeit einen Antrag auf Schulbegleitung gestellt. Wir haben selbst eine Schulbegleitung gesucht. So konnte unser Kind gut begleitet in die Grundschulzeit starten.

Wenn wir nichts gemacht hätten? Dann wäre unser Kind sehr wahrscheinlich ohne Unterstützung in die Schule gegangen. Spätestens am Ende der ersten Woche hätten wir einen Anruf erhalten, dass wir unser Kind bitte abholen sollten. Weil es ausgerastet wäre. Mit Büchern geworfen hätte. Oder noch schlimmeres.

Vielleicht wäre dann bereits die Beantragung von Hilfe in Gang gekommen. Vielleicht hätte das aber auch noch eine Weile gedauert.

Auf jeden Fall hätte unser Kind bereits in der ersten Klasse seinen Stempel weg gehabt: als schlecht erzogen, unberechenbar, gewalttätig, schlimmstenfalls sogar als unbeschulbar.

„Ihr Kind erhält die Luxus-Variante schulischer Inklusion!“

Kennen Sie den schon?

„Unser Kind erhält die Luxus-Variante der schulischen Inklusion in Hamburg!

Es erhält jetzt eine individuelle Förderung – nach drei Jahren in der inklusiven Stadtteilschule und langen Kämpfen mit der Schulbehörde.

„Wo die Förderung stattfindet?

„Natürlich außerhalb der Schule, bei der Lerntherapeutin!

Auf die Außenwand eines Gebäudes ist ein roter Elefant gezeichnet. Auf seinem Bauch befindet sich ein weißer Schriftzug „Enjoy a Joke“, in Anlehnung an das Coca-Cola Flaschenlogo gestaltet. Rechts neben dem Elefanten sieht man einen Plakatausschnitt, auf dem zwei Menschen herzhaft lachen.

Manche Dinge sind nur mit Humor zu ertragen. So ergeht es mir inzwischen oft mit der schulischen Inklusion in Hamburg.

Das beste, was ich im letzten Schuljahr zu hören bekam, war: „Ihr Kind erhält bereits die Luxus-Variante schulischer Inklusion in Hamburg! Wollen Sie etwa noch mehr?“

Sie interessiert, wie Luxus auf hanseatisch aussieht? Das erzähle ich Ihnen gerne:

Unser Kind hat seit 2 Jahren Lerntherapie. In einer Praxis außerhalb der Schule. Das ist das beste, was unserem Kind (und uns) seit der fünften Klasse passiert ist!

Die Lerntherapeutin holt unser Kind dort ab, wo es steht.

Sie hat sich intensiv mit der Behinderung unseres Kindes auseinandergesetzt.

Sie versteht die Rechenstrategien unseres Kindes.

Sie hat mit unserem Kind geübt, beim Schreiben oben auf der Seite und vorne im Heft zu beginnen.

Sie hat uns bestätigt, dass unserem Kind die zeitliche Orientierung schwer fällt. Hat mit ihm Monate und Jahreszeiten geübt und zugeordnet.

Sie hat zusammen mit unserem Kind die gesamte Lerntherapie-Praxis mit dem Zollstock vermessen.

Unser Kind geht jedesmal hoch motiviert zur Lerntherapie. Es merkt: Was ich hier lerne, hilft mir, im Alltag besser klar zu kommen.

Und die Schule?

Die sagt, sie hätte nicht genug Sonderpädagogen. Deshalb bezahlt sie die Lerntherapie.

Ansonsten geht die Schule weiterhin davon aus, dass unser Kind zielgleich mit seinen Klassenkameraden in Nebenfächern wie Gesellschaftswissenschaft, Physik, Chemie, Informatik oder Biologie unterrichtet werden kann. Dort findet gerade die Vorbereitung auf den Mittleren Schulabschluss statt. (Den Ersten Schulabschluss hat unser Kind nicht mitgeschrieben. Den hätte es nicht geschafft.)

An einem Austausch mit der Lerntherapeutin scheint in der Schule bis auf die Sonderpädagogin niemand wirklich interessiert. Ich bin mir sicher: Der Mathelehrer weiß bis heute nicht, dass unser Kind weder multiplizieren noch dividieren kann.

Was macht das mit unserem Kind?

Es kommt immer häufiger aggressiv und genervt aus der Schule nach Hause. (Immerhin geht es noch zur Schule!)

Als Eltern setzen wir unsere Hoffnung wieder auf Praktika. Die waren bereits im letzten Schuljahr Gold wert für unser Kind.

Wer wird diese Praktika organisieren? Drei mal dürfen Sie raten!

Auch bei der angeblichen Luxus-Variante schulischer Inklusion bekommen Eltern in Hamburg nichts geschenkt.

Elegante rote Abendschuhe mit sehr hohen Absätzen

Mein Wunsch für eine „Inklusionsmetropole“ Hamburg:

  • Deutliche Verbesserung der sonderpädagogischen Förderung in Regelschulen
  • Einführung eines verpflichtenden differenzierenden Unterrichts an allen Schulen
  • Einsatz von Lerntherapeuten in Schulen

Stand der schulischen Inklusion 2021

Die Hamburger Behörde für Schule und Berufsbildung BSB hat in den letzten Jahren zahlreiche Handreichungen zur schulischen Inklusion herausgegeben. Was die Theorie angeht, ist man in Hamburg gut aufgestellt!

Aber wie sieht es vor Ort in den Regelschulen mit der Inklusion tatsächlich aus?

Seit fünf Jahren wird unser Kind mit einer Behinderung (FASD) an einer Stadtteil- und Schwerpunktschule inklusiv beschult.

Seit fünf Jahren bin ich an eben dieser Stadtteilschule als Elternvertreterin und Mitglied des Elternrats in Sachen Inklusion unterwegs.

Hier einige von mir gesammelte Stimmen zur Inklusion aus den letzten zwei Jahren:

„Meine Aufgabe ist es, Schülerinnen und Schüler erfolgreich in Ausbildung zu bringen. Um die behinderten Schüler in meiner Klasse kümmern sich die Eltern.“ (Lehrer in der Mittelstufe)

„Lehrerinnen und Lehrer in Mathematik oder Naturwissenschaften können gar nicht richtig differenzieren. Natürlich mache ich das.“ (Sonderpädagogin in der Mittelstufe)

“Vom Mathelehrer kann ich nicht erwarten, dass er unser Kind individuell fördert. Der muss sich doch um die andern Kinder kümmern.“ (Mutter eines Kindes mit Dyskalkulie. Das Kind erhält die nötige individuelle Förderung über eine privat finanzierte Lerntherapie.)

“Jeder neuen Lehrerin, jedem neuen Lehrer müssen wir erklären, dass unser Kind Anspruch auf Nachteilsausgleich hat.“ (Vater eines Kindes mit ausgeprägter Lese-Rechtschreib-Schwäche)

„Für die Differenzierung sind die Sonderpädagogen zuständig.“ (Lehrerinnen und Lehrer in Unter- und Mittelstufe)

“Für einige Kinder und Jugendliche ist die Inklusion sicherlich gut. Aber nicht für die mit schweren Behinderungen.“ (Vater im Elternrat)

“Ihr Kind zeigt sich im Unterricht kaum auffällig. Deshalb hat es keinen großen Förderbedarf. Den haben vor allem die Kinder und Jugendlichen, die so auffällig sind, dass sie regelmäßig den Unterricht sprengen.“ (Förderkoordinatorin)

Ihr Kind kann die Klassenarbeit ruhig mitschreiben. Wird ja eh nicht benotet, da es zieldifferenziert unterrichtet wird.“ (Lehrer in der Mittelstufe)

“Es tut mir leid, aber die Mathetestung Ihres Kindes hat ergeben, dass es erst auf dem Stand Anfang zweiter Klasse ist.“ (Sonderpädagogin zu den Eltern einer Schülerin in Klasse 8!)

“Unterrichtsmaterialien für den Grundschulbereich finde ich in der Schulbibliothek nicht.“ (Schulbegleitung eines Kindes, das zieldifferenziert unterrichtet wird)

“Ihr Kind hat zwar einen speziellen Förderbedarf. Aber uns fehlen leider die Sonderpädagogen, um die individuelle sonderpädagogische Förderung abzudecken, die Ihrem Kind zustände.“ (Förderkoordinatorin)

Fazit:

Auf dem Papier ist die Inklusion fest verankert. In der Praxis ist sie noch längst nicht angekommen.

Zu oft fehlen in Hamburgs Regelschulen Fachwissen, gut erprobte Konzepte, verlässliche Kommunikationsstrukturen und vor allem ausreichende Ressourcen. Doch daran liegt es nicht allein.


Immer noch zu oft werden Kinder mit Behinderungen als etwas besonderes, etwas nicht normales, etwas zusätzliches oder gar belastendes angesehen.

In einer inklusiven Schule ist jedes Kind normal oder besonders – je nach Sichtweise. Jedes Kind ist gleich wertvoll!

Mein Wunsch für eine „Inklusionsmetropole“ Hamburg: Entwicklung einer Haltung, die Menschen mit Behinderungen als selbstverständlich ansieht und mitdenkt – nicht nur in der Schule, sondern überall.

FASD und Schule

Den meisten Kindern mit FASD sieht man ihre Behinderung von außen nicht an. Sie verfügen über eine große sprachliche Kompetenz. Im direkten Umgang sind sie freundlich, motiviert und zugewandt. Und dennoch haben fast alle von ihnen gravierende Probleme in der Schule. Woran liegt das?

Zeichnung eines menschlichen Gehirns

Bedingt durch die vorgeburtliche Schädigung von Gehirn und Nervensystem können sich Kinder mit FASD nur schwer konzentrieren, vergessen viele Dinge, sind unruhig und impulsiv.

Vielen fehlt ein genaues Verständnis von Zeit und Raum.

Das Verhalten ihrer Mitmenschen können Kinder mit FASD ebenso schwer einschätzen wie Gefahren. Daher sind sie äußerst leicht verführbar.

Aus Erfahrungen können sie nicht lernen, ihre Handlungsplanung ist stark eingeschränkt.

Aufgaben können sie nur bewältigen, wenn diese in viele kleine Arbeitsschritte eingeteilt sind.

Überdies zeigen viele Kinder mit FASD Entwicklungsverzögerungen, Teilleistungsschwächen und Lernschwierigkeiten.

Ein Kind malt mit Kreide auf einer Tafel.

Von außen ganz normal wirkend und sprachlich kompetent, werden Kinder mit FASD von ihrer Umwelt regelmäßig überschätzt. Das gilt ganz besonders für die Schule. Hier geraten Kinder mit FASD immer wieder in Überforderungssituationen, auf die sie äußerst heftig reagieren können, sei es mit wüsten verbalen Beschimpfungen, körperlichen Angriffen auf Lehrer und Mitschüler oder einer völligen Verweigerung.

Dieses „auffällige Verhalten“ wird von Seiten der Schule (zu) häufig als schlechtes Benehmen, Widerspenstigkeit oder Faulheit fehlinterpretiert und entsprechend sanktioniert, was eine erneute Überforderung der  Kinder zur Folge hat.

Diese „Teufelskreise“ lassen sich nur dadurch aufbrechen, indem die Schule die Bedürfnisse von Kindern mit FASD erkennt und Unterricht und Schulalltag daran anpasst. Dazu ist es nötig, FASD als eine lebenslange organische Behinderung zu begreifen, die eine spezielle sonderpädagogische Förderung nötig macht.

Mein Wunsch für eine „Inklusionsmetropole Hamburg“: Anerkennung eines speziellen sonderpädagogischen Förderbedarfs bei Kindern und Jugendlichen mit FASD !

Wie läuft es mit der Inklusion in Hamburgs Schulen?

Im Oktober 2009 beschloss die Hamburgische Bürgerschaft einstimmig eine Änderung des Hamburgischen Schulgesetzes. Seitdem haben alle Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf in Hamburg einen Rechtsanspruch auf den Besuch einer allgemeinen Schule. 

Im März 2012 stellte der Hamburgische Senat sein „Konzept für inklusive Bildung“ vor. Damit wurde ein erster wichtiger Schritt eingeleitet auf dem Weg zu einer inklusiven Schule für alle, wie sie Artikel 24 der UN-Behindertenrechtskonvention fordert. 

Die bisherigen Förder- (früher Lernbehinderten-) und Sprachheilschulen wurden aufgelöst. Gemeinsam mit den Regionalen Beratungs- und Unterstützungsstellen REBUS ( für besonders verhaltensauffällige Schülerinnen und Schüler) wurden sie zu 13 neuen Regionalen Bildungs- und Beratungszentren (ReBBZ) zusammengeschlossen. 

Gleichzeitig wurden die an einigen allgemeinen Schulen bestehenden integrierten Regelklassen abgeschafft. Alle Klassen an allgemeinen Schulen sind seitdem für Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf in den Bereichen Lernen, Sprache und/oder emotionale-soziale Entwicklung geöffnet. 

Die speziellen Sonderschulen für Kinder mit Behinderung in den Bereichen Hören, Sehen, geistige Entwicklung und körperlich-motorische Entwicklung blieben weiter bestehen. Schülerinnen und Schüler mit speziellem Förderbedarf in diesen Bereichen haben allerdings seitdem die Möglichkeit, anstelle einer Sonderschule eine allgemeine Schwerpunktschule zu besuchen.

Mit diesen 2009 und 2012 getroffenen Regelungen vollzog Hamburg einen beeindruckenden Start in die von der UN-Behindertenrechtskonvention geforderte schulische Inklusion. Seitdem gilt Hamburg als Vorreiter eines inklusiven Schulwesens in Deutschland.

Das Bild zeigt Unterbeine und Füße eines Menschen auf einer grünen Wiese. Der Mensch trägt lange schwarze Hosen und rote Turnschuhe.

Inzwischen schreiben wir das Jahr 2021. Wo steht Hamburg in Sachen schulische Inklusion heute? 

Nach dem beeindruckenden Start vor mehr als 10 Jahren ist Ernüchterung eingetreten. Nach wie vor dominiert die Segregation Hamburgs Bildungssystem: 

Sonderschulen bestehen nicht nur weiterhin, sondern verzeichnen seit einigen Jahren wieder steigende Schülerzahlen. 

Die alten Förderschulen sind über die Hintertür zurückgekehrt und verbergen sich nun hinter der Bezeichnung ReBBZ Schulen. Hier stagnieren die Schülerzahlen, gehen nicht weiter zurück.

Quellen: Mitteilung des Senats an die Bürgerschaft: Bericht zum 4. Quartal 2020; Geschäftsbericht und Haushaltsrechnung für die Jahre 2017-2019, Haushalts- und Konzernrechnungen für die Jahre 2015-2016

Elternvertretung wurde von Beginn an nicht inklusiv gedacht: Die gesetzliche Elternvertretung der allgemeinen Schulen ist regional nach Schulkreisen in 15 Kreiselternräten (KER) organisiert. Parallel dazu gibt es den Kreiselternrat Hamburger Sonderschulen (KER SO) als gesetzliche Elternvertretung der Hamburger speziellen Sonderschulen sowie der Regionalen Bildungs- und Beratungszentren.

Die Verwaltungsstrukturen innerhalb der Behörde für Schule und Berufsbildung sind weiterhin auf Trennung ausgerichtet. Neben einer bezirklich organisierten Schulaufsicht für allgemeine Schulen gibt es eine Schulaufsicht spezielle Sonderschulen / Schulbegleitung sowie eine Schulaufsicht Regionale Bildungs-und Beratungszentren (ReBBZ) / Beratungszentrum Pädagogik bei Krankheit/Autismus (BBZ). Die Themen Inklusion und Sonderpädagogik werden im Referat Gestaltung und Unterrichtsentwicklung exklusiv in einer eigenen Abteilung gedacht.

Der 2019 von der Behörde für Schule und Berufsbildung vorgelegte Schulentwicklungsplan hat ausschließlich staatliche Grundschulen, Stadtteilschulen und Gymnasien in Hamburg im Blick. Für die speziellen Sonderschulen und die Regionalen Bildungs- und Beratungszentren sieht die Behörde eine gesonderte Planung vor.

In der öffentlichen Diskussion wird inzwischen wieder wie selbstverständlich von allgemeinen Schulen, Sonderschulen und Förderschulen gesprochen.

Fazit

Nach wie vor ist Hamburg weit entfernt von einem inklusiven Bildungssystem, wie es die UN-Behindertenrechtskonvention fordert. 

Ziel der UN-Behindertenrechtskonvention ist ein inklusives Schulsystem für alle. Dies schließt eine Beibehaltung von unterschiedlichen Bildungssystemen in Form von allgemeinen Schulen, Sonderschulen und Förderschulen aus.

Die Politik in Hamburg ist aufgefordert, ein Zeichen zu setzen und konkrete Pläne für eine Zusammenführung von Sonderschulen, ReBBZ Schulen und Regelschulen zu erarbeiten.

Erste Schritte hierzu können sein:

  • die Zusammenführung parallel existierender Verwaltungsstrukturen (z. B. Allgemeine Schulaufsicht – Aufsicht Sonderschulen – Aufsicht ReBBZ),
  • eine gemeinsame Organisation der Eltern- und Schülerräte von Regel-, Sonder- und Förderschulen auf Kreisebene,
  • eine verbindliche Zusammenarbeit von Regel- und Sonderschulen.

Mein Wunsch für eine „Inklusionsmetropole Hamburg“: Erarbeitung eines konkreten Fahrplans für die Zusammenführung von Sonderschulen, ReBBZ und allgemeinen Schulen !

Digitalisierung in der Bildung konsequent inklusiv denken und umsetzen

Corona hat Schule verändert. Im Lockdown fand Schule plötzlich digital zu Hause statt und nicht mehr in Präsenz im Klassenzimmer.

Die Schule unseres Kindes gehörte zu den Vorzeigeschulen in Hamburg. Relativ schnell waren alle Schülerinnen und Schüler mit digitalen Endgeräten ausgestattet. Der Schul-Server wurde genutzt, um Aufgaben und Arbeitsmaterialien zu übermitteln. Unterrichtsstunden fanden in Form von Zoomkonferenzen statt. Das war wirklich beeindruckend.

Allerdings: Der differenzierte Unterricht blieb auf der Strecke. Unser Kind saß vor dem Bildschirm und verstand kaum noch etwas. Das war nicht gut für das Selbstwertgefühl und auch nicht gut für die Stimmung.

Dabei bietet Digitalisierung gerade für die inklusive Bildung vielfältige Möglichkeiten:

  • Schüler*innen ohne eigene Lautsprache können über Apps mit anderen kommunizieren.
  • Schüler*innen mit Leseproblemen können sich über Smartphones und Tablets Texte vorlesen lassen.
  • Schüler*innen mit Schwierigkeiten im Schreiben können Texte diktieren.
  • Unterrichtsmaterialien lassen sich mi Hilfe von Apps gezielt auf individuelle Lernbedürfnisse zuschneiden. So lassen sich beispielsweise mit Book Creator Lernbücher erstellen, in denen Bilder, Filme oder Ton verschiedene Sinne ansprechen.

Eine nicht inklusiv gedachte Digitalisierung führt dagegen dazu, dass verschiedene Gruppen von Schülern erneut ausgegrenzt werden:

  • Schulplattformen wie I-Serv sind für Schüler*innen mit Lernschwierigkeiten ohne fremde Hilfe kaum zugänglich.
  • Aufgabenformate im digitalen Unterricht, die sich überwiegend auf Lesen und Schreiben beschränken, hängen Schüler*innen mit Migrationshintergrund ebenso ab wie Schüler*innen mit Leserechtschreibschwäche, mit Sehbehinderung oder kognitiven Einschränkungen.
  • Unter dem verstärkten Druck, die Lernziele eines Jahrgangs zu erreichen, finden Differenzierung und Individualisierung im Lernen kaum noch Raum.

Hamburg hat das Recht auf inklusive Bildung gesetzlich festgeschrieben. Damit dies auch in der Praxis gut gelingen kann, gilt es, Digitalisierung konsequent inklusiv zu denken und barrierefrei zu gestalten.

Mein Wunsch für eine „Inklusionsmetropole Hamburg“: Inklusive Bildung und Digitalisierung konsequent zusammen denken und umsetzen!

Wie alles begann – oder: „Auf welche Schule soll unser Kind?“

Füße in roten Turnschuhen stehen mit Zehenspitzen auf einem Geländer


Frühjahr 2012, Schuleingangsuntersuchung im Gesundheitsamt Bergedorf

Nach der Untersuchung und Testung unseres sechsjährigen Pflegekindes teilte uns die zuständige Ärztin mit:

„Also, auf einer normalen Schule sehe ich ihr Kind nicht. Da kommt es nicht mit.

Auf der Sprachheilschule sehe ich es auch nicht. Dafür ist es sprachlich zu fit.

Auf der Sonderschule sehe ich es auch nicht. Dazu ist es nicht behindert genug.“

Die Förderschule war nach Einführung der Inklusion gerade aufgelöst. Die ging also auch nicht.

Ich fragte nach: „Auf welche Schule soll unser Kind denn dann? Schließlich gibt es in Deutschland eine allgemeine Schulpflicht.“

Die Ärztin reagierte mit einem Schulterzucken und antwortete: 

„Ja, das weiß ich auch nicht.“

Frühjahr 2021

Seit drei Jahren wissen wir: Unser Pflegekind hat eine Fetale Alkohol-Spektrumstörung (FASD).

Bei seiner Einschulung 2012 haben wir uns für den inklusiven Weg entschieden. Nun liegen vier Jahre Grundschule und fünf Jahre Stadtteilschule hinter uns. 

Viele tolle Lehrerinnen und Lehrer haben sich auf unser Kind eingelassen und tragfähige Bindungen zu ihm aufgebaut. Durch seine offene und zugewandte Art hat es sich einen festen Platz in der Klassengemeinschaft erobert. Seine Stärken werden gesehen. Ihm wird etwas zugetraut. 

Allerdings: 

Das Lernen ist auf der Strecke geblieben. Ein individualisierter Unterricht funktioniert bis heute nicht. Immer noch wissen Lehrerinnen und Lehrer zu wenig über die Behinderung unseres Kindes. 

Regelmäßig müssen wir als Eltern mit dem Regionalen Bildungs- und Beratungszentrum und der Schulbehörde um eine ausreichende Unterstützung für unser Kind ringen. Die Schulbegleitung wurde jährlich gekürzt. Der Sonderpädagoge ist zu selten in der Klasse.

Unser Akku als Eltern ist so gut wie leer. Inzwischen geht es nur noch darum, das letzte Schuljahr an der Stadtteilschule so gut wie möglich hinter uns zu bringen. Für unser Kind wird das bedeuten, möglichst viele Praktika zu machen, während sich seine Klassenkameraden auf den ersten und zweiten Schulabschluss vorbereiten. 

Fazit

Die passende Schule für unser Kind gibt es bis heute nicht.

Mein Wunsch für eine „Inklusionsmetropole Hamburg“: Ein inklusives Schulsystem, das sich den individuellen Bedürfnissen von Kindern und Jugendlichen mit Behinderung anpasst!