„Diese Prüfung wird nicht gut ausgehen!“

Am 29. und 30. August war ich in Genf.

Gemeinsam mit 30 weiteren Eltern von Kindern mit Behinderungen aus ganz Deutschland.

Zusammen haben wir zwei Tage lang vor dem europäischen Hauptsitz der Vereinten Nationen in Genf protestiert:

Für inklusive Bildung und eine zügige Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention in Deutschland.

Viele Menschen stehen hinter einem großen schwarz-rot-gelben Banner mit der Aufschrift: "Seit 14 Jahren gilt die UN-Behindertenrechtskonvention: Schämt Euch! Shame on you! Deutschland verweigert das Menschenrecht auf inklusive Bildung. Eltern fordern Inklusion. Jetzt endlich!" Im Hintergrund sieht man den Uno-Hauptsitz in Genf.
Gemeinsam mit Eltern aus ganz Deutschland demonstrierte ich vor dem Uno-Hauptsitz in Genf.

Während wir draußen auf dem Platz der Nationen gegenüber dem Besuchereingang der Vereinten Nationen mit unserem großen Banner unübersehbar waren, tagte im Innern des Gebäudes der Uno-Fachausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen.

Zum zweiten Mal prüften Expertinnen und Experten der Vereinten Nationen die Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention in Deutschland.

Bereits nach der ersten Prüfung 2015 hatte der Uno-Fachausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen die Bundesregierung gerügt, zu wenig für die Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention in Deutschland zu tun.

Diesmal erging es Deutschland nicht besser.

Das Bild zeigt das Emblem der Vereinten Nationen: einen weißen Erdkreis umrahmt von zwei weißen Olivenzweigen auf blauem Grund.

Sowohl der Behindertenbeauftragte der Bundesregierung, Jürgen Dusel, wie auch Vertreter des Deutschen Instituts für Menschenrechte erklärten dem Uno-Fachausschuss:

In sehr vielen Lebensbereichen ist Deutschland nach wie vor noch weit entfernt von Inklusion.

Mehr als die Hälfte aller Kinder und Jugendlichen mit Behinderungen werden in Sonderschulen unterrichtet.

Mehr als 300.000 Menschen mit Behinderungen arbeiten in Werkstätten für behinderte Menschen.

Fast 200.000 Menschen mit Behinderungen leben in besonderen Einrichtungen für Menschen mit Behinderungen.

Bereits diese Aussagen ließen die deutsche Regierungsdelegation mehr als blass aussehen. Diese hatte noch zu Anfang der Ausschuss-Sitzung von „großen Fortschritten“ und „wichtigen Paradigmenwechseln“ in der deutschen Behindertenpolitik gesprochen.

Das Bild zeigt eine alte Hauswand, gemauert aus rot-braunen Ziegeln. Rechts in der Wand sieht man ein kleines, vergittertes Fenster.

Die Mitglieder des Uno-Fachausschusses selbst hatten sich vorab sehr gut informiert über den Stand der Inklusion in Deutschland. Mit fundierten Anmerkungen und Fragen machten sie deutlich:

In keinem andern Land der Welt ist die Segregation so tief verankert wie in Deutschland. Sowohl in der Gesetzgebung wie auch im alltäglichen Leben.

Historisch gewachsene Sonderstrukturen verhindern nach wie vor die Selbstbestimmung und Teilhabe von Menschen mit Behinderungen. Dies ist nicht vereinbar mit der UN-Behindertenrechtskonvention.

Die deutsche Politik betrachtet Menschen mit Behinderungen als besonders „verletzlich“ und „schutzbedürftig“. Diese Sicht auf Behinderung deckt sich nicht mit der UN-Behindertenrechtskonvention.

Vielmehr birgt diese Sichtweise zusätzliche Gefahren für Menschen mit Behinderungen. Gerade in den zum „Schutz“ eingerichteten Sondersystemen sind Menschen mit Behinderungen verstärkt Zwang und Gewalt ausgesetzt.

Die Vize-Präsidentin des Uno-Fachausschusses, Amalia Gamio Rios aus Mexiko, mahnte: „Deutschland muss die UN-Behindertenrechtskonvention nicht nur ein bisschen umsetzen, sondern umfassend.“ Dazu brauche es deutlich mehr Anstrengung von Bund und Ländern.

Füße in roten Turnschuhen baumeln über Pflastersteinen.

Uns Eltern draußen auf dem Platz vor den Vereinten Nationen besuchte Amalia Gamio Rios bereits am ersten Tag der Staatenprüfung.

Sichtlich aufgewühlt erklärte sie:

„Deutschland hat nichts begriffen.“

„Es ist unfassbar, dass ein so reiches Land so wenig tut.“

„Diese Prüfung wird nicht gut ausgehen.“

Für Mitte September werden die schriftlichen Abschluss-Ergebnisse der Staatenprüfung erwartet. Als Mutter erhoffe ich mir klare und konkrete Handlungsempfehlungen an die Bundesregierung. Die werde ich dann als Richtschnur nutzen, wenn ich wieder einmal um die Menschenrechte meines Kindes mit Behinderung kämpfen muss.

Zum Schluss noch einige Reise-Bilder aus Genf:

  • Eine elektronische Anzeigetafel am Hamburger Flughafen zeigt meinen Flug nach Genf an.
  • Menschen sitzen im Schneidersitz auf dem Boden eines gepflasterten Platzes. Mehrere halten Schilder mit den Namen verschiedener Bundesländer in den Händen. Im Hintergrund sieht man ein großes Banner und die Fahnenallee vor dem Uno-Hauptsitz in Genf.
  • Eine Gruppe von Menschen steht draußen auf einem Platz und diskutiert angeregt miteinander.
  • Sechs Frauen und ein Mann stehen hinter einem großen schwarz-rot-gelben Banner mit der Aufschrift: "Seit 14 Jahren gilt die UN-Behindertenrechtskonvention: Schämt Euch! Shame on you! Deutschland verweigert das Menschenrecht auf inklusive Bildung. Eltern fordern Inklusion. Jetzt endlich!" Im Hintergrund sieht man den Uno-Hauptsitz in Genf.
  • Ein junger Mann in einem blauen T-Shirt mit Europa-Sternen sitzt in einem Camping-Stuhl und liest aus einer Mappe vor. Hinter ihm stehen mehrere Erwachsene und hören ihm zu. Sie alle tragen einen Aufkleber auf der Kleidung: "14 Jahre UN-BRK: Schämt Euch! Deutschland verweigert das Menschenrecht auf inklusive Bildung. Eltern fordern Inklusion. Jetzt endlich!"
  • Mehrere Menschen stehen im Kreis und diskutieren miteinander. Im Hintergrund sieht man die Fahnenallee vor dem Uno-Hauptsitz in Genf.
  • Eine Gruppe von Menschen steht hinter einem großen schwarz-rot-gelben Banner mit der Aufschrift: "Seit 14 Jahren gilt die UN-Behindertenrechtskonvention: Schämt Euch! Shame on you! Deutschland verweigert das Menschenrecht auf inklusive Bildung. Eltern fordern Inklusion. Jetzt endlich!" Im Hintergrund sieht man den Uno-Hauptsitz in Genf.
  • Mehrere Menschen sitzen auf Camping-Stühlen und Bänken auf einem großen Platz. Ein großer Regenschirm und hochgeklappte Kapuzen zeigen an, dass es regnet.
  • Menschen sitzen auf Camping-Stühlen und Bänken auf einem großen Platz. Sommerliche Kleidung und Sonnenhüte zeigen an, dass es sehr warm und sonnig ist. Im Vordergrund des Bildes sieht man zwei ausgebreitete Picknickdecken. Im Hintergrund erkennt man die Fahnenallee vor dem Uno-Hauptsitz in Genf.
  • Das Bild zeigt einen Schriftzug in gelber Kreidefarbe auf Beton: "Inklusion schaffen wir!"
  • Auf dem Bild sieht man einen jungen Mann und mich hinter unserem Protest-Banner "Schämt Euch". Im Hintergrund erkennt man Teile der Fahnenallee vor dem Uno-Hauptsitz in Genf.
  • Badestrand am Genfer See
  • Das Bild zeigt ein rot-gelbes Wasser-Taxi an einem Bootsanleger am Genfer See. Im Hintergrund sieht man eine gewaltige Wasserfontäne.
  • Blick aus dem Fenster eines fahrenden Zuges

#WirFahrenNachGenf

Morgen fliege ich nach Genf.

Dort treffe ich mich mit Eltern aus ganz Deutschland.

Die meisten dieser Eltern kenne ich bisher noch gar nicht.

Doch ich weiß: Wir haben eins gemeinsam.

Wir alle haben Kinder mit Behinderungen.

Und wir alle sind unzufrieden.

Unzufrieden, weil es mit der inklusiven Bildung in Deutschland nicht voran geht.

Das Bild zeigt ein weißes Ausflugsboot auf einem See.
Am Bug des Bootes weht die Flagge der Schweiz. Im Hintergrund sieht man schneebedeckte Berggipfel.

Zwei Tage lang werden wir in Genf protestieren.

Für alle Welt deutlich sichtbar.

Auf dem Platz der Nationen. Unmittelbar gegenüber dem Büro der Vereinten Nationen.

Während wir draußen vor dem UNO-Gebäude stehen, findet drinnen die Staatenprüfung Deutschlands statt.

Mit dieser Prüfung will die UNO herausfinden:

Was hat die Bundesregierung unternommen, um die vor 14 Jahren unterzeichnete UN-Behindertenrechtskonvention in Deutschland umzusetzen?

Auf dem Bild sieht man die Allee der Flaggen aller Mitgliedstaaten der UNO direkt vor dem UNO-Gebäude in Genf.

Wir Eltern, die nach Genf reisen, sind uns einig:

Was Inklusion in Schulen angeht, ist in den letzten 14 Jahren viel zu wenig bis gar nichts passiert:

  • Nach wie vor gibt es in allen Bundesländern gut ausgebaute schulische Sondersysteme.
  • Überall fehlen konkrete Zeitpläne und Konzepte zur Realisierung eines inklusiven Bildungssystems.
  • Was am schwersten wiegt: Es fehlt der politische Wille, inklusive Bildung tatsächlich umzusetzen.

Hamburg und Bremen haben als einzige Bundesländer das Recht auf inklusive Bildung in ihren Schulgesetzen verankert.

Allerdings hat sich Hamburg mit dem Festhalten am sogenannten Elternwahlrecht die Hintertür zum alten Sondersystem weit offen gelassen.

Immer noch werden in Hamburg weit über 4.000 Kinder und Jugendliche mit Behinderungen exklusiv an Sonderschulen unterrichtet. Mit steigender Tendenz. 

Ein Mensch steht auf einer Wiese. Das Bild zeigt den untersten Teil seiner Beine, seine roten Turnschuhe und die Wiese.

Mit unserer Kritik sind wir protestierenden Eltern nicht alleine.

Bereits im Vorfeld des Prüfverfahrens haben sich der Deutsche Behindertenrat, zahlreiche Elternvereine und –initiativen sowie das Deutsche Institut für Menschenrechte äußerst kritisch zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention in Deutschland geäußert.

Ihr Fazit:

Von einer umfassenden Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention ist Deutschland noch weit entfernt.

Nach wie bestimmen Ausschluss und Sondersysteme den Alltag von Menschen mit Behinderungen.

Nicht nur im Bildungsbereich, sondern so gut wie überall. 

Deutscher Behindertenrat – Parallelbericht zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) 2023 (deutscher-behindertenrat.de) 

Der UNO ist unser Föderalismus egal – mittendrin e.V. (mittendrin-koeln.de) 

Staatenberichtsverfahren | Institut für Menschenrechte (institut-fuer-menschenrechte.de)