Klaus Wicher, erster Landesvorsitzende des Sozialverbands Deutschland (SoVD) in Hamburg, warnte vor kurzem: Die Inklusion in Hamburgs Schulen laufe nicht störungsfrei.
„Vor allem fehlt es an ausreichend qualifizierten Schulbegleiter*innen. Das hat zur Folge, dass Kinder nicht richtig am Unterricht teilhaben können und benachteiligt werden. Ich empfehle der Stadt dringend neue Strukturen für die Betreuung und verweise auf Pool-Modelle, die in anderen Städten schon erfolgreich laufen.“ (Aktuelle Meldungen des SoVD, Landesverband Hamburg)
Das kann ich nur unterstützen!
Allein in meinem näheren Bekanntenkreis kenne ich aktuell drei Familien, deren Kinder häufig bis regelmäßig einen verkürzten Schultag haben, weil es an Schulbegleitung fehlt.
Schulbegleitung: Allgemeine gesetzliche Grundlagen
Artikel 24 der UN-Behindertenrechtskonvention sieht vor, dass alle Kinder einen Anspruch auf bestmögliche Bildung haben. Um dies sicherzustellen, verpflichten sich die Vertragsstaaten, ausreichende Vorkehrungen für Schülerinnen und Schüler mit Behinderung zur Verfügung zu stellen. Eine solche Vorkehrung ist die Schulbegleitung.
In Deutschland fußte der Anspruch auf Schulbegleitung bis 2018 auf zwei verschiedenen gesetzlichen Grundlagen:
Kinder und Jugendliche mit körperlicher oder geistiger Behinderung hatten die Möglichkeit, eine Schulbegleitung nach § 54 SGB XII zu beantragen. Zuständig für diese Leistung war die Eingliederungshilfe.
Für Kinder und Jugendliche mit drohender oder vorhandener seelischer Behinderung regelte die Kinder- und Jugendhilfe den Bedarf. Grundlage hierfür war § 35a SGB VIII .
Seit dem 1. Januar 2017 tritt in Deutschland das neue Bundesteilhabegesetz stufenweise in Kraft.
Ab dem 1. Januar 2018 wurde die Eingliederungshilfe für Kinder und Jugendliche mit Behinderungen den für alle Rehabilitationsträger geltenden allgemeinen Regeln des Teils 1 und 2 des SGB IX unterworfen und zwar unabhängig davon, ob sie aus dem SGB XII oder dem SGB VIII zu leisten ist.
Zum 1. Januar 2020 wurde die Eingliederungshilfe aus dem SGB XII herausgelöst. Sie wird nun im zweiten Teil des SGB IX als „Besondere Leistungen zur selbstbestimmten Lebensführung für Menschen mit Behinderung“ geregelt. Gleichzeitig wurde § 35a SGB VIII an die Eingliederungshilfe des SGB IX (Teil 2) angepasst.
Schulbegleitung: der Hamburger Weg
Hamburg beschritt mit Einführung der Inklusion seinen eigenen Weg in Sachen Schulbegleitung.
Um Familien mit behinderten Kindern möglichst zu entlasten, beschloss der Hamburger Senat 2014/2015, die Zuständigkeit für Schulbegleitung an die Behörde für Schule und Berufsbildung zu übertragen. Die Auswahl des Lernortes, die Zusammensetzung der Klassen und die Ausstattung der Schulen sollten von nun an so gestaltet werden, dass die Gewährung individueller Eingliederungsleistungen überflüssig würde.
Das hört sich nach einer guten Entscheidung für Schülerinnen und Schüler mit Behinderung an!
Allerdings: Bei der Beantragung und Organisation von Schulbegleitung hielt die Behörde für Schule und Berufsbildung an der Unterscheidung zwischen (drohenden) seelischen Beeinträchtigungen auf der einen und körperlichen oder geistigen Behinderungen auf der andern Seite fest.
So blieb es weiterhin kompliziert.
Benötigen Schülerinnen und Schüler mit komplexen psychosozialen Beeinträchtigungen eine Schulbegleitung, sind seit April 2014 die Regionalen Bildungs- und Beratungszentren (ReBBZ) zuständig.
Einen Antrag auf Schulbegleitung über das ReBBZ kann nur die Schule stellen, nicht die Sorgeberechtigten eines Kindes. Damit ist Sorgeberechtigten das Recht auf Widerspruch verwehrt, wenn das ReBBZ den Antrag auf Schulbegleitung ablehnt. Sieht die Schule keinen Bedarf an Schulbegleitung oder zögert eine Antragstellung aus unterschiedlichen Gründen heraus, sind Sorgeberechtigte so gut wie machtlos.
Die ReBBZ sehen Schulbegleitung vorrangig als pädagogische Maßnahme. Ziel ist es, ein Kind in seiner Entwicklung so zu fördern, dass es perspektivisch keine Schulbegleitung mehr benötigt. Schulbegleitungen über ein ReBBZ sind daher nie auf Dauer, sondern immer nur befristet. Meist muss eine Schulbegleitung jedes Schulhalbjahr neu beantragt werden.
Eltern von Kindern und Jugendlichen mit komplexen psychosozialen Beeinträchtigungen hören von den ReBBZ regelmäßig, dass Schulbegleitungen nie länger als für ein bis maximal zwei Jahre bewilligt werden, in der Regel nie über 20 Stunden/Woche hinausgehen und spätestens ab der achten Klasse generell nicht mehr möglich seien.
Zwar ist dies nirgendwo festgeschrieben, soll aber vermutlich dazu dienen, die Kosten für Schulbegleitung nicht noch weiter ansteigen zu lassen.
Denn: Während Hamburg 2011 nur ca. 3 Millionen Euro Euro für Schulbegleitung ausgab, waren es 2020 mehr als 15 Millionen Euro.
Verantwortlich für die Suche und Einstellung einer Schulbegleitung ist das ReBBZ. Eltern sind an der Auswahl der Schulbegleitung für ihr Kind nicht beteiligt.
Weiterführende Informationen finden Sie hier:
Brauchen Schülerinnen und Schüler mit erheblichem oder umfassenden Unterstützungsbedarf im Bereich der geistigen oder körperlich-motorischen Entwicklung eine Schulbegleitung, regelt dies seit September 2021 die stellvertretende Abteilungsleitung der neu geschaffenen Abteilung B 4 – Inklusive Bildung innerhalb der Schulbehörde. Zwischen Mai 2015 und August 2021 lag das Verfahren in den Händen der Schulaufsicht spezielle Sonderschulen.
Auch bei Schülerinnen und Schülern mit erheblichem oder umfassenden Unterstützungsbedarf im Bereich der geistigen oder körperlich-motorischen Entwicklung ist eine Bedarfsklärung durch die Schule vorgesehen. Allerdings haben Sorgeberechtigte hier die Möglichkeit, einen eigenen Antrag auf Schulbegleitung zu stellen. Die Entscheidung über diesen Antrag wird Sorgeberechtigten über einen rechtsmittelfähigen Bescheid mitgeteilt. Somit haben sie die Möglichkeit, gegen die Entscheidung Widerspruch einzulegen.
Schulbegleitungen für Schülerinnen und Schüler mit erheblichem oder umfassenden Unterstützungsbedarf im Bereich der geistigen oder körperlich-motorischen Entwicklung werden als notwendige Unterstützungsmaßnahmen angesehen, um das Recht behinderter Kinder und Jugendlicher auf Teilhabe an Bildung sicher zu stellen.
Es wird davon ausgegangen, dass der Bedarf dieser Kinder und Jugendlichen weitgehend konstant bleibt. Eine generelle zeitliche Befristung der Schulbegleitung ist daher nicht vorgesehen. Trotzdem muss die Schulbegleitung jährlich neu beantragt werden.
Bei Schülerinnen und Schülern mit erheblichem oder umfassenden Unterstützungsbedarf im Bereich der geistigen oder körperlich-motorischen Entwicklung, denen eine persönliche Schulbegleitung zugesprochen wurde, liegt es in den Händen der Sorgeberechtigten, eine geeignete Schulbegleitung zu finden und einzustellen. Dabei sollen Sorgeberechtigte von der Schule unterstützt werden.
Weitere Informationen finden Sie hier:
Topp oder Flopp? Warum eine Reform der Schulbegleitung in Hamburg dringend nötig ist
Die bisherige Organisation von Schulbegleitung durch die Behörde für Schule und Berufsbildung hat gleich mehrere Schwachstellen:
- Die unterschiedlichen Zuständigkeiten innerhalb der Behörde und die Unterschiede bei der Beantragung und Organisation von Schulbegleitung machen das gesamte Verfahren für Lehrer, Eltern und Schüler sehr unübersichtlich und schwer verständlich.
- Die regelhaften Befristungen und Unsicherheiten bei der Weiterbewilligung von Schulbegleitung verhindern Kontinuität und Verlässlichkeit. Oftmals sind Schulbegleiterstellen bei Beginn eines Schuljahrs noch nicht besetzt.
- Verschärfend kommt hinzu, dass es keine Vertretungen bei Schulbegleitung gibt. Fällt ein Schulbegleiter aus, geht das unterstützte Kind häufig nicht in die Schule.
- Befristete Arbeitsverträge, keine Beschäftigung während der Ferien und eine meist dürftige Bezahlung haben zur Folge, dass es kaum qualifizierte Schulbegleiter gibt. Nicht selten sind es junge Menschen im Freiwilligen Sozialen Jahr, die Schulbegleitungen übernehmen.
- Mit dem Bundesteilhabegesetz wurde ein neues Verständnis von Behinderung eingeführt:
„Menschen mit Behinderungen sind Menschen, die körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen haben, die sie in Wechselwirkung mit einstellungs- und umweltbedingten Barrieren an der gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate hindern können“ (§ 2 Abs. 1 SGB IX).
Damit wird Behinderung nicht mehr ausschließlich als Eigenschaft und Defizit einer Person gesehen. Stattdessen werden – in Übereinstimmung mit der UN-Behindertenrechtskonvention – gesundheitliche Beeinträchtigungen im Zusammenspiel mit Kontextfaktoren sowie mit den Interessen und Wünschen der betroffenen Menschen betrachtet.
Bei der Vorgehensweise in Hamburg begründen ausschließlich erhebliche, umfassende oder komplexe Defizite von Kindern und Jugendlichen die Notwendigkeit einer Schulbegleitung.
- Erschwerend kommt hinzu: Komplexe psychosoziale Beeinträchtigungen werden von der Behörde für Schule und Berufsbildung nicht als Behinderung gesehen. Daraus ergibt sich eine Ungleichbehandlung von Schülerinnen und Schülern mit seelischen Beeinträchtigungen, die nicht im Einklang steht mit den Vorgaben der UN-Behindertenrechtskonvention und des Bundesteilhabegesetzes.
- Es gibt Behinderungen, die sich nur schwer oder gar nicht in das Verfahren der Behörde für Schule und Berufsbildung einordnen lassen. Dazu zählen besonders die sogenannten unsichtbaren Behinderungen wie Autismus und FASD.
Verhaltensauffälligkeiten von Kindern und Jugendlichen mit FASD zum Beispiel werden von der Schulbehörde gerne als komplexe psychosoziale Beeinträchtigungen eingestuft. Allerdings sind diese Verhaltensauffälligkeiten Folge einer Gehirnschädigung, daher langfristig und nicht durch Pädagogik heilbar.
Eltern von Kindern und Jugendlichen mit FASD gehen in Hamburg inzwischen dazu über, bei der Eingliederungshilfe ein persönliches Budget zu beantragen, um darüber eine verlässliche und ausreichende schulische Assistenz zu finanzieren. Mit Erfolg.
Mein Wunsch für eine „Inklusionsmetropole“ Hamburg:
Eine Neuorganisation von Schulbegleitung, die
Sorgeberechtigte entlastet,
verständlich, einheitlich und transparent ist,
sich am individuellen Bedarf orientiert,
Verlässlichkeit und Kontinuität schafft,
fachliche Standards setzt und prüft
und so Teilhabe an Bildung für alle möglich macht!