Gemeinsam mit 30 weiteren Eltern von Kindern mit Behinderungen aus ganz Deutschland.
Zusammen haben wir zwei Tage lang vor dem europäischen Hauptsitz der Vereinten Nationen in Genf protestiert:
Für inklusive Bildung und eine zügige Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention in Deutschland.
Während wir draußen auf dem Platz der Nationen gegenüber dem Besuchereingang der Vereinten Nationen mit unserem großen Banner unübersehbar waren, tagte im Innern des Gebäudes der Uno-Fachausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen.
Zum zweiten Mal prüften Expertinnen und Experten der Vereinten Nationen die Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention in Deutschland.
Bereits nach der ersten Prüfung 2015 hatte der Uno-Fachausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen die Bundesregierung gerügt, zu wenig für die Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention in Deutschland zu tun.
Diesmal erging es Deutschland nicht besser.
Sowohl der Behindertenbeauftragte der Bundesregierung, Jürgen Dusel, wie auch Vertreter des Deutschen Instituts für Menschenrechte erklärten dem Uno-Fachausschuss:
In sehr vielen Lebensbereichen ist Deutschland nach wie vor noch weit entfernt von Inklusion.
Mehr als die Hälfte aller Kinder und Jugendlichen mit Behinderungen werden in Sonderschulen unterrichtet.
Mehr als 300.000 Menschen mit Behinderungen arbeiten in Werkstätten für behinderte Menschen.
Fast 200.000 Menschen mit Behinderungen leben in besonderen Einrichtungen für Menschen mit Behinderungen.
Bereits diese Aussagen ließen die deutsche Regierungsdelegation mehr als blass aussehen. Diese hatte noch zu Anfang der Ausschuss-Sitzung von „großen Fortschritten“ und „wichtigen Paradigmenwechseln“ in der deutschen Behindertenpolitik gesprochen.
Die Mitglieder des Uno-Fachausschusses selbst hatten sich vorab sehr gut informiert über den Stand der Inklusion in Deutschland. Mit fundierten Anmerkungen und Fragen machten sie deutlich:
In keinem andern Land der Welt ist die Segregation so tief verankert wie in Deutschland. Sowohl in der Gesetzgebung wie auch im alltäglichen Leben.
Historisch gewachsene Sonderstrukturen verhindern nach wie vor die Selbstbestimmung und Teilhabe von Menschen mit Behinderungen. Dies ist nicht vereinbar mit der UN-Behindertenrechtskonvention.
Die deutsche Politik betrachtet Menschen mit Behinderungen als besonders „verletzlich“ und „schutzbedürftig“. Diese Sicht auf Behinderung deckt sich nicht mit der UN-Behindertenrechtskonvention.
Vielmehr birgt diese Sichtweise zusätzliche Gefahren für Menschen mit Behinderungen. Gerade in den zum „Schutz“ eingerichteten Sondersystemen sind Menschen mit Behinderungen verstärkt Zwang und Gewalt ausgesetzt.
Die Vize-Präsidentin des Uno-Fachausschusses, Amalia Gamio Rios aus Mexiko, mahnte: „Deutschland muss die UN-Behindertenrechtskonvention nicht nur ein bisschen umsetzen, sondern umfassend.“ Dazu brauche es deutlich mehr Anstrengung von Bund und Ländern.
Uns Eltern draußen auf dem Platz vor den Vereinten Nationen besuchte Amalia Gamio Rios bereits am ersten Tag der Staatenprüfung.
Sichtlich aufgewühlt erklärte sie:
„Deutschland hat nichts begriffen.“
„Es ist unfassbar, dass ein so reiches Land so wenig tut.“
„Diese Prüfung wird nicht gut ausgehen.“
Für Mitte September werden die schriftlichen Abschluss-Ergebnisse der Staatenprüfung erwartet. Als Mutter erhoffe ich mir klare und konkrete Handlungsempfehlungen an die Bundesregierung. Die werde ich dann als Richtschnur nutzen, wenn ich wieder einmal um die Menschenrechte meines Kindes mit Behinderung kämpfen muss.
Dort treffe ich mich mit Eltern aus ganz Deutschland.
Die meisten dieser Eltern kenne ich bisher noch gar nicht.
Doch ich weiß: Wir haben eins gemeinsam.
Wir alle haben Kinder mit Behinderungen.
Und wir alle sind unzufrieden.
Unzufrieden, weil es mit der inklusiven Bildung in Deutschland nicht voran geht.
Zwei Tage lang werden wir in Genf protestieren.
Für alle Welt deutlich sichtbar.
Auf dem Platz der Nationen. Unmittelbar gegenüber dem Büro der Vereinten Nationen.
Während wir draußen vor dem UNO-Gebäude stehen, findet drinnen die Staatenprüfung Deutschlands statt.
Mit dieser Prüfung will die UNO herausfinden:
Was hat die Bundesregierung unternommen, um die vor 14 Jahren unterzeichnete UN-Behindertenrechtskonvention in Deutschland umzusetzen?
Wir Eltern, die nach Genf reisen, sind uns einig:
Was Inklusion in Schulen angeht, ist in den letzten 14 Jahren viel zu wenig bis gar nichts passiert:
Nach wie vor gibt es in allen Bundesländern gut ausgebaute schulische Sondersysteme.
Überall fehlen konkrete Zeitpläne und Konzepte zur Realisierung eines inklusiven Bildungssystems.
Was am schwersten wiegt: Es fehlt der politische Wille, inklusive Bildung tatsächlich umzusetzen.
Hamburg und Bremen haben als einzige Bundesländer das Recht auf inklusive Bildung in ihren Schulgesetzen verankert.
Allerdings hat sich Hamburg mit dem Festhalten am sogenannten Elternwahlrecht die Hintertür zum alten Sondersystem weit offen gelassen.
Immer noch werden in Hamburg weit über 4.000 Kinder und Jugendliche mit Behinderungen exklusiv an Sonderschulen unterrichtet. Mit steigender Tendenz.
Mit unserer Kritik sind wir protestierenden Eltern nicht alleine.
Bereits im Vorfeld des Prüfverfahrens haben sich der Deutsche Behindertenrat, zahlreiche Elternvereine und –initiativen sowie das Deutsche Institut für Menschenrechte äußerst kritisch zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention in Deutschland geäußert.
Ihr Fazit:
Von einer umfassenden Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention ist Deutschland noch weit entfernt.
Nach wie bestimmen Ausschluss und Sondersysteme den Alltag von Menschen mit Behinderungen.
Nicht nur im Bildungsbereich, sondern so gut wie überall.
Vor kurzem hat das Deutsche Institut für Menschenrechte seinen Jahresbericht 2021/22 über die Menschenrechts-Situation in Deutschland veröffentlicht.
Im Mittelpunkt des Berichts steht diesmal die inklusive Bildung für Kinder und Jugendliche mit Behinderung. Mit sehr ernüchternden Ergebnissen:
Noch immer haben zu viele Kinder und Jugendliche mit Behinderung in Deutschland keinen diskriminierungsfreien Zugang zu einem inklusiven Schulsystem.
Viele Landesregierungen bekennen sich zwar vordergründig zu einer inklusiven Bildung. Trotzdem halten sie am Sonderschulsystem für Schüler mit Behinderung fest.
Immer noch werden mehr als die Hälfte aller Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf exklusiv an Förder- und Sonderschulen unterrichtet.
Die meisten dieser Schülerinnen und Schüler verlassen die Schule ohne Abschluss.
Als LeuchttürmefürinklusiveBildung gelten in Deutschland nur wenige Bundesländer, unter ihnen Hamburg.
Im Oktober 2009 beschloss die Hamburgische Bürgerschaft einstimmig eine Änderung des Hamburgischen Schulgesetzes. Seitdem haben Kinder und Jugendliche mit sonderpädagogischem Förderbedarf in Hamburg das Recht, allgemeine Schulen zu besuchen.
Im Juni 2012 verabschiedete die Hamburgische Bürgerschaft die Drucksache „Inklusive Bildung an Hamburgs Schulen„. Diese Drucksache enthält das Konzept, auf der die inklusive Umgestaltung des Hamburger Schulsystems fußt. Gleichzeitig war diese Drucksache der Startschuss für die praktische Umsetzung der Inklusion an Hamburgs Schulen.
Inzwischen sind 10 Jahre vergangen. Wie steht es um die inklusive Bildung für Kinder und Jugendliche mit Behinderung in Hamburg im Jahr 2022?
Ein Zeiger für den Stand von inklusiver Bildung ist die sogenannte Exklusionsquote.
Die Exklusionsquote zeigt, wie sich der Anteil der Schülerinnen und Schüler an Sonderschulen im Verhältnis zur Gesamtzahl aller Schüler entwickelt.
Zu Beginn des inklusiven Umbaus des Hamburger Schulsystems betrug die Exklusionsquote 3,6. Das heißt, 3,6 Prozent aller Schüler in Hamburg wurden 2012 exklusiv in Sonderschulen unterrichtet.
Sechs Jahre später lag die Exklusionsquote bei 2,4. Ein beeindruckendes Ergebnis.
Allerdings: In den letzten vier Jahren ist die Zahl der Schüler an Sonderschulen annähernd gleich geblieben. Dementsprechend stagniert die Exklusionsquote.
Was sind das für Schüler, die nach wie vor an Sonderschulen unterrichtet werden?
Gut die Hälfte aller rund 4400 weiterhin nicht inkludierten Schülerinnen und Schüler hat einen speziellen Förderbedarf in den Bereichen geistige Entwicklung, körperlich-motorische Entwicklung, Hören, Sehen oder Autismus.
Diese Schüler werden in Hamburg an sogenannten speziellen Sonderschulen unterrichtet.
Betrachtet man die Entwicklung der Schülerzahlen an den speziellen Sonderschulen in den letzten 10 Jahren, zeigt sich ein frustrierendes Bild:
Seit Einführung der schulischen Inklusion vor 10 Jahren ist es in Hamburg nicht gelungen, die Zahl der an speziellen Sonderschulen unterrichteten Schüler zu verringern.
Die meisten Schüler mit speziellen Förderbedarfen nehmen an inklusiver Bildung weiterhin nicht teil.
Woran liegt das?
Zwar hat seit Einführung der Inklusion jedes Kind mit Behinderung das Recht, eine Regelschule zu besuchen. Allerdings muss es keine Regelschule besuchen.
Hamburg hielt 2012 am sogenannten Elternwahlrecht fest. Das bedeutet: Eltern und Sorgeberechtigte sollen wählen können, ob ihr Kind mit Behinderung eine Regelschule oder eine Sonderschule besucht.
Um dieses Elternwahlrecht sicherzustellen, blieben die speziellen Sonderschulen trotz Einführung der schulischen Inklusion unverändert erhalten.
Die Begutachtung spezieller Förderbedarfe findet nach wie vor an den speziellen Sonderschulen statt.
Außerdem bieten die speziellen Sonderschulen mit Fahrdiensten und gesicherter Ganztagsbetreuung ein jahrelang erprobtes „Rundum-sorglos-Paket“ an.
Dagegen ist die inklusive Beschulung eines Kindes mit Behinderung an einer Regelschule nach wie vor ein Abenteuer mit vielen Hindernissen. Ein Abenteuer, das enorme Kraft, starke Nerven, Durchhaltevermögen und Eigeninitiative von Eltern fordert. Und das mit einem zunehmenden Fachkräftemangel immer schwerer zu bewältigen wird.
Die zweite Hälfte der noch nicht inkludierten Schüler hat einen sonderpädagogischen Förderbedarf in den Bereichen Lernen, Sprache oder emotional-soziale Entwicklung.
Bis 2012 wurden Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf in den Bereichen Lernen, Sprache oder emotional-soziale Entwicklung in Hamburg überwiegend an Förderschulen (ehemalige Lernbehinderten-Schulen) unterrichtet.
2012 wurden diese Förderschulen zusammen mit Sprachheilschulen und regionalen Beratungs- und Unterstützungsstellen (REBUS) zu Regionalen Bildungs- und Beratungszentren (ReBBZ) zusammengefasst. Dieser Schritt fand bundesweit viel Beachtung und wurde als „Abschaffung der Förderschulen“ gelobt.
Allerdings: Durch das Festhalten am Elternwahlrecht behielten auch Eltern von Kindern mit sonderpädagogischen Förderbedarfen einen Anspruch auf einen Schulplatz im Sondersystem. Daher blieb es eine zentrale Aufgabe der Regionalen Bildungs- und Beratungszentren, Schüler mit sonderpädagogischen Förderbedarfen auf Dauer zu unterrichten.
Die Folge: Unter dem Deckmantel der Regionalen Bildungs- und Beratungszentren blieben offiziell abgeschaffte Förderschulen weiter erhalten.Seit einigen Jahren werden sie als ReBBZ-Schulen ganz offen wieder unter Sonderschulen gelistet.
Die UN-Behindertenrechtskonvention sagt:
Alle Schüler sollen zusammen lernen und aufwachsen – unabhängig davon, ob sie eine Behinderung haben oder nicht.
Das funktioniert nur in einem inklusiven Bildungssystem für alle. Dieses muss kontinuierlich ausgebaut werden.
Im Gegenzug müssen Förder- und Sonderschulen nach und nach abgebaut werden.
Gemessen an den Vorgaben der UN-Behindertenrechtskonvention zeigt sich die inklusive Bildung in Hamburg im Jahr 2022 alles andere als vorbildlich:
Nach wie vor gibt es ein gut ausgebautes schulisches Sondersystem in der Stadt.
Dort werden seit Jahren kontinuierlich weit über 4.000 Kinder und Jugendliche exklusiv beschult. Mit steigender Tendenz.
Perspektiven, dass sich daran etwas ändert, sind nicht in Sicht.
Ja, es stimmt. Hamburg hat 2009 das Recht auf inklusive Bildung in seinem Schulgesetz verankert. Das war ein mutiger und wichtiger Schritt!
Doch dann ist Hamburg nicht weitergegangen.
Vielmehr hat sich die Stadt über das Elternwahlrecht die Hintertür zum alten Sondersystem weit offen gehalten.
Das Deutsche Institut für Menschenrechte findet in seinem aktuellen Jahresbericht deutliche Worte, was das Elternwahlrecht angeht:
Das Elternwahlrecht steht im Widerspruch zum Auftrag der UN-Behindertenrechtskonvention.
Aufgabe eines Staates ist es, ein inklusives Bildungssystem aufzubauen, das den Bedarfen aller Schüler gerecht wird. Unabhängig davon, ob ein Schüler eine Beeinträchtigung hat oder nicht.
Eltern sollen erst gar nicht vor der Wahl stehen müssen, ob sie ihr Kind mit Behinderung an einer Regelschule oder besser an einer Sonderschule beschulen lassen sollen.
Der Verantwortung, ein inklusives Bildungssystem aufzubauen, kann sich Deutschland nicht über „das Konstrukt des Elternwillens“ entledigen.
Eigentlich wollte unser behindertes Kind direkt nach der Schule mit einer betrieblichen Ausbildung beginnen. So wie seine nicht behinderten Freunde auch.
Dazu hat unser Kind über ein Jahr lang Praktika gemacht, in unterschiedlichen Einrichtungen und Betrieben.
Am Ende der Praktika gab es von allen Seiten nur gute Rückmeldungen. Trotzdem hat unser Kind nach Abschluss der Schule mit keiner Ausbildung begonnen.
Hat sich unser Kind nicht ausreichend angestrengt? Hätten wir als Eltern mehr unterstützen müssen?
Inzwischen weiß ich:
Es liegt nicht an unserem Kind oder an uns, dass es mit einem nahtlosen Wechsel von der Schule in die Ausbildung nicht geklappt hat. Es liegt an einer strukturellen Diskriminierung von jungen Menschen mit Behinderung.
Nurwenigen Jugendlichen mit Behinderung gelingt in Deutschland ein nahtloser Wechsel von der Schule in eine betriebliche Ausbildung.
Etwas mehr schaffen den nahtlosen Wechsel in eine überbetriebliche Ausbildung.
Jugendliche mit einer geistigen oder psychischen Behinderung wechseln besonders häufig direkt nach der Schule in eine Werkstatt für behinderte Menschen.
Die meisten Jugendlichen mit Behinderung werden nach Schulende zunächst in Maßnahmen des sogenannten Übergangsbereich vermittelt.
Der Übergangsbereich ist für Jugendliche gedacht, die nach dem Ende ihrer Schulzeit noch keinen Ausbildungsplatz gefunden haben.
Ziel des Übergangbereichs ist es, die Ausbildungschancen dieser Jugendlichen zu verbessern.
Eine Vielzahl regional sehr unterschiedlicher Programme und Maßnahmen sollen die Berufsorientierung stärken und eine erste berufliche Qualifizierung ermöglichen. Auch Schulabschlüsse können im Übergangsbereich nachgeholt werden.
Allerdings führen die Angebote des Übergangbereichs zu keinem Berufsabschluss. Auf eine spätere Ausbildung werden sie nicht angerechnet.
Angelegt ist der Übergangsbereich als Notfallplan. Und damit als ein Plan B.
Ein Plan B, der nur dann in Kraft tritt, wenn es mit Plan A (dem nahtlosen Wechsel in eine Ausbildung) nicht geklappt hat.
Den meisten Jugendlichen ohne Behinderung gelingt in Deutschland tatsächlich ein nahtloser Wechsel von der Schule in eine Ausbildung. Für sie erübrigt sich damit der Übergangsbereich.
Anders sieht dies bei Jugendlichen mit Behinderung aus.
Für die meisten behinderten Jugendlichen ist der Übergangsbereich bereits Plan A und damit fester Bestandteil ihres Lebenslaufs.
Viele Lehrer und Berufsberater an den inklusiven Stadtteilschulen in Hamburg gehen einfach davon aus, dass behinderte Jugendliche nach Abschluss ihrer 10jährigen Schulzeit automatisch in ein sogenanntes Ausbildungsvorbereitungsjahr wechseln.
Auch bei unserem Kind war das so.
Den behinderten Jugendlichen und ihren Eltern wird gesagt:
Durch das Ausbildungsvorbereitungsjahr lässt sich das in Hamburg geltende 11. Pflichtschuljahr erfüllen. (Dass sich das 11. Pflichtschuljahr auch über den Besuch einer Berufsschule während des ersten Ausbildungsjahres erfüllen lässt, bleibt unerwähnt.)
Oft heißt es auch:
Jugendliche mit Behinderung sind nach dem Ende ihrer Schulzeit noch nicht reif für eine Ausbildung.
Beides hat zur Folge, dass sich behinderte Jugendliche während ihrer Schulzeit in der Regel erst gar nicht mit der Suche nach einem Ausbildungsplatz beschäftigen.
In der Agentur für Arbeit ist meist die sogenannte Reha-Abteilung für Menschen mit Behinderung zuständig.
In Hamburg beginnen die Berufsberater der Reha-Abteilung ihre Vermittlungstätigkeit generell erst am Ende der 11jährigen Pflicht-Schulzeit.
Damit wird das Ausbildungsvorbereitungsjahr im Anschluss an die 10jährige Schulzeit für inklusiv beschulte behinderte Jugendliche zum Pflichtjahr.
Und es geht noch weiter.
Am Ende des Ausbildungsvorbereitungsjahres empfehlen Hamburgs Reha-Berater oftmals die Teilnahme an einer weiteren berufsvorbereitenden Bildungsmaßnahme.
Das heißt: Behinderte Jugendliche sollen möglichst ein weiteres Jahr im Übergangsbereich verbleiben. Um weiterhin bestehende „Defizite“ auszugleichen.
Nur so lasse sich die Chance auf den erfolgreichen Abschluss einer anschließenden Ausbildung vergrößern.
Allerdings zeigt die Praxis: Genau das Gegenteil ist der Fall!
Je länger ein behinderter Jugendlicher im Übergangsbereich verbleibt, umso schlechter werden seine Chancen auf eine erfolgreiche Ausbildung und eine anschließende Beschäftigung auf dem 1. Arbeitsmarkt.
Viele sagen daher:
Der Übergangsbereich ist wie eine Black Box. Wer einmal im Übergangsbereich ist, dem gelingt kaum noch der Sprung in Ausbildung und Beschäftigung.
Der Übergangsbereich ist ein Sondersystem, das gegen die UN-Behindertenrechtskonvention verstößt.
Einzige Aufgabe dieses Sondersystems ist es, ausschließlich defizitär definierte Gruppen von Jugendlichen aufzufangen, denen ein nahtloser Wechsel von Schule in Ausbildung verwehrt wird.
Durch das dauerhafte Bereitstellen dieses Sondersystems müssen sich bestehende Exklusionsmechanismen des Arbeitsmarkts nicht ändern. Inklusion wird verhindert.
Vor 10 Jahren wurde in Hamburg die schulische Inklusion eingeführt.
Nun – 10 Jahre später – verlassen die ersten inklusiv beschulten Jugendlichen mit Behinderung die Regelschulen.
Wie geht es für sie weiter? Wie sieht ihre berufliche Zukunft aus? Welche Berufe wollen und können sie ergreifen? Wer hilft ihnen bei Berufswahl und Ausbildung?
Die UN-Behindertenrechtskonvention benennt klar und deutlich, wie inklusive Arbeit und Berufsbildung aussehen sollen:
Alle Menschen haben das Recht auf frei gewählte und gerecht bezahlte Arbeit, damit sie ihren Lebensunterhalt selbst verdienen können.
Um dieses Recht zu verwirklichen, müssen Arbeitsmarkt und Arbeitsumfeld inklusiv gestaltet und auch für Menschen mit Behinderung zugänglich sein.
Entscheidend für den späteren Berufsweg eines Menschen sind schulische und berufliche Bildung.
An ein inklusives Schulwesen muss sich ein inklusives Ausbildungswesen anschließen.
Berufsorientierung und Berufsvorbereitung sind inklusiv zu gestalten.
Menschen mit und ohne Behinderung sollen gemeinsam in Betrieben oder Schulen/Hochschulen ausgebildet werden.
Alle anerkannten Berufe sollen auch für Menschen mit Behinderung zugänglich sein. Wo nötig, müssen unterstützende individuelle Vorkehrungen getroffen werden.
Sonderausbildungen für Menschen mit Behinderung müssen abgeschafft werden.
Anstatt auf Gleichbehandlungsgebote und gleiche Leistungsanforderungen zu drängen, sollen Kreativität und Vielfalt gestärkt werden.
Ausgehend von diesen Punkten frage ich:
Wie inklusiv ist die berufliche Bildung in Hamburg inzwischen aufgestellt?
Im Juli hat unser behindertes Kind die Stadtteilschule ohne Abschluss beendet.
Eigentlich wollte es im Anschluss mit einer betrieblichen Ausbildung starten – so wie seine besten (nicht-behinderten) Freunde auch.
Doch während diese die Ausbildung längst begonnen haben, wartet unser Kind weiterhin auf eine klare, verlässliche Ausbildungsperspektive.
Dabei hat unser Kind ein Ausbildungsangebot – von einer Firma, in der es Praktikum gemacht hat und in der es seit drei Monaten erfolgreich jobbt.
Die Firma ist so zufrieden mit der Arbeit unseres Kindes, dass sie ihm die Möglichkeit zur Qualifizierung bieten möchte.
Die Firma weiß: Aufgrund seiner Behinderung schafft unser Kind keine reguläre Vollausbildung. Aber sie ist offen für alternative, inklusive Ausbildungswege.
Das Problem: Auch 13 Jahre nach Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention fehlen in Deutschland Vorgaben und Beispiele für eine inklusive Berufsausbildung.
Das Berufsbildungsgesetz (BBiG) legt fest, dass Menschen mit Behinderung vorrangig in einem anerkannten Ausbildungsberuf ausgebildet und die Verhältnisse behinderter Menschen berücksichtigt werden sollen (§ 65). Dies deckt sich mit den Forderungen der UN-Behindertenrechtskonvention.
Für Jugendliche, die aufgrund der Art und Schwere ihrer Behinderung keine reguläre Ausbildung schaffen, sieht das Berufsbildungsgesetz theoriereduzierte Fachpraktiker-Ausbildungen vor (§ 66). Bereits hier wird es problematisch.
Denn: Durch Fachpraktiker-Ausbildungen werden neue Sonderwelten für junge Menschen mit Behinderung geschaffen. Die Ausbildungen finden in speziellen Berufsschulen und überwiegend überbetrieblich statt. Der Beruf des Fachpraktikers ist ausschließlich für Menschen mit Behinderung gedacht und von Beginn an mit einer geringeren Entlohnung verbunden als bei regulären Berufen.
Hinzu kommt, dass Fachpraktiker-Ausbildungen zwar theoriereduziert, aber nicht individualisiert angelegt sind. Ausgehend von der Vorstellung, Leistungen vergleichbar machen zu müssen, setzen Fachpraktiker-Ausbildungen ein festgelegtes Maß an Wissen und Fähigkeiten voraus. Das heißt: Ein junger Mensch mit Behinderung muss sich an die Leistungsanforderungen der Ausbildung anpassen. Die Anpassung der Ausbildung an die individuellen Fähigkeiten und Bedürfnisse eines behinderten Menschen ist nicht möglich. Dadurch werden viele junge Menschen mit Lernbehinderung oder geistiger Behinderung von Fachpraktiker-Ausbildungen ausgeschlossen.
Für junge Menschen, die aufgrund ihrer Behinderung weder eine Vollausbildung noch eine Fachpraktiker-Ausbildung schaffen, bietet das Berufsbildungsgesetz die Möglichkeit, Qualifizierungsbausteine zu erwerben (§ 69).
Aufgabe von Qualifizierungsbausteinen ist es, „Grundlagen für den Erwerb beruflicher Handlungsfähigkeit“ zu vermitteln. Übersetzt heißt dies: Qualifizierungsbausteine sollen junge Menschen mit Beeinträchtigungen soweit fit machen, dass sie im Anschluss doch noch eine Ausbildung schaffen.
Der Erwerb von Qualifizierungsbausteinen ist auf berufliche Ausbildungsvorbereitungs-Maßnahmen begrenzt. Diese finden ausschließlich überbetrieblich in Sondereinrichtungen wie Werkstätten für behinderte Menschen statt. Erworbene Qualifikationen lassen sich nicht auf eine anschließende Ausbildung anrechnen.
Auch Qualifizierungsbausteine sind an einen festgelegten Leistungskatalog geknüpft. Wenn ein junger Mensch mit Behinderung nicht alle Anforderungen eines Qualifizierungsbausteins erfüllt, bleibt er auch hier bei der Qualifizierung außen vor.
Erschwerend kommt hinzu: Es ist äußerst aufwendig, normierte Vorgaben für Fachpraktiker-Ausbildungen und Qualifizierungsbausteine zu erstellen. Daher gibt es bisher nur eine sehr begrenzte Zahl an Berufen, in denen Fachpraktiker-Ausbildungen oder der Erwerb von Qualifizierungsbausteinen möglich sind. In Hamburg werden derzeit nur 5 (!) Fachpraktiker-Ausbildungen angeboten. Während nicht-behinderte junge Menschen zwischen vielen unterschiedlichen Berufen wählen können, ist behinderten Menschen eine echte Berufswahl somit nicht möglich.
Was bedeutet das für unser Kind mit Behinderung?
Zwar hat ein Betrieb unserem Kind eine Ausbildung in seinem Wunsch-Beruf angeboten. Trotzdem kann es diese Chance nicht nutzen, da es für diesen Beruf keine Fachpraktiker-Ausbildung gibt.
Selbst wenn es eine Fachpraktiker-Ausbildung für diesen Beruf gäbe, wäre es nicht sicher, ob unser Kind die dafür festgelegten theoretischen Anforderungen erfüllen könnte.
Qualifizierungsbausteine gibt es für den Wunsch-Beruf unseres Kindes ebenfalls nicht.
Es ist also völlig egal, wie gut sich unser Kind in der praktischen Arbeit vor Ort in seinem Wunsch-Beruf macht. So wie es zur Zeit aussieht, hat es nur eine einzige Perspektive: die Arbeit als Ungelernter in seinem Wunsch-Beruf.
Gleich zu Anfang seines Berufslebens erfahren zu müssen, dass man aufgrund seiner Behinderung keine Chance auf eine Berufsausbildung hat, ist hart und diskriminierend.Es verhindert eine gleichberechtigte soziale Teilhabe und verstößt gegen das Menschenrecht auf frei gewählte und gerecht bezahlte Arbeit.
Das Deutsche Institut für Menschenrechte hat 2020 in seinem 5. Bericht zur Entwicklung der Menschenrechtssituation in Deutschlandklargestellt:
Fachpraktiker-Ausbildungen sind exklusiv und stigmatisierend.
Durch Fachpraktiker-Ausbildungen werden junge Menschen mit Behinderung anders behandelt als junge Menschen ohne Behinderung. Ihre Leistungen werden als nicht ausreichend betrachtet. Ihre Ausbildung findet getrennt von der ihrer Altersgenossen statt.
Fachpraktiker-Ausbildungen schaffen neue Sonderwelten und verhindern, dass junge Menschen mit Behinderung einen Zugang zum ersten Arbeitsmarkt erhalten.
Dies lässt sich 1:1 auf eine Ausbildung über Qualifizierungsbausteine übertragen.