Eigentlich wollte unser behindertes Kind direkt nach der Schule mit einer betrieblichen Ausbildung beginnen. So wie seine nicht behinderten Freunde auch.
Dazu hat unser Kind über ein Jahr lang Praktika gemacht, in unterschiedlichen Einrichtungen und Betrieben.
Am Ende der Praktika gab es von allen Seiten nur gute Rückmeldungen.
Trotzdem hat unser Kind nach Abschluss der Schule mit keiner Ausbildung begonnen.
Hat sich unser Kind nicht ausreichend angestrengt? Hätten wir als Eltern mehr unterstützen müssen?
Inzwischen weiß ich:
Es liegt nicht an unserem Kind oder an uns, dass es mit einem nahtlosen Wechsel von der Schule in die Ausbildung nicht geklappt hat. Es liegt an einer strukturellen Diskriminierung von jungen Menschen mit Behinderung.
Nur wenigen Jugendlichen mit Behinderung gelingt in Deutschland ein nahtloser Wechsel von der Schule in eine betriebliche Ausbildung.
Etwas mehr schaffen den nahtlosen Wechsel in eine überbetriebliche Ausbildung.
Jugendliche mit einer geistigen oder psychischen Behinderung wechseln besonders häufig direkt nach der Schule in eine Werkstatt für behinderte Menschen.
Die meisten Jugendlichen mit Behinderung werden nach Schulende zunächst in Maßnahmen des sogenannten Übergangsbereich vermittelt.
Der Übergangsbereich ist für Jugendliche gedacht, die nach dem Ende ihrer Schulzeit noch keinen Ausbildungsplatz gefunden haben.
Ziel des Übergangbereichs ist es, die Ausbildungschancen dieser Jugendlichen zu verbessern.
Eine Vielzahl regional sehr unterschiedlicher Programme und Maßnahmen sollen die Berufsorientierung stärken und eine erste berufliche Qualifizierung ermöglichen. Auch Schulabschlüsse können im Übergangsbereich nachgeholt werden.
Allerdings führen die Angebote des Übergangbereichs zu keinem Berufsabschluss. Auf eine spätere Ausbildung werden sie nicht angerechnet.
Angelegt ist der Übergangsbereich als Notfallplan. Und damit als ein Plan B.
Ein Plan B, der nur dann in Kraft tritt, wenn es mit Plan A (dem nahtlosen Wechsel in eine Ausbildung) nicht geklappt hat.
Den meisten Jugendlichen ohne Behinderung gelingt in Deutschland tatsächlich ein nahtloser Wechsel von der Schule in eine Ausbildung. Für sie erübrigt sich damit der Übergangsbereich.
Anders sieht dies bei Jugendlichen mit Behinderung aus.
Für die meisten behinderten Jugendlichen ist der Übergangsbereich bereits Plan A und damit fester Bestandteil ihres Lebenslaufs.
Viele Lehrer und Berufsberater an den inklusiven Stadtteilschulen in Hamburg gehen einfach davon aus, dass behinderte Jugendliche nach Abschluss ihrer 10jährigen Schulzeit automatisch in ein sogenanntes Ausbildungsvorbereitungsjahr wechseln.
Auch bei unserem Kind war das so.
Den behinderten Jugendlichen und ihren Eltern wird gesagt:
Durch das Ausbildungsvorbereitungsjahr lässt sich das in Hamburg geltende 11. Pflichtschuljahr erfüllen. (Dass sich das 11. Pflichtschuljahr auch über den Besuch einer Berufsschule während des ersten Ausbildungsjahres erfüllen lässt, bleibt unerwähnt.)
Oft heißt es auch:
Jugendliche mit Behinderung sind nach dem Ende ihrer Schulzeit noch nicht reif für eine Ausbildung.
Beides hat zur Folge, dass sich behinderte Jugendliche während ihrer Schulzeit in der Regel erst gar nicht mit der Suche nach einem Ausbildungsplatz beschäftigen.
In der Agentur für Arbeit ist meist die sogenannte Reha-Abteilung für Menschen mit Behinderung zuständig.
In Hamburg beginnen die Berufsberater der Reha-Abteilung ihre Vermittlungstätigkeit generell erst am Ende der 11jährigen Pflicht-Schulzeit.
Damit wird das Ausbildungsvorbereitungsjahr im Anschluss an die 10jährige Schulzeit für inklusiv beschulte behinderte Jugendliche zum Pflichtjahr.
Und es geht noch weiter.
Am Ende des Ausbildungsvorbereitungsjahres empfehlen Hamburgs Reha-Berater oftmals die Teilnahme an einer weiteren berufsvorbereitenden Bildungsmaßnahme.
Das heißt: Behinderte Jugendliche sollen möglichst ein weiteres Jahr im Übergangsbereich verbleiben. Um weiterhin bestehende „Defizite“ auszugleichen.
Nur so lasse sich die Chance auf den erfolgreichen Abschluss einer anschließenden Ausbildung vergrößern.
Allerdings zeigt die Praxis: Genau das Gegenteil ist der Fall!
Je länger ein behinderter Jugendlicher im Übergangsbereich verbleibt, umso schlechter werden seine Chancen auf eine erfolgreiche Ausbildung und eine anschließende Beschäftigung auf dem 1. Arbeitsmarkt.
Viele sagen daher:
Der Übergangsbereich ist wie eine Black Box. Wer einmal im Übergangsbereich ist, dem gelingt kaum noch der Sprung in Ausbildung und Beschäftigung.
Das Deutsche Institut für Menschenrechte sagt:
Der Übergangsbereich ist ein Sondersystem, das gegen die UN-Behindertenrechtskonvention verstößt.
Einzige Aufgabe dieses Sondersystems ist es, ausschließlich defizitär definierte Gruppen von Jugendlichen aufzufangen, denen ein nahtloser Wechsel von Schule in Ausbildung verwehrt wird.
Durch das dauerhafte Bereitstellen dieses Sondersystems müssen sich bestehende Exklusionsmechanismen des Arbeitsmarkts nicht ändern. Inklusion wird verhindert.