Hamburgs Schulbegleitung im Praxis-Check – die wichtigsten Ergebnisse

Zwei Jahre lang haben Erziehungswissenschaftler der Universität Oldenburg zur Schulbegleitung in Hamburg geforscht.

Ihr Abschlussbericht ermöglicht erstmals umfassende Einblicke in die formalen Strukturen und die tatsächliche Umsetzung von Schulbegleitung in unserer Stadt.

Doch was genau haben die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler eigentlich herausgefunden?

Ein Mann mit Lupe in der Hand. Er blickt mit einem Auge durch die Lupe. Dadurch wird dieses Auge stark vergrößert.

1. Die rechtlichen Regelungen in Hamburg sehen Schulbegleitung als nachrangige Leistung der Eingliederungshilfe – nicht als Bildungsangebot.

Hamburgs Schulen haben den Auftrag, die Teilhabe an Bildung und Erziehung für alle Schülerinnen und Schüler sicherzustellen.

Und zwar durch ein individualisiertes Bildungsangebot verbunden mit entsprechenden Maßnahmen.

Reichen die schulischen Angebote und Maßnahmen im Einzelfall nicht aus, kann eine Schulbegleitung beantragt werden.

In Behördensprache heißt das: Die Schulbegleitung ist immer nachrangig.

Eine Schulbegleitung soll es dem einzelnen Schüler ermöglichen, gleichberechtigt am schulischen Alltag und Unterricht teilzunehmen.

Schulbegleitung ist also in erster Linie ein Mittel zur Teilhabe – kein Bildungsangebot.

Das wird oft missverstanden.

Eigentlich ist Schulbegleitung eine personengebundene Leistung der Eingliederungshilfe.

Nämlich im Rahmen der Leistungen zur Teilhabe an Bildung.

Allerdings hat die Stadt Hamburg die Zuständigkeit für diese Leistung an die Behörde für Schule und Bildung übertragen.

Zwei ca. 6jährige Mädchen blicken mit gebeugten Köpfen in ein Schulheft. Das linke Mädchen malt mit einem Stift in das Heft.

2. Es gibt in Hamburg zwei unterschiedliche Verfahren zur Beantragung und Bewilligung von Schulbegleitung.

Was Schulbegleitung angeht, unterscheidet Hamburg zwischen Schülerinnen und Schülern mit komplexen psychosozialen Beeinträchtigungen.

Und Schülerinnen und Schülern mit erheblichem oder umfassendem Unterstützungsbedarf in der geistigen und/oder körperlich-motorischen Entwicklung.

In die Gruppe der Schülerinnen und Schüler mit einer komplexen psychosozialen Beeinträchtigung fallen alle jungen Menschen, die einen sonderpädagogischen Förderschwerpunkt in der emotional-sozialen Entwicklung haben. Viele von ihnen haben zusätzlich den Förderschwerpunkt Lernen.

In die Gruppe der Schülerinnen und Schüler mit erheblichem oder umfassendem Unterstützungsbedarf aufgrund einer Behinderung fallen junge Menschen mit einem Förderschwerpunkt körperlich-motorische Entwicklung und/oder geistige Entwicklung,

Bei Schülerinnen und Schülern mit einer komplexen psychosozialen Beeinträchtigung erfolgt die Beantragung und Bewilligung der Schulbegleitung über die Schulen und die
Regionalen Bildungs- und Beratungszentren (ReBBZ).

Bei Schülerinnen und Schülern mit einem Förderschwerpunkt körperlich-motorische Entwicklung und/oder geistige Entwicklung ist die Fachabteilung der Behörde für Schule und Bildung zuständig.

Beide Antrags- und Bewilligungsverfahren werden von vielen Eltern und Lehrkräften als zu aufwendig und wenig transparent beschrieben.

Oft können getroffene Entscheidungen nicht nachvollzogen werden.

Das Bild zeigt die obere Hälfte eines angespitzten orangenen Bleistifts. Im Hintergrund sieht man die verwischten Konturen eines Taschenrechners.

3. Die Zahl der Schulbegleitungen ist seit Einführung der schulischen Inklusion in Hamburg enorm gestiegen.

Im Schuljahr 2011/12 wurden in Hamburg rund 460 Schulbegleitungen bewilligt.

Im Schuljahr 2016/17 waren es bereits 1.874 Schulbegleitungen.

Im Schuljahr 2022/23 hatten 2.520 Schülerinnen und Schüler eine Schulbegleitung.

Im Schuljahr 2023/2024 stieg die Zahl der Schulbegleitungen auf 2.608.

Die Zahl der Schulbegleitungen in Hamburg hat sich innerhalb der letzten 12 Jahre also mehr als verfünffacht.

Noch bis 2022 hatten Schüler mit psychosozialen Beeinträchtigungen deutlich häufiger eine Schulbegleitung als Schüler mit Behinderungen.

Inzwischen ist die Zahl der Schulbegleitungen bei beiden Gruppen gleich hoch.

Ein Säulendiagramm zeigt die Anzahl der Schulbegleitungen in Hamburg zwischen 2018 und 2023. Dabei wird unterschieden zwischen Schüler*innen mit psychosozialen Beeinträchtigungen und Schüler*innen mit Behinderungen.

4. Schulbegleitungen werden in Hamburg hauptsächlich im laufenden Unterricht eingesetzt.

Bei der überwiegenden Mehrheit aller Kinder und Jugendlichen mit Schulbegleitung erfolgt die Unterstützung im laufenden Unterricht.

Bei Klassenfahrten und außerschulischen Maßnahmen (wie zum Beispiel Schwimmunterricht, Betriebspraktikum oder Ferienbetreuung) kommen Schulbegleitungen nur in Ausnahmefällen zum Einsatz.

Das gleiche gilt für die Ganztagsbetreuung und den Schulweg.

Auf einem Schultisch liegt ein Stapel Hefte. Zuoberst erkennt man ein Notenblatt. Rechts neben dem Stapel liegen ein Radiergummi, ein Kuli, ein Bleistift, eine grüne Flötenhülle und eine helle Blockflöte.

5. Eine Schulbegleitung dauert in der Regel zwei Jahre.

Die Dauer einer Schulbegleitung beträgt in Hamburg meist zwei Jahre.

Nur in absoluten Ausnahmefällen erstreckt sich eine Schulbegleitung über die gesamte Schulzeit eines Schülers.

Was den Umfang einer Schulbegleitung und die Gültigkeitsdauer des Bewilligungsbescheides angeht, zeigen sich deutliche Unterschiede zwischen Schülern mit einer komplexen psychosozialen Beeinträchtigung und Schülern mit Behinderung.

Einem Schüler mit einer komplexen psychosozialen Beeinträchtigung werden in der Regel 10 Stunden Schulbegleitung pro Woche bewilligt.

Meistens ist die Bewilligung zeitlich befristet. Und zwar auf 3 bis 6 Monate. Allerdings wird sie in der Regel mehrfach verlängert.

Ein Schüler mit Behinderung dagegen erhält im Durchschnitt 20 Stunden Schulbegleitung pro Woche.

Außerdem wird hier die Schulbegleitung jeweils für ein ganzes Schuljahr bewilligt. Eine Verlängerung über ein weiteres Schuljahr ist üblich.

Das Bild zeigt einen Wecker, der auf einem Schreibtisch steht.

6. Schulbegleitungen finden sowohl in Regelschulen wie auch in Sonderschulen statt.

Obwohl Hamburg gerne die inklusive Zielsetzung von Schulbegleitung betont, bedeutet der Erhalt einer Schulbegleitung nicht automatisch, dass ein Schüler inklusiv beschult wird.

Jede dritte Schulbegleitung in Hamburg findet an einer Sonderschule statt.

Dabei zeigen sich deutliche Unterschiede zwischen den zwei ermittelten Schülergruppen.

Schulbegleitungen für Schülerinnen und Schüler mit komplexen psychosozialen Beeinträchtigungen finden überwiegend an Grundschulen und Stadtteilschulen statt.

Hier unterstützt die Schulbegleitung also tatsächlich bei der inklusiven Beschulung.

Ein Kreisdiagram zeigt die Anzahl der Schulbegleitungen für SchülerInnen mit psychosozialen Beeinträchtigungen, unterschieden nach Schulformen, für das Schuljahr 2020/21.

Mehr als die Hälfte aller Schülerinnen und Schüler mit körperlichen und/oder geistigen Behinderungen, die Schulbegleitung erhalten, besucht eine Sonderschule.

Nur jede vierte Schulbegleitung findet an einer Grundschule statt, nur jede fünfte an einer Stadtteilschule.

Schulbegleitungen bei jungen Menschen mit körperlichen und/oder geistigen Behinderungen unterstützten also vor allem das Sondersystem und nicht die Inklusion.

An Gymnasien findet Schulbegleitung so gut wie nicht statt.

Ein Kreisdiagram zeigt die Anzahl der Schulbegleitungen für SchülerInnen mit Behinderungen, unterschieden nach Schulformen, für das Schuljahr 2020/21.

7. In Hamburg arbeiten sowohl junge Menschen in Freiwilligendiensten wie auch ausgebildete Fachkräfte als Schulbegleitung.

Bei der Bestellung einer Schulbegleitung unterscheidet Hamburg zwischen vier verschiedenen Anforderungsstufen.

Nämlich:

  • jungen Menschen in Freiwilligendiensten,
  • sozial erfahrenem Personal,
  • pädagogisch, pflegerisch oder therapeutisch ausgebildetem Personal und
  • sozialpädagogisch ausgebildetem Personal.

Innerhalb der einzelnen Anforderungsstufen fehlt es an verbindlichen Vorgaben, welche konkreten Kenntnisse, Fähigkeiten und Erfahrungen angehende Schulbegleitungen mitbringen sollten.

Ganz besonders gilt das für das Anforderungskriterium „sozial erfahren“.

Bei den meisten Schülerinnen und Schülern mit komplexen psychosozialen Beeinträchtigungen kommen „sozial erfahrene“ Schulbegleitungen zum Einsatz.

Gut jeder vierte Schüler mit einer komplexen psychosozialen Beeinträchtigung hat eine pädagogisch, pflegerisch oder therapeutisch ausgebildete Schulbegleitung. Meist sind das Erzieherinnen und Erzieher.

Nur selten werden Sozialpädagoginnen und Sozialpädagogen als Schulbegleitung eingesetzt, noch seltener junge Menschen in Freiwilligendiensten.

Ein Kreisdiagram zeigt die Qualifikation von Schulbegleitungen für SchülerInnen mit psychosozialen Beeinträchtigungen im Schuljahr 2021/22. Unterschieden wird zwischen den vier in Hamburg festgelegten Anforderungsstufen.

Ganz anders sieht es bei Schülerinnen und Schülern mit körperlicher und/oder geistiger Behinderung aus.

Hier kommen überwiegend junge Menschen in Freiwilligendiensten zum Einsatz.

Bei nur jedem vierten Schüler mit Behinderung gilt die Schulbegleitung als sozial erfahrene Kraft.

Schulbegleitungen mit einer pädagogischen, pflegerischen, therapeutischen oder gar sozialpädagogischen Ausbildung bleiben bei Schülerinnen und Schülern mit Behinderung die Ausnahme.

Ein Kreisdiagram zeigt die Qualifikation von Schulbegleitungen für SchülerInnen mit Behinderungen im Schuljahr 2021/22. Unterschieden wird zwischen den vier in Hamburg festgelegten Anforderungsstufen.

8. Hamburgs Schulbegleitungen sind nicht bei einer Schule angestellt, sondern bei externen Leistungsanbietern.

Benötigt ein Schüler eine Schulbegleitung, meldet seine Schule den Bedarf bei einem externen Leistungsanbieter an.

Der Leistungsanbieter sucht eine für den Schüler geeignete und ausreichend qualifizierte Schulbegleitung und stellt sie der Schule zur Verfügung.

Angestellt bleibt die Schulbegleitung beim Leistungsanbieter.

Der Arbeitsvertrag einer Schulbegleitung ist meist auf wenige Monate bis maximal ein Schuljahr befristet.

Geht ein Schüler wegen Krankheit oder Ferien nicht zur Schule, erhält die Schulbegleitung oftmals kein Geld.

Diese Rahmenbedingungen machen die Arbeit als Schulbegleitung wenig attraktiv.

Im Schuljahr 2018/2019 gab es in Hamburg 88 verschiedene Leistungsanbieter für Schulbegleitungen.

Etwas mehr als die Hälfte von ihnen bot ausschließlich Schulbegleitungen für Kinder und Jugendliche mit komplexen psychosozialen Beeinträchtigungen an.

Das Bild zeigt die Tastatur eines Tablets oder Laptops. Auf der Maus-Fläche steht ein Miniatur-Einkaufswagen. Darin befinden sich zwei leere Papiertaschen im Mini-Format. Und zwar in grün und rot.

9. Die Hamburger Schulbehörde führt eine umfangreiche Datenbank zur Schulbegleitung.

Seit dem Schuljahr 2016/2017 werden in Hamburg alle Anträge auf Schulbegleitung in einer Datenbank erfasst.

Diese Datenbank enthält Angaben:

  • über das für die beantragte Schulbegleitung zuständige Regionale Bildungs- und Beratungszentrum (einschließlich Bezirk),
  • über das Geschlecht, die Schulform, die Schule und die Klassenstufe der Schüler, für die Schulbegleitung beantragt wird,
  • über den vorrangigen sonderpädagogischen Förderbedarf und den weiteren sonderpädagogischen Förderbedarf der Schüler,
  • über das Schuljahr und das Anfragedatum,
  • über die rechtlichen Grundlagen der Schulbegleitung,
  • darüber, ob der Antrag auf Schulbegleitung bewilligt oder abgelehnt wurde,
  • über den Stundenumfang, die Förderdauer und das Kostensatzniveau der bewilligten Schulbegleitung.
  • über den Leistungsanbieter der Schulbegleitung sowie
  • über die Qualifizierung und Qualifikation der Schulbegleitung.

Mit dieser Datenbank verfügt Hamburg – anders als die meisten Bundesländer – über eine gute Datenbasis und Berichterstattung zur Schulbegleitung.

Das Bild zeigt einen kleinen Teil einer silbernen Tastatur. Über der Shift-Taste ist eine schwarze Taste mit der Aufschrift "BIG DATA".

10. Schulbegleitungen sind meistens weiblich und ansonsten sehr verschieden.

Die Gruppe der Schulbegleiterinnen und Schulbegleiter in Hamburg ist äußerst heterogen.

Die Altersspanne bei Schulbegleitungen beginnt mit der Volljährigkeit und reicht bis ins Rentenalter.

Es gibt Schulbegleitungen mit Abitur und Hochschulabschluss.

Und Schulbegleitungen ohne Ausbildung.

Ein Teil der Schulbegleiter ist pädagogisch ausgebildet.

Andere haben zuvor noch nie im pädagogischen Bereich gearbeitet.

Nur eins haben Hamburgs Schulbegleitungen gemeinsam: Sie sind meistens weiblich.

Das Bild zeigt eine Frau, die ein älteres Kind huckepack durch einen Wald trägt. Man sieht beide von hinten. Das Kind trägt einen großen Rucksack.

11. Vieles in Sachen Schulbegleitung ist in Hamburg nicht ausreichend geklärt.

Die Studie der Universität Oldenburg hat deutlich gemacht: Vieles in Sachen Schulbegleitung ist in Hamburg nicht ausreichend geklärt.

Das betrifft vor allem

  • die Auswahl und Qualifikation von Schulbegleitungen,
  • die Einarbeitung und Weiterbildung von Schulbegleitungen,
  • das Vertretungssystem für Schulbegleitungen,
  • die Aufgaben und Tätigkeitsfelder von Schulbegleitung,
  • die Ziele und Zielgruppen von Schulbegleitung sowie
  • die Rolle und Stellung von Schulbegleitung im Gesamtsystem Schule.

Durch diese Unklarheiten haben sich sehr unterschiedliche Erwartungshaltungen an Schulbegleitung entwickelt, die im schulischen Alltag zu oft nicht erfüllt werden.

Das führt zu einer großen Unzufriedenheit. Und zwar auf allen Seiten.

Viele Lehrerinnen und Lehrer empfinden Schulbegleitung inzwischen als Belastung. Sie wünschen sich eine deutlich bessere Vorbereitung und Fachlichkeit bei Schulbegleitern.

Viele Eltern sind enttäuscht bis verärgert, weil sie ihre Kinder nicht ausreichend unterstützt und gefördert sehen. Sie hatten gehofft, durch eine Schulbegleitung nähmen ihre Kinder endlich an Bildung teil.

Viele Schulbegleiterinnen und Schulbegleiter fühlen sich überfordert und zu wenig wertgeschätzt. Ihnen fehlt eine längerfristige Perspektive. Viele von ihnen geben schnell wieder auf.

Zu viele Schülerinnen und Schüler nehmen nach wie vor nur eingeschränkt bis gar nicht am Unterricht teil, wenn ihre Schulbegleitung fehlt.

In der Mitte des Bildes sieht man ein Strichmännchen mit fragendem Gesichtsausdruck. Es kratzt sich mit der rechten Hand am Kopf. Der linke Arm ist in die Hüften gestemmt. Um das Strichmännchen sieht man viele bunte Linien, die miteinander verknotet scheinen.

Die große Unzufriedenheit über Schulbegleitung führt inzwischen sogar dazu, dass manche die schulische Inklusion in Hamburg insgesamt in Frage stellen oder gar für gescheitert erklären.

Genau das bringt uns zum Kern des eigentlichen Problems.

Schulbegleitung allein macht noch keine Inklusion.

Schulbegleitung ist „nur“ das Hilfsmittel, damit ein Schüler mit Beeinträchtigung gleichberechtigt am Unterricht teilnehmen kann.

Ist der Unterricht selbst nicht inklusiv, kann auch eine Schulbegleitung nur bedingt erfolgreich sein.

Der Hamburger Senat betont oft und gerne, wie erfolgreich die schulische Inklusion in der Hansestadt sei.

Rhetorisch mag das vielleicht überzeugen. Wissenschaftlich belegt ist es nicht.

Leider versäumt es die Evaluation der Universität Oldenburg, neben der Schulbegleitung auch die inklusive Schulentwicklung in Hamburg genauer zu untersuchen.

Ja, es gibt in Hamburg inklusive Schulen, die sehr erfolgreich sind.

Allerdings sind das bislang die Ausnahmen.

Die meisten Schulen in Hamburg haben sich bisher kaum bis gar nicht damit beschäftigt, schuleigene Konzepte für eine inklusive Schule und eine individualisierte Unterrichtsgestaltung zu entwickeln.

Schulbegleitung als Leistung zur Teilhabe an Bildung kann nur dann funktionieren, wenn die angebotene Bildung tatsächlich inklusiv ist.

Genau hier gilt es anzusetzen – anstatt sich in einer Diskussion über unzureichende Schulbegleitungen zu verlieren.

Wir müssen endlich die immer noch vorhandenen exklusiven Strukturen im Hamburger Schulsystem genauer in den Blick nehmen.

Und inklusive Schulentwicklungsprozesse für alle Schulen verbindlich machen.

Auf dem Bild sieht man 7 Paar Gummistiefel, die auf einer Steinmauer aufgereiht stehen. Zwei Paar Gummistiefel sind pink, zwei Paar blau, zwei Paar orange und ein Paar rot. Hinter der Mauer und den Gummistiefeln sieht man grüne Büsche und Bäume.

Inklusion in Hamburg ist nicht gescheitert.

Inklusion in Hamburg hat noch gar nicht richtig angefangen.

Das Thema Inklusion im Schulausschuss

Am 6. September tagte der Hamburger Schulausschuss.

In einer öffentlichen Sitzung im Rathaus ging es um den Stand der Inklusion in Hamburgs Schulen.

Sechs Experten waren geladen.

Aus den Bereichen Schule, Wissenschaft, Sonderpädagogik, Zivilgesellschaft und Elternvertretung.

So sollte eine fachlich fundierte und differenzierte Diskussion ermöglicht werden.

Blick von unten auf den Eingangsturm des Hamburger Rathauses.

Tatsächlich ging es in der gesamten Sitzung sehr fachlich zu.

Viele wichtige Aspekte wurden behandelt.

Und es gab viele kluge Fragen und Antworten.

Hamburg wurde gelobt für sein klares Bekenntnis zur Inklusion.

Und für die Fortschritte, die die Stadt im Bereich der schulischen Inklusion bereits erzielt habe.

Hamburg wurde aber auch aufgefordert, in Sachen Inklusion nicht stehen zu bleiben.

Denn trotz der vielen Ressourcen, die Hamburg in den letzten Jahren in den inklusiven Umbau seines Schulsystems investiert hat, arbeiten noch längst nicht alle Schulen inklusiv.

Eins allerdings wurde in der gesamten Debatte außer acht gelassen.

Nämlich die Frage:

Was bedeutet eigentlich Inklusion im Sinne der UN-Behindertenrechtskonvention?

Und was genau heißt das für Schulen?

Auf einer Schiefertafel steht mit Kreide geschrieben "TOGETHER". Darunter sieht man eine Kette bunter, gezeichneter Männchen, die sich an den Händen halten.

Bei der Staatenprüfung vor einem Jahr in Genf hat der UN-Fachausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen sehr deutlich erklärt:

Deutschland hält nach wie vor an seinen Sondersystemen für Menschen mit Behinderungen fest.

Damit verstößt Deutschland gegen die UN-Behindertenrechtskonvention.

Auch Hamburg hat nach wie vor ein gut ausgebautes schulisches Sondersystem.

Bestehend aus 26 staatlichen Sonderschulen (einschließlich der Bildungsabteilungen an den Regionalen Bildungs- und Beratungszentren) und 5 privaten Sonderschulen.

Dass dieses Sondersystem nicht vereinbar ist mit der UN-Behindertenrechtskonvention, dazu gab es in der gesamten Sitzung kein einziges Wort.

Weder von den geladenen Experten noch von den Mitgliedern des Schulausschusses.

Im Gegenteil:

Einige Experten lobten ausdrücklich „Hamburgs großartiges Elternwahlrecht“.

Dabei haben das Deutsche Institut für Menschenrechte und die Monitoring-Stelle UN-Behindertenrechtskonvention in Berlin längst klar gemacht:

Ein Elternwahlrecht ist nicht vereinbar mit der UN-Behindertenrechtskonvention.

Wenn, dann dürfte es höchstens ein Schülerwahlrecht geben.

Und das auch nur, wenn Schülerinnen und Schüler tatsächlich eine echte Wahlfreiheit haben.

Auf türkisem Untergrund steht in weißer Schrift: "Das Recht auf 
inklusive Bildung ist ein Recht des Kindes, nicht 
der Eltern. Ein dauerhaftes Vorhalten einer Wahlmöglichkeit durch das staatliche Schulsystem 
widerspricht der Verpflichtung aus der UN-BRK, wonach eine inklusive Schulstruktur den Bedürfnissen eines jeden Kindes gerecht werden muss. Ohne einen Plan, wie die Sonderstrukturen überwunden werden können, steht ein dauerhaftes Elternwahlrecht mit der UN-BRK nicht im Einklang."
Positionspapier der Monitoring-Stelle UN-Behindertenrechtskonvention von 2017

Mit der UN-Behindertenrechtskonvention wurde auch die Sicht auf Behinderung neu definiert.

Nicht mehr ein Mensch an sich ist behindert.

Sondern ein Mensch wird behindert.

Und zwar durch das Wechselspiel von individuellen Beeinträchtigungen und einstellungs- und umweltbedingten Barrieren.

Diese menschenrechtliche Sicht auf Behinderung wurde in der gesamten Ausschuss-Sitzung viel zu selten berücksichtigt.

Dabei hat sie entscheidende Konsequenzen für die Umsetzung von inklusiver Bildung.

Es geht nämlich nicht mehr länger darum, welche Beeinträchtigungen und Defizite ein Kind hat.

Sondern es geht um die Frage:

Was braucht ein Kind, um bestmöglich an Bildung teilhaben zu können?

Diese Frage muss für jedes Kind gestellt werden. Und zwar unabhängig von Geschlecht, Herkunft, Religion oder eben einer Behinderung.

Denn:

Inklusion unterscheidet nicht mehr nach Kategorien und Gruppen. Inklusion bezieht alle mit ein.

An einer riesigen Wand hängen viele Portrait Fotos von ganz unterschiedlichen Menschen. Davor sitzen drei Personen auf einer Bank und betrachten die Bilder.

In der Diskussion im Schulausschuss ging es ausschließlich um Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischen Förderbedarfen.

Entweder im Bereich Lernen, Sprache und emotional-soziale Entwicklung.

Oder im Bereich kognitive und körperlich-motorische Beeinträchtigungen.

Es ging um Diagnostik und um die Zuordnung zu sonderpädagogischen Förderschwerpunkten, die über Art und Umfang der Förderung entscheiden.

Solch ein Ansatz, der zwischen behindert und nicht-behindert unterscheidet, widerspricht den Grundsätzen der UN-Behindertenrechtskonvention.

Auf dem Bild sieht man den Oberkörper eines jungen Mannes in einem bunten Kapuzen-Sweatshirt. Der Mann hält seinen rechten Arm auf Brusthöhe und zeigt mit dem Daumen nach unten.

Ein weiterer zentraler Aspekt fehlte in der gesamten Diskussion:

Inklusion ist keine Frage des Wollens.

Inklusion ist ein Menschenrecht.

Damit steht Inklusion über der Selbstbestimmung von Schulen.

Im Klartext heißt das:

Nicht die einzelne Schule entscheidet darüber, ob sie Inklusion möchte oder nicht.

Jede Schule ist zur Inklusion verpflichtet.

Ein klares Bekenntnis zur Inklusion bedeutet, die Vorgaben der UN-Behindertenrechtskonvention konsequent umzusetzen.

Dazu gehört auch der Abbau schulischer Sondersysteme.

Diesen Schritt scheint Hamburg nach wie vor nicht gehen zu wollen.

Auf dem Bild sieht man die untere Hälfte eines Menschen in schwarzen Jeans und roten Turnschuhen, der einen Luftsprung macht.