Mein Großvater war hirnverletzt. Aus dem Krieg brachte er Bombensplitter in seinem Kopf mit nach Hause. Die begleiteten ihn, bis er im Alter von 78 Jahren starb.
Die Splitter im Kopf verursachten immer wieder Schmerzen. Das machte meinen Großvater depressiv und aggressiv zugleich. Das war nicht leicht für seine Frau und seine Kinder.
Unser Pflegekind hat keine Splitter im Kopf. Sein Gehirn ist durch einen vorgeburtlichen Alkohol- und Drogenkonsum auf Dauer verändert. Wenn zu viele Dinge gleichzeitig auf unser Kind einströmen, ist es überfordert und reagiert aggressiv. Oder es schaltet ab und verweigert sich.
Als junge Frau habe ich ein Jahr lang mit Menschen mit einer Cerebralparese zusammen gelebt und gearbeitet. Bei einer Cerebralparese können sich Gehirn und Muskulatur nicht richtig miteinander verständigen. Menschen mit Cerebralparese haben Schwierigkeiten, ihre Bewegungen zu steuern. Sie haben Spastiken. Ihr Gleichgewicht ist gestört.
Bei autistischen Menschen wird vermutet, dass ihre unterschiedliche Wahrnehmung und Informationsverarbeitung auf unterschiedlichen Verarbeitungsprozessen im Gehirn beruhen.
Fragt man nach den Gemeinsamkeiten von Menschen mit Hirnverletzungen, FASD, Cerebralparese oder Autismus, so könnte eine Antwort darauf lauten:
Die Gehirne dieser Menschen sind geschädigt oder gestört. Dadurch sind sie dauerhaft eingeschränkt.
Diese Antwort geht von einer defizitär ausgerichteten Sichtweise aus. Das heißt:
Es gibt eine Norm. Alles, was von dieser Norm abweicht, ist schlecht, nicht normal, kaputt oder krank.
Viele Menschen mit Behinderung werden bis heute so definiert: Als Menschen, die nicht laufen, nicht sprechen, nicht hören, nicht sehen oder nicht richtig denken können.
Man kann aber auch sagen:
Die Gehirne dieser Menschen ticken anders: Sie sind anders verdrahtet und geschaltet. Deshalb entwickeln sie sich anders, nehmen anders wahr und kommunizieren anders.
Die Wissenschaft bezeichnet dies als Neurodiversität.
Neurodiversität bedeutet neurologische Vielfalt. Jeder Mensch, jedes Gehirn ist anders. Es gibt nicht den einen neurobiologischen Bauplan, sondern viele verschiedene. Damit entfällt die Unterscheidung zwischen gut oder schlecht, gesund oder krank, heile oder kaputt, normal oder behindert.
Jeder Mensch wird zu dem, was er ist: einzigartig und wunderbar!
Mein Wunsch für eine „Inklusionsmetropole Hamburg“: ein neues Verständnis von Behinderung, das sich nicht an Defiziten orientiert, sondern jeden Menschen in seiner Einzigartigkeit Wert schätzt!