Wow. Zum ersten Mal hat sich einer meiner Blog Beiträge inhaltlich überholt.
Und ist gleichzeitig weiter aktuell geblieben.
Vor gut einem Jahr hatte ich über fehlende Chancengleichheit geschrieben.
Fehlende Chancengleichheit für junge Menschen mit und ohne Behinderung, die in einer Pflegefamilie oder einer Einrichtung der Jugendhilfe leben.
Denn:
Noch 2022 mussten junge Menschen in Pflegefamilien oder Einrichtungen der Jugendhilfe ein Viertel ihres selbst verdienten Geldes an das Jugendamt abgeben. Um sich an den Kosten für ihren Unterhalt zu beteiligen.
Noch härter traf es behinderte junge Menschen in geförderten Ausbildungsmaßnahmen, die anstelle eines Ausbildungsgehalts Ausbildungsgeld oder Berufsausbildungsbeihilfe erhielten.
Ausbildungsgeld und Berufsausbildungsbeihilfe gelten nicht als Einkommen. Sondern als eine unterhaltssichernde Maßnahme. Daher konnten Jugendämter Ausbildungsgeld und Berufsausbildungsbeihilfe so gut wie vollständig einziehen.
Bereits seit langem war angemahnt worden, dass diese Art der Kostenheranziehung dem Auftrag der Jugendhilfe widerspreche:
„Wachsen junge Menschen außerhalb ihrer Herkunftsfamilie auf, haben sie bereits mit zusätzlichen Herausforderungen umzugehen und dadurch einen schwierigeren Start in ein eigenständiges Leben. Dieser Start wird nochmal erschwert, wenn sie einen Teil ihres Einkommens, das sie zum Beispiel im Rahmen eines Schüler- oder Ferienjobs oder ihrer Ausbildung verdienen, abgeben müssen.“ (Deutscher Bundestag – Kostenheranziehung in der Kinder- und Jugendhilfe wird abgeschafft)
Seit dem 1.1.2023 ist die Kostenheranziehung nun endlich Geschichte!
Allerdings nicht für alle jungen Menschen, die in Pflegefamilien oder Einrichtungen der Jugendhilfe leben.
Junge Menschen, die aufgrund einer Behinderung Ausbildungsgeld oder Berufsausbildungsbeihilfe erhalten, müssen nach wie vor den Großteil davon ans Jugendamt abgeben. Zur Deckung ihrer Unterhaltskosten.
Aktuell 126 Euro im Monat dürfen diese jungen Menschen jetzt behalten.
Ob das ausreicht für einen erfolgreichen Start in ein möglichst eigenständiges Leben?
Unser Kind mit Behinderung arbeitet seit Mai in einer Firma für Veranstaltungstechnik. Und ist dort super glücklich.
Auch der Betrieb ist mehr als zufrieden mit der Arbeit unseres Kindes. Gerne möchte er unserem Kind die Möglichkeit zur Qualifizierung geben.
Hätte unser Kind keine Behinderung, wäre es bereits vor drei Monaten mit der Ausbildung zur Fachkraft für Veranstaltungstechnik gestartet.
Doch mit Behinderung ist alles komplizierter.
Denn: Wegen seiner Lernschwierigkeiten schafft unser Kind keine Vollausbildung.
Das ist dem Betrieb egal. Der sagt: „Bis zu 80 Prozent der Ausbildung kann Ihr Kind schaffen. Das reicht uns.“
Ganz anders sieht das der für unser Kind zuständige Reha-Berater in der Agentur für Arbeit.
Die berufspsychologische Testung unseres Kindes durch die Agentur für Arbeit hat ergeben:
„Die Teilnahme an einer Vollausbildung ist unrealistisch. Dafür sind die behinderungsbedingten Lernschwierigkeiten zu groß.“
Daher empfiehlt das berufspsychologische Gutachten eine theoriereduzierte Ausbildung für „Förderschüler“. Mit entsprechend gestalteten Rahmenbedingungen wie einer kleinen Lerngruppe und einer intensiven sonderpädagogischen Unterstützung.
Der Haken an der Sache: Im Bereich Veranstaltungstechnik gibt es (noch) keine theoriereduzierte Ausbildung.
Also sagt der Reha-Berater: „Was es nicht gibt, kann auch nicht gefördert werden.“
Und empfiehlt unserem Kind eine Ausbildung zum Werker im Garten- und Landschaftsbau.
Auch wenn das nicht der Wunschberuf unseres Kindes ist.
Unser Kind könnte sich auch über eine Unterstützte Beschäftigung im Bereich Veranstaltungstechnik qualifizieren.
Bei einer Unterstützten Beschäftigung werden Menschen mit Behinderung direkt vor Ort in einem Betrieb angeleitet. Sie können ausprobieren, welche betrieblichen Tätigkeiten sie gut schaffen. Und sich darüber auf eine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung in dem Betrieb vorbereiten.
Allerdings: Die betriebliche Qualifizierung im Rahmen einer unterstützten Beschäftigung ist keine Ausbildung. Sie dient alleine dazu, behinderte Menschen auch ohne formale Bildungsabschlüsse in eine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt zu bringen.
Für unser Kind hieße das, dass es nicht über den Status eines angelernten Hilfsarbeiters hinaus käme. Überdies würde es in der Zeit der Qualifizierung kaum etwas verdienen.
Doch unser Kind möchte mehr. Es will sich nicht mit einem direkten Einstieg in eine Anlerntätigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt zufrieden geben. Es möchte lernen und eine Ausbildung machen – so wie seine nicht-behinderten Freunde auch.
Eigentlich wollte unser behindertes Kind direkt nach der Schule mit einer betrieblichen Ausbildung beginnen. So wie seine nicht behinderten Freunde auch.
Dazu hat unser Kind über ein Jahr lang Praktika gemacht, in unterschiedlichen Einrichtungen und Betrieben.
Am Ende der Praktika gab es von allen Seiten nur gute Rückmeldungen. Trotzdem hat unser Kind nach Abschluss der Schule mit keiner Ausbildung begonnen.
Hat sich unser Kind nicht ausreichend angestrengt? Hätten wir als Eltern mehr unterstützen müssen?
Inzwischen weiß ich:
Es liegt nicht an unserem Kind oder an uns, dass es mit einem nahtlosen Wechsel von der Schule in die Ausbildung nicht geklappt hat. Es liegt an einer strukturellen Diskriminierung von jungen Menschen mit Behinderung.
Nurwenigen Jugendlichen mit Behinderung gelingt in Deutschland ein nahtloser Wechsel von der Schule in eine betriebliche Ausbildung.
Etwas mehr schaffen den nahtlosen Wechsel in eine überbetriebliche Ausbildung.
Jugendliche mit einer geistigen oder psychischen Behinderung wechseln besonders häufig direkt nach der Schule in eine Werkstatt für behinderte Menschen.
Die meisten Jugendlichen mit Behinderung werden nach Schulende zunächst in Maßnahmen des sogenannten Übergangsbereich vermittelt.
Der Übergangsbereich ist für Jugendliche gedacht, die nach dem Ende ihrer Schulzeit noch keinen Ausbildungsplatz gefunden haben.
Ziel des Übergangbereichs ist es, die Ausbildungschancen dieser Jugendlichen zu verbessern.
Eine Vielzahl regional sehr unterschiedlicher Programme und Maßnahmen sollen die Berufsorientierung stärken und eine erste berufliche Qualifizierung ermöglichen. Auch Schulabschlüsse können im Übergangsbereich nachgeholt werden.
Allerdings führen die Angebote des Übergangbereichs zu keinem Berufsabschluss. Auf eine spätere Ausbildung werden sie nicht angerechnet.
Angelegt ist der Übergangsbereich als Notfallplan. Und damit als ein Plan B.
Ein Plan B, der nur dann in Kraft tritt, wenn es mit Plan A (dem nahtlosen Wechsel in eine Ausbildung) nicht geklappt hat.
Den meisten Jugendlichen ohne Behinderung gelingt in Deutschland tatsächlich ein nahtloser Wechsel von der Schule in eine Ausbildung. Für sie erübrigt sich damit der Übergangsbereich.
Anders sieht dies bei Jugendlichen mit Behinderung aus.
Für die meisten behinderten Jugendlichen ist der Übergangsbereich bereits Plan A und damit fester Bestandteil ihres Lebenslaufs.
Viele Lehrer und Berufsberater an den inklusiven Stadtteilschulen in Hamburg gehen einfach davon aus, dass behinderte Jugendliche nach Abschluss ihrer 10jährigen Schulzeit automatisch in ein sogenanntes Ausbildungsvorbereitungsjahr wechseln.
Auch bei unserem Kind war das so.
Den behinderten Jugendlichen und ihren Eltern wird gesagt:
Durch das Ausbildungsvorbereitungsjahr lässt sich das in Hamburg geltende 11. Pflichtschuljahr erfüllen. (Dass sich das 11. Pflichtschuljahr auch über den Besuch einer Berufsschule während des ersten Ausbildungsjahres erfüllen lässt, bleibt unerwähnt.)
Oft heißt es auch:
Jugendliche mit Behinderung sind nach dem Ende ihrer Schulzeit noch nicht reif für eine Ausbildung.
Beides hat zur Folge, dass sich behinderte Jugendliche während ihrer Schulzeit in der Regel erst gar nicht mit der Suche nach einem Ausbildungsplatz beschäftigen.
In der Agentur für Arbeit ist meist die sogenannte Reha-Abteilung für Menschen mit Behinderung zuständig.
In Hamburg beginnen die Berufsberater der Reha-Abteilung ihre Vermittlungstätigkeit generell erst am Ende der 11jährigen Pflicht-Schulzeit.
Damit wird das Ausbildungsvorbereitungsjahr im Anschluss an die 10jährige Schulzeit für inklusiv beschulte behinderte Jugendliche zum Pflichtjahr.
Und es geht noch weiter.
Am Ende des Ausbildungsvorbereitungsjahres empfehlen Hamburgs Reha-Berater oftmals die Teilnahme an einer weiteren berufsvorbereitenden Bildungsmaßnahme.
Das heißt: Behinderte Jugendliche sollen möglichst ein weiteres Jahr im Übergangsbereich verbleiben. Um weiterhin bestehende „Defizite“ auszugleichen.
Nur so lasse sich die Chance auf den erfolgreichen Abschluss einer anschließenden Ausbildung vergrößern.
Allerdings zeigt die Praxis: Genau das Gegenteil ist der Fall!
Je länger ein behinderter Jugendlicher im Übergangsbereich verbleibt, umso schlechter werden seine Chancen auf eine erfolgreiche Ausbildung und eine anschließende Beschäftigung auf dem 1. Arbeitsmarkt.
Viele sagen daher:
Der Übergangsbereich ist wie eine Black Box. Wer einmal im Übergangsbereich ist, dem gelingt kaum noch der Sprung in Ausbildung und Beschäftigung.
Der Übergangsbereich ist ein Sondersystem, das gegen die UN-Behindertenrechtskonvention verstößt.
Einzige Aufgabe dieses Sondersystems ist es, ausschließlich defizitär definierte Gruppen von Jugendlichen aufzufangen, denen ein nahtloser Wechsel von Schule in Ausbildung verwehrt wird.
Durch das dauerhafte Bereitstellen dieses Sondersystems müssen sich bestehende Exklusionsmechanismen des Arbeitsmarkts nicht ändern. Inklusion wird verhindert.
Für unser großes Kind war immer klar: Gleich nach der Schule möchte es mit einer Ausbildung beginnen. Endlich arbeiten, endlich eigenes Geld verdienen.
Für unser großes Kind und mich war auch klar: Das mit einer Ausbildung wird nicht einfach werden. Denn unser Kind hat eine Fetale Alkoholspektrumstörung, bekannt als FASD. Wegen dieser Behinderung hat unser Kind keinen Schulabschluss und wird mehr Unterstützung bei der Ausbildung benötigen als andere Jugendliche.
Damit es trotzdem mit einer Ausbildung klappt, hat unser Kind bereits in seinen letzten zwei Schuljahren angefangen, nach einer Ausbildungsmöglichkeit zu suchen.
Ursprünglich wollte unser Kind im Bereich Veranstaltungstechnik arbeiten. Doch nach einem Praktikum in einer Firma für Veranstaltungstechnik hieß es im Abschlussgespräch: Die theoretischen und technischen Hürden in der Ausbildung zur Fachkraft für Veranstaltungstechnik seien sehr hoch und mit der Lernbehinderung unseres Kindes wohl nicht zu schaffen.
Also hat sich unser Kind umorientiert.
Hat mit Ehrgeiz, Freude und Erfolg zahlreiche Praktika im Garten- und Landschaftsbau gemacht.
Hat rechtzeitig die Psychologischen Eignungsuntersuchung (PSU) bei der Agentur für Arbeit absolviert.
War zum Gespräch beim Fachberater in der inzwischen für unser Kind zuständigen Reha-Abteilung der Agentur für Arbeit.
Hatte schließlich die Zusage des Berufsbildungswerks auf eine begleitete betriebliche Ausbildung zum Werker im Garten- und Landschaftsbau in der Tasche.
Unser Kind war ganz schön stolz auf sich. Und ich auf unser Kind.
Doch dann rief kurz vor Schulschluss und Sommerferien überraschend das Berufsbildungswerk an und erklärte: Die Lehrer an der Berufsschule glaubten nicht, dass unser Kind die theoriereduzierte Ausbildung zum Werker schaffe. Seine “Lernrückstände“ seien einfach zu groß.
Darum zog das Berufsbildungswerk seine Zusage auf eine begleitete Werker-Ausbildung im Garten- und Landschaftsbau wieder zurück. Stattdessen solle unser Kind zunächst ein Ausbildungsvorbereitungsjahr machen und fleißig an seinen Mathekenntnissen arbeiten. Dann könne es sich im nächsten Jahr nochmals beim Berufsbildungswerk bewerben.
Unser Kind und ich verstanden die Welt nicht mehr.
Eigentlich ist die Ausbildung zum Werker als Alternative für behinderte Menschen gedacht, die aufgrund der Art und Schwere ihrer Behinderung keine übliche Ausbildung schaffen.
Und nun sollte das für unser Kind nicht möglich sein, weil die behinderungsbedingten „Lernrückstände“ zu groß seien?
Nur zwei Tage später rief die Firma für Veranstaltungstechnik an, bei der unser Kind Praktikum gemacht hatte. Sie bräuchten dringend Leute. Und würden unser Kind gerne als Aushilfe einstellen.
Unser Kind war selig: Doch noch arbeiten und Geld verdienen!
Und: Mit einer bezahlten Aushilfstätigkeit in der Hand wurde die Perspektive eines unbezahlten Ausbildungsvorbereitungsjahres für unser Kind endlich aushaltbar.
(Nur ich hatte etwas Stress und musste innerhalb weniger Wochen ein Ausbildungsvorbereitungsjahr organisieren.)
In gut drei Wochen soll es nun losgehen mit dem Ausbildungsvorbereitungsjahr. Eigentlich. Denn seit wenigen Tagen ist wieder alles anders:
Unser Kind hat ein Ausbildungsplatz-Angebot!
Bei der Firma für Veranstaltungstechnik, in der es jobbt!
Wie es jetzt weitergeht? Noch haben wir keinen Plan. Die Agentur für Arbeit ist angeschrieben. Ein Beratungstermin bei der zuständigen Handelskammer ist in Arbeit.
Frühjahr 2012, Schuleingangsuntersuchung im Gesundheitsamt Bergedorf
Nach der Untersuchung und Testung unseres sechsjährigen Pflegekindes teilte uns die zuständige Ärztin mit:
„Also, auf einer normalen Schule sehe ich ihr Kind nicht. Da kommt es nicht mit.
Auf der Sprachheilschule sehe ich es auch nicht. Dafür ist es sprachlich zu fit.
Auf der Sonderschule sehe ich es auch nicht. Dazu ist es nicht behindert genug.“
Die Förderschule war nach Einführung der Inklusion gerade aufgelöst. Die ging also auch nicht.
Ich fragte nach: „Auf welche Schule soll unser Kind denn dann? Schließlich gibt es in Deutschland eine allgemeine Schulpflicht.“
Die Ärztin reagierte mit einem Schulterzucken und antwortete:
„Ja, das weiß ich auch nicht.“
Frühjahr 2021
Seit drei Jahren wissen wir: Unser Pflegekind hat eine Fetale Alkohol-Spektrumstörung (FASD).
Bei seiner Einschulung 2012 haben wir uns für den inklusiven Weg entschieden. Nun liegen vier Jahre Grundschule und fünf Jahre Stadtteilschule hinter uns.
Viele tolle Lehrerinnen und Lehrer haben sich auf unser Kind eingelassen und tragfähige Bindungen zu ihm aufgebaut. Durch seine offene und zugewandte Art hat es sich einen festen Platz in der Klassengemeinschaft erobert. Seine Stärken werden gesehen. Ihm wird etwas zugetraut.
Allerdings:
Das Lernen ist auf der Strecke geblieben. Ein individualisierter Unterricht funktioniert bis heute nicht. Immer noch wissen Lehrerinnen und Lehrer zu wenig über die Behinderung unseres Kindes.
Regelmäßig müssen wir als Eltern mit dem Regionalen Bildungs- und Beratungszentrum und der Schulbehörde um eine ausreichende Unterstützung für unser Kind ringen. Die Schulbegleitung wurde jährlich gekürzt. Der Sonderpädagoge ist zu selten in der Klasse.
Unser Akku als Eltern ist so gut wie leer. Inzwischen geht es nur noch darum, das letzte Schuljahr an der Stadtteilschule so gut wie möglich hinter uns zu bringen. Für unser Kind wird das bedeuten, möglichst viele Praktika zu machen, während sich seine Klassenkameraden auf den ersten und zweiten Schulabschluss vorbereiten.
Fazit
Die passende Schule für unser Kind gibt es bis heute nicht.
Mein Wunsch für eine „Inklusionsmetropole Hamburg“:Ein inklusives Schulsystem, das sich den individuellen Bedürfnissen von Kindern und Jugendlichen mit Behinderung anpasst!