Was sagt der Hamburger Landesaktionsplan 2023 zum Thema berufliche Bildung?

Ihr wisst: Seit über zwei Jahren beschäftige ich mich intensiv mit den Themen Arbeit, Berufsvorbereitung und Ausbildung.

Darum wollte ich natürlich als erstes wissen:

Was sagt der neue Hamburger Landesaktionsplan 2023 zum Thema berufliche Bildung?

In Sachen berufliche Bildung heißt es im Landesaktionsplan:

Was Inklusion im Beruf angeht, hat Hamburg in den letzten Jahren viel getan.

Es gibt bereits vielfältige Unterstützungsangebote.

Trotzdem ist es nötig, den Übergang Schule – Beruf für Lernende noch besser zu gestalten.

Was genau hat Hamburg bereits unternommen?

Seit August 2021 gibt es an allen Berufsschulen sogenannte Inklusionsbeauftragte.

Das sind Lehrer oder Lehrerinnen, die zuvor vom Landesinstitut für Lehrerbildung in Sachen Inklusion ausgiebig geschult worden sind.

Die Inklusionsbeauftragten haben die Aufgabe:

  • ihre Kollegen in Sachen Inklusion fortzubilden und zu unterstützen,
  • passende individuelle Unterstützungsangebote für Schülerinnen und Schüler zu entwickeln (einschließlich barrierearmer Lernumgebungen und Unterrichtsmaterialien),
  • schulische Strukturen inklusiver zu gestalten.

Außerdem bieten die meisten Hamburger Berufsschulen inzwischen eine Ausbildungsvorbereitung dual & inklusiv an. Abgekürzt wird das mit AV dual&inklusiv.

In der inklusiven Ausbildungsvorbereitung werden Jugendliche mit speziellen Förderbedarfen durch Arbeitsassistenzen individuell begleitet und unterstützt.

Daneben werden barrierearme digitale Unterrichtsmaterialien entwickelt, erprobt und evaluiert.

Dazu gehören zum Beispiel Unterrichtsmaterialien in einfacher oder leichter Sprache.

All dies soll im Rahmen des Landesaktionsplans weiter entwickelt und auf die Bildungsgänge der Ausbildung übertragen werden.

Jugendliche mit festgestelltem Unterstützungsbedarf können dann auch im Berufsqualifizierungsjahr und in der dualen oder vollschulischen Ausbildung individuelle Arbeitsassistenzen erhalten.

Alle Lehrkräfte der Berufsschulen werden im Umgang mit barrierearmen digitalen Unterrichtsmaterialien geschult.

Auf dem Bild sieht man eine Frau mittleren Alters, die fragend in die Luft blickt. Um ihren Kopf herum sind lauter Fragezeichen abgebildet.

Nun ist die spannende Frage:

Wie wirksam sind diese Maßnahmen?

Werden sie möglichst viele junge Menschen mit Behinderungen erreichen?

Und werden sie dazu beitragen, dass mehr junge Menschen mit Behinderungen erfolgreich auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt ausgebildet werden?

Bislang hat noch keine Evaluation der bereits umgesetzten Maßnahmen stattgefunden.

Dennoch wage ich einige Überlegungen und Anmerkungen.

Auf dem Bild sieht man den vorderen Teil eines Rasenmähers, mit dem gerade eine Wiese gemäht wird.

1. Neben dem Ausbau der inklusiven Ausbildungsvorbereitung hält Hamburg an der exklusiven Berufsvorbereitung für Menschen mit Behinderungen fest.

Neben der inklusiven Ausbildungsvorbereitung an regulären Berufsschulen gibt es in Hamburg die sogenannte Berufsvorbereitung für Menschen mit Behinderungen.

In der Berufsvorbereitung werden überwiegend junge Menschen mit geistigen Behinderungen auf eine anschließende berufliche Beschäftigung vorbereitet.

Und zwar meist überbetrieblich und in nur wenigen ausgewählten Beschäftigungsfeldern wie Gartenbau oder Hauswirtschaft.

An einem Tag in der Woche besuchen die jungen Menschen eine Berufsschule für Schülerinnen und Schüler mit besonderem Förderbedarf.

Ein Übergang in eine Ausbildung ist nicht vorgesehen.

Im neuen Landesaktionsplan wird die exklusive Berufsvorbereitung für junge Menschen mit Behinderungen nicht erwähnt.

Ich gehe davon aus, dass sie weiterhin bestehen bleiben wird.

Das Bild zeigt das Ende eines Stumpfgleises, gesichert mit einem Prellbock. Im Hintergrund sieht man eine blühende Kastanie und Bahnanlagen.

2. Die Exklusivität des „inklusiven“ Übergangsbereichs

Junge Menschen mit Behinderungen, die inklusiv beschult wurden, wechseln nach der Schule so gut wie immer in den sogenannten Übergangsbereich.

Über ein inklusives oder exklusives Ausbildungsvorbereitungsjahr sollen sie auf den Arbeitsalltag vorbereitet werden und berufliche Interessen entwickeln.

Ganz anders ist dies bei Jugendlichen ohne Behinderung.

Bei ihnen bemühen sich Schule und Jugendberufsagentur, einen möglichst nahtlosen Übergang von der Schule in die Ausbildung zu erreichen.

Jugendliche ohne Behinderung wechseln nur dann in den Übergangsbereich, wenn es mit einem Ausbildungsplatz nicht geklappt hat.

Zum Beispiel wegen einem fehlenden Schulabschluss.

Oder wegen schlechter Deutschkenntnisse.

Oder wegen anderer familiärer oder sozialer Probleme.

Das heißt:

Der Übergangsbereich an sich ist bereits exklusiv.

Er wird immer mehr zu einem Auffangbecken für Schülerinnen und Schüler, die die Lernziele der Stadtteilschulen nicht erreicht haben.

An einer rosa gestrichenen Wand hängen sehr viele unterschiedliche Werkzeuge, darunter Zangen, Hammer und Wasserwaagen.

3. Der Eingangs- und Berufsbildungsbereich der Werkstätten für behinderte Menschen bleibt weiter bestehen.

Über 4400 Schülerinnen und Schüler wurden im Schuljahr 2022/23 in Hamburg exklusiv an Sonderschulen unterrichtet.

Die allermeisten von ihnen wechseln nach der Schule direkt in den Eingangs- und Berufsbildungsbereich einer Werkstatt für behinderte Menschen.

Aus den Sonderschulen kommen vor allem Jugendliche mit geistigen Behinderungen, körperlichen Behinderungen, Sinnesbeeinträchtigungen und komplexen Behinderungen.

Auch Jugendliche mit einer Autismus-Spektrum-Störung oder einer Fetalen Alkohol-Spektrum-Störung (FASD) gehören inzwischen dazu.

Im Eingangs- und Berufsbildungsbereich der Werkstätten durchlaufen die jungen Menschen zunächst eine erste Orientierungsphase.

Danach beginnt die sogenannte Berufsbildungszeit.

Über die Berufsbildungszeit soll herausgefunden werden, ob ein junger Mensch mit Behinderung für den allgemeinen Arbeitsmarkt geeignet ist.

Oder ob er in einer Werkstatt oder einer Einrichtung der Tagesförderung besser aufgehoben ist.

Die Berufsbildungszeit dauert meist zwei Jahre.

Das ist relativ lang.

Trotzdem ist die Berufsbildungszeit keine anerkannte berufliche Ausbildung.

Nach Abschluss der Berufsbildungszeit gelten junge Menschen mit Behinderungen weiterhin als ungelernt.

Während der Berufsbildungszeit besuchen junge Menschen mit Behinderungen einmal in der Woche die Berufsschule für den Berufsbildungsbereich der Werkstätten in der Beruflichen Schule Uferstraße.

Auch die exklusive Berufsbildungszeit im Eingangs- und Berufsbildungsbereich der Hamburger Werkstätten wird im Landesaktionsplan 2023 nicht erwähnt.

Das Bild zeigt zwei sich kreuzende Zebrawege auf einer riesigen Straßenkreuzung. In der Mitte der Zebrawege sieht man einen Menschen mit Rucksack. Ansonsten ist die Kreuzung leer.

4. Die Reha-Abteilung der Agentur für Arbeit vermittelt ausschließlich in Sonderformen.

Beim Übergang von der Schule in die Arbeitswelt hilft in Hamburg die Jugendberufsagentur.

Und das sehr erfolgreich.

Allerdings:

Für junge Menschen mit Behinderungen ist nicht die Jugendberufsagentur zuständig.

Sondern die Reha-Abteilung der Agentur für Arbeit.

Die Reha-Abteilung der Agentur für Arbeit ist eine eigene Welt für sich.

Die „Berufsberatung“ in der Reha-Abteilung orientiert sich an Angeboten und Maßnahmen, die ausschließlich für junge Menschen mit Behinderungen gedacht sind.

Dazu zählt die Vermittlung in den Eingangs- und Berufsbildungsbereich der Werkstätten.

Außerdem arbeitet die Reha-Abteilung eng mit Bildungsträgern zusammen, die sich auf die Ausbildung von jungen Menschen mit besonderen Förderbedarfen spezialisiert haben.

Anbieter dieser speziellen Ausbildungen sind die Berufliche Schule Uferstraße, das Bildungszentrum für Blinde und Sehbehinderte und das Berufsbildungswerk Eidelstedt.

Hier können junge Menschen mit Behinderungen entweder eine Vollausbildung oder eine theoriereduzierte Fachpraktiker-Ausbildung machen.

Allerdings nur in wenigen ausgewählten Berufen.

Und so gut wie nie in einem Ausbildungsbetrieb auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt.

Sondern in überbetrieblichen Werkstätten der Bildungsträger.

Und in exklusiven Berufsschulen.

In den allermeisten Fällen führen diese exklusiven Ausbildungen zu keiner dauerhaften Beschäftigung auf dem regulären Arbeitsmarkt.

Auf dem Bild sieht man einen Teil einer geöffneten roten Tür mit silbernem Türgriff. Auf Griff und Tür sind Wassertropfen.

5. Über neue inklusive Ausbildungsformen wird nicht nachgedacht.

Der Landesaktionsplan sieht vor, die Hamburger Jugendberufsagentur endlich auch für junge Menschen mit Behinderungen zu öffnen.

Das könnte ein wichtiger Schritt sein hin zu einem inklusiven Arbeits- und Ausbildungsmarkt.

Notwendig dafür wäre es allerdings, sich von den an die Werkstätten gebundenen Sonderformen Berufsvorbereitung und Berufsbildungszeit zu verabschieden.

Stattdessen müssten neue Formen der beruflichen Ausbildung entwickelt werden.

In solchen inklusiven Ausbildungen müssten junge Menschen mit und ohne Behinderungen gemeinsam in Berufsschulen lernen.

Und sie müssten gemeinsam in Betrieben des regulären Arbeitsmarktes oder in überbetrieblichen Werkstätten ausgebildet werden.

Jeder junge Mensch würde einen eigenen Ausbildungsplan erhalten.

Orientiert an seinen individuellen Stärken und Schwächen.

Am Ende der Ausbildung hätte jeder einen Abschluss – unabhängig von einer Behinderung.

Doch ob das jemals Realität wird?

Solange Hamburg am Sondersystem der Werkstätten festhalten wird, bezweifle ich das sehr.

Auf dem Bild sieht man eine ausgestreckte Hand, die verhindert, dass eine bunte Reihe aus Dominosteinen weiter umfällt.

Kommen wir zurück zur Ausgangsfrage:

Wie wirksam sind die im Landesaktionsplan 2023 vorgesehenen Maßnahmen zur beruflichen Bildung?

Ich gehe davon aus, dass die vorgesehenen Maßnahmen die meisten jungen Menschen mit Behinderungen gar nicht erreichen werden.

Schülerinnen und Schüler der Sonderschulen werden wohl weiterhin nach der Schule überwiegend in die Sondersysteme von Werkstätten und Bildungsträgern wechseln.

Und damit eigene, exklusive Berufsschulen besuchen.

Inklusiv beschulte Jugendliche mit Behinderungen werden das inklusive Ausbildungsvorbereitungsjahr für sich nutzen können.

Auch wenn diese Maßnahme nicht wirklich inklusiv ist.

Danach allerdings wird für die meisten von ihnen Schluss sein.

Denn:

Der reguläre Berufsschulunterricht ist an einen Ausbildungsplatz gekoppelt.

Den werden Menschen mit stärkeren Einschränkungen aber nicht finden, solange es keine wirklich inklusiven Ausbildungsformen gibt.

Ein roter Sportstiefel steht auf Stroh. Der dazu passende zweite Stiefel liegt schräg dahinter.

Die UN-Behindertenrechtskonvention sagt:

Menschen mit und ohne Behinderungen sollen gemeinsam und gleichberechtigt ausgebildet und weitergebildet werden.

Dieses Ziel wird mit dem neuen Landesaktionsplan nicht erreicht.


Inklusive Ausbildung – nach wie vor nicht in Sicht

Vor kurzem war der 1. August.

Viele junge Menschen in Hamburg sind mit einer dualen Berufsausbildung gestartet.

Nur unser Kind wieder nicht.

Obwohl es seit einem Jahr eine feste Zusage auf einen betrieblichen Ausbildungsplatz hat. In einer Firma für Veranstaltungstechnik.

Woran das liegt?

Auf dem Bild sieht man viele Schalter und Regler auf einem Mischpult.

Unser Kind hat eine fetale Alkoholspektrumstörung (FASD) und damit eine lebenslange Behinderung.

Aufgrund seiner Behinderung wird unser Kind keine Vollausbildung zur Fachkraft für Veranstaltungstechnik schaffen.

Es benötigt eine theoriereduzierte Fachpraktiker-Ausbildung nach § 66 des Berufsbildungsgesetzes (BBiG). Darauf hat es einen Anspruch.

Zuständig für Ausbildungen im Bereich Veranstaltungstechnik ist die Handelskammer Hamburg. Dort haben wir vor 7 Monaten einen Antrag auf eine theoriereduzierte Ausbildung zum Fachpraktiker für Veranstaltungstechnik gestellt.

Über diesen Antrag hat die Handelskammer bis heute nicht entschieden.

Inzwischen glaube ich: Die Handelskammer will gar nicht über unseren Antrag entscheiden.

Denn: Unser Antrag scheint die Zuständigen in der Handelskammer vor ein Problem gestellt zu haben.

Auf dem Bild sieht man zwei Schilder an einer Stange. Wie bei einem Einbahnstraßenschild weist das obere Schild mit einem weißen Pfeil auf grünem Grund nach links. In dem Pfeil steht: Problem. Auf dem unteren Bild weist ein weißer Pfeil auf rotem Grund nach Rechts. In dem Pfeil steht: Next Problem.

Einerseits ist es nur schwer möglich, unseren Antrag abzulehnen. Da unser Kind alle Voraussetzungen für eine theoriereduzierte Fachpraktiker-Ausbildung erfüllt.

Gleichzeitig scheint es in der Handelskammer einflussreiche Stimmen zu geben, die sagen:

„Die Handelskammer Hamburg hat sich vor mehr als 40 Jahren bewusst gegen eine Behinderten-Ausbildung entschieden, ist damit immer gut gefahren und wird daran auch in Zukunft sicherlich nichts ändern.“

Tatsache ist: An der Handelskammer Hamburg hat es noch nie eine theoriereduzierte Fachpraktiker-Ausbildung nach § 66 BBiG gegeben.

Ganz im Gegensatz zu vielen anderen Industrie- und Handelskammern.

Das Bild zeigt eine junge Frau im Elektro-Rollstuhl. Die Frau muss sich bücken, um mit ihrem Rollstuhl durch ein Geländer aus Holz hindurchfahren zu können.

Dabei erscheint mir das Verfahren bei einer Fachpraktiker-Ausbildung relativ einfach.

Als erstes muss ein Ausbildungsrahmenplan geschrieben werden. Dafür gibt es klare Vorgaben.

Ist der Ausbildungsrahmenplan fertig, muss er dem Berufsbildungsausschuss der Handelskammer zur Genehmigung vorgelegt werden.

Stimmt der Berufsbildungsausschuss dem Ausbildungsrahmenplan zu, dann gilt er offiziell als erlassen – und unser Kind mit Behinderung könnte mit seiner Ausbildung beginnen.

Soweit die Theorie.

In der Praxis bekamen wir von der Handelskammer in den letzten Monaten immer wieder zu hören:

  • Das mit der Fachpraktiker-Ausbildung ist unheimlich kompliziert.
  • Bis zum Erlass des notwendigen Ausbildungsrahmenplans dauert es Jahre.
  • Das ganze Verfahren ist teuer.
  • Auf dem Arbeitsmarkt gibt es keinen Bedarf an Fachpraktikern für Veranstaltungstechnik.
  • Die theoriereduzierte Fachpraktiker-Ausbildung ist nicht anerkannt.
  • Eine Fachpraktiker-Ausbildung stigmatisiert.
  • Die Berufsschule für Veranstaltungstechnik hat keinerlei Erfahrung mit einer theoriereduzierten Ausbildung.
  • Der Unterricht an der Berufsschule wird unser Kind überfordern.
Das Bild zeigt eine Kreidetafel, auf der mehrere komplizierte mathematische Formeln und Zeichen stehen.

Inzwischen ist die Handelskammer dazu übergegangen, uns „attraktive Alternativen“ zur Fachpraktiker-Ausbildung vorzustellen.

Um uns dazu zu bewegen, unseren Antrag auf eine Fachpraktiker-Ausbildung wieder zurückzuziehen.

Ich gebe zu: Einiges davon klingt interessant.

Unser Kind könnte bereits jetzt Geld verdienen. Und müsste sich nicht durch die Berufsschule quälen. Gleichzeitig hätte es in drei Jahren ein Zertifikat der Handelskammer in Aussicht.

Allerdings: Das ganze wäre keine Ausbildung. Unser Kind bliebe offiziell ungelernt.

Zwölf ganz unterschiedliche linke Schuhe sind zu einem Kreis zusammengestellt. Darunter befinden sich auch drei rote Schuhe, als Symbol für FASD.

Von früh an wollte unser Kind mit Behinderung vor allem eins: Es wollte alles so machen wie andere auch.

Unser Kind hat eine inklusive Kita besucht.

Unser Kind hat sich zehn Jahre lang durch die inklusive Schule gekämpft.

Unser Kind hat sich intensiv um einen Ausbildungsplatz bemüht. Weil es gelernt hat: Menschen ohne abgeschlossene Ausbildung haben kaum Chancen auf dem 1. Arbeitsmarkt.

Unserem Kind ist es gelungen, einen Ausbildungsbetrieb von seinen Fähigkeiten und Kenntnissen zu überzeugen.

Ich bin stolz auf unser Kind!

Und werde weiter dafür kämpfen, dass sein eigentlich ganz stinknormaler Wunsch nach einer Ausbildung in Erfüllung geht.

Teilhabe an Bildung ist ein Menschenrecht und schließt berufliche Bildung ausdrücklich mit ein.

Neues in Sachen Kostenheranziehung in der Jugendhilfe

Wow. Zum ersten Mal hat sich einer meiner Blog Beiträge inhaltlich überholt.

Und ist gleichzeitig weiter aktuell geblieben.

Auf dem Bild sieht man zwei kleine Spielfiguren mit aufgemalten Gesichtern. Die linke Spielfigur hat ein lachendes Gesicht, die rechte ein weinendes.

Vor gut einem Jahr hatte ich über fehlende Chancengleichheit geschrieben.

Fehlende Chancengleichheit für junge Menschen mit und ohne Behinderung, die in einer Pflegefamilie oder einer Einrichtung der Jugendhilfe leben.

Denn:

Noch 2022 mussten junge Menschen in Pflegefamilien oder Einrichtungen der Jugendhilfe ein Viertel ihres selbst verdienten Geldes an das Jugendamt abgeben. Um sich an den Kosten für ihren Unterhalt zu beteiligen.

Noch härter traf es behinderte junge Menschen in geförderten Ausbildungsmaßnahmen, die anstelle eines Ausbildungsgehalts Ausbildungsgeld oder Berufsausbildungsbeihilfe erhielten.

Ausbildungsgeld und Berufsausbildungsbeihilfe gelten nicht als Einkommen. Sondern als eine unterhaltssichernde Maßnahme. Daher konnten Jugendämter Ausbildungsgeld und Berufsausbildungsbeihilfe so gut wie vollständig einziehen.

Auf dem Bild sieht man eine Schnur, an der sechs Geldscheine (10 bis 100 Euro-Scheine) mit Wäscheklammern befestigt sind.

Bereits seit langem war angemahnt worden, dass diese Art der Kostenheranziehung dem Auftrag der Jugendhilfe widerspreche:

„Wachsen junge Menschen außerhalb ihrer Herkunftsfamilie auf, haben sie bereits mit zusätzlichen Herausforderungen umzugehen und dadurch einen schwierigeren Start in ein eigenständiges Leben. Dieser Start wird nochmal erschwert, wenn sie einen Teil ihres Einkommens, das sie zum Beispiel im Rahmen eines Schüler- oder Ferienjobs oder ihrer Ausbildung verdienen, abgeben müssen.“ (Deutscher Bundestag – Kostenheranziehung in der Kinder- und Jugendhilfe wird abgeschafft)

Seit dem 1.1.2023 ist die Kostenheranziehung nun endlich Geschichte!

Allerdings nicht für alle jungen Menschen, die in Pflegefamilien oder Einrichtungen der Jugendhilfe leben.

Junge Menschen, die aufgrund einer Behinderung Ausbildungsgeld oder Berufsausbildungsbeihilfe erhalten, müssen nach wie vor den Großteil davon ans Jugendamt abgeben. Zur Deckung ihrer Unterhaltskosten.

Aktuell 126 Euro im Monat dürfen diese jungen Menschen jetzt behalten.

Ob das ausreicht für einen erfolgreichen Start in ein möglichst eigenständiges Leben?

Ich bezweifle es.

Ein Paar Füße in roten Schnürstiefeln auf Kopfsteinpflaster, daneben einige bunter Blätter und die Hälfte eines Tannenzapfens.


Qualifizierungsdilemma

Unser Kind mit Behinderung arbeitet seit Mai in einer Firma für Veranstaltungstechnik. Und ist dort super glücklich.

Auch der Betrieb ist mehr als zufrieden mit der Arbeit unseres Kindes. Gerne möchte er unserem Kind die Möglichkeit zur Qualifizierung geben.

Das Bild zeigt Regler und Knöpfe auf einem Mischpult.

Hätte unser Kind keine Behinderung, wäre es bereits vor drei Monaten mit der Ausbildung zur Fachkraft für Veranstaltungstechnik gestartet.

Doch mit Behinderung ist alles komplizierter.

Denn: Wegen seiner Lernschwierigkeiten schafft unser Kind keine Vollausbildung.

Das ist dem Betrieb egal. Der sagt: „Bis zu 80 Prozent der Ausbildung kann Ihr Kind schaffen. Das reicht uns.“

Auf dem Bild sieht man den Eingang eines mehrgeschossigen modernen Gebäudes, darüber in Leuchtbuchstaben den Schriftzug der Agentur für Arbeit.

Ganz anders sieht das der für unser Kind zuständige Reha-Berater in der Agentur für Arbeit.

Die berufspsychologische Testung unseres Kindes durch die Agentur für Arbeit hat ergeben:

„Die Teilnahme an einer Vollausbildung ist unrealistisch. Dafür sind die behinderungsbedingten Lernschwierigkeiten zu groß.“

Daher empfiehlt das berufspsychologische Gutachten eine theoriereduzierte Ausbildung für „Förderschüler“. Mit entsprechend gestalteten Rahmenbedingungen wie einer kleinen Lerngruppe und einer intensiven sonderpädagogischen Unterstützung.

Der Haken an der Sache: Im Bereich Veranstaltungstechnik gibt es (noch) keine theoriereduzierte Ausbildung.

Also sagt der Reha-Berater: „Was es nicht gibt, kann auch nicht gefördert werden.“

Und empfiehlt unserem Kind eine Ausbildung zum Werker im Garten- und Landschaftsbau.

Auch wenn das nicht der Wunschberuf unseres Kindes ist.

Das Bild zeigt ein schwarzes Strichmännchen, das sich mit der rechten Hand an die Stirn tippt und die Augen fragend nach oben richtet. Über dem Kopf des Männchens befinden sich drei rote Fragezeichen.

Unser Kind könnte sich auch über eine Unterstützte Beschäftigung im Bereich Veranstaltungstechnik qualifizieren.

Bei einer Unterstützten Beschäftigung werden Menschen mit Behinderung direkt vor Ort in einem Betrieb angeleitet. Sie können ausprobieren, welche betrieblichen Tätigkeiten sie gut schaffen. Und sich darüber auf eine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung in dem Betrieb vorbereiten.

Allerdings: Die betriebliche Qualifizierung im Rahmen einer unterstützten Beschäftigung ist keine Ausbildung. Sie dient alleine dazu, behinderte Menschen auch ohne formale Bildungsabschlüsse in eine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt zu bringen.

Für unser Kind hieße das, dass es nicht über den Status eines angelernten Hilfsarbeiters hinaus käme. Überdies würde es in der Zeit der Qualifizierung kaum etwas verdienen.

Doch unser Kind möchte mehr. Es will sich nicht mit einem direkten Einstieg in eine Anlerntätigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt zufrieden geben. Es möchte lernen und eine Ausbildung machen – so wie seine nicht-behinderten Freunde auch.

Auf dem Bild sieht man Unterschenkel und Fuß eines Menschen in roten Turnschuhen.

Endstation Übergangsbereich

Eigentlich wollte unser behindertes Kind direkt nach der Schule mit einer betrieblichen Ausbildung beginnen. So wie seine nicht behinderten Freunde auch.

Dazu hat unser Kind über ein Jahr lang Praktika gemacht, in unterschiedlichen Einrichtungen und Betrieben.

Am Ende der Praktika gab es von allen Seiten nur gute Rückmeldungen.
Trotzdem hat unser Kind nach Abschluss der Schule mit keiner Ausbildung begonnen.

Hat sich unser Kind nicht ausreichend angestrengt? Hätten wir als Eltern mehr unterstützen müssen?

Das Bild zeigt das Ende eines Stumpfgleises, gesichert mit einem Prellbock. Im Hintergrund sieht man eine blühende Kastanie und Bahnanlagen.

Inzwischen weiß ich:

Es liegt nicht an unserem Kind oder an uns, dass es mit einem nahtlosen Wechsel von der Schule in die Ausbildung nicht geklappt hat. Es liegt an einer strukturellen Diskriminierung von jungen Menschen mit Behinderung.

Nur wenigen Jugendlichen mit Behinderung gelingt in Deutschland ein nahtloser Wechsel von der Schule in eine betriebliche Ausbildung.

Etwas mehr schaffen den nahtlosen Wechsel in eine überbetriebliche Ausbildung.

Jugendliche mit einer geistigen oder psychischen Behinderung wechseln besonders häufig direkt nach der Schule in eine Werkstatt für behinderte Menschen.

Die meisten Jugendlichen mit Behinderung werden nach Schulende zunächst in Maßnahmen des sogenannten Übergangsbereich vermittelt.

In einem Kreisdiagramm werden die Werdegänge behinderter junger Menschen nach ihrem Schulabschluss im Jahr 2008 (bis 2015) vorgestellt.
Untersucht wurden 15.723 junge Rehabilitanden und Rehabilitandinnen der Agentur für Arbeit. (Quelle: Achatz, Juliane; Reims, Nancy; Sandner, Malte; Schels, Brigitte (2021): Benachteiligte Jugendliche tun sich beim Übergang von der Schule ins Erwerbsleben besonders schwer, In: IAB-Forum 18. August 2021, https://www.iab-forum.de/benachteiligte-jugendliche-tun-sich-beim-uebergang-von-der-schule-ins-erwerbsleben-besonders-schwer/


Der Übergangsbereich ist für Jugendliche gedacht, die nach dem Ende ihrer Schulzeit noch keinen Ausbildungsplatz gefunden haben.

Ziel des Übergangbereichs ist es, die Ausbildungschancen dieser Jugendlichen zu verbessern.

Eine Vielzahl regional sehr unterschiedlicher Programme und Maßnahmen sollen die Berufsorientierung stärken und eine erste berufliche Qualifizierung ermöglichen. Auch Schulabschlüsse können im Übergangsbereich nachgeholt werden.

Allerdings führen die Angebote des Übergangbereichs zu keinem Berufsabschluss. Auf eine spätere Ausbildung werden sie nicht angerechnet. 

Angelegt ist der Übergangsbereich als Notfallplan. Und damit als ein Plan B.

Ein Plan B, der nur dann in Kraft tritt, wenn es mit Plan A (dem nahtlosen Wechsel in eine Ausbildung) nicht geklappt hat.

Den meisten Jugendlichen ohne Behinderung gelingt in Deutschland tatsächlich ein nahtloser Wechsel von der Schule in eine Ausbildung. Für sie erübrigt sich damit der Übergangsbereich.

Rechts im Bild sieht man ein gelbes Richtungsschild. Darauf steht oben "Plan B" und unten rot durchgestrichen "Plan A" Darüber ein blauer Himmel und unten Gräser.

Anders sieht dies bei Jugendlichen mit Behinderung aus.

Für die meisten behinderten Jugendlichen ist der Übergangsbereich bereits Plan A und damit fester Bestandteil ihres Lebenslaufs.

Viele Lehrer und Berufsberater an den inklusiven Stadtteilschulen in Hamburg gehen einfach davon aus, dass behinderte Jugendliche nach Abschluss ihrer 10jährigen Schulzeit automatisch in ein sogenanntes Ausbildungsvorbereitungsjahr wechseln.

Auch bei unserem Kind war das so.

Den behinderten Jugendlichen und ihren Eltern wird gesagt:

Durch das Ausbildungsvorbereitungsjahr lässt sich das in Hamburg geltende 11. Pflichtschuljahr erfüllen. (Dass sich das 11. Pflichtschuljahr auch über den Besuch einer Berufsschule während des ersten Ausbildungsjahres erfüllen lässt, bleibt unerwähnt.)

Oft heißt es auch:

Jugendliche mit Behinderung sind nach dem Ende ihrer Schulzeit noch nicht reif für eine Ausbildung.

Beides hat zur Folge, dass sich behinderte Jugendliche während ihrer Schulzeit in der Regel erst gar nicht mit der Suche nach einem Ausbildungsplatz beschäftigen.

In der linken Bildhälfte sieht man sieben bunte Spielsteine, angeordnet in einem Kreis. In der rechten Bildhälfte stehen ein schwarzer und ein weißer Spielstein nebeneinander.

In der Agentur für Arbeit ist meist die sogenannte Reha-Abteilung für Menschen mit Behinderung zuständig.

In Hamburg beginnen die Berufsberater der Reha-Abteilung ihre Vermittlungstätigkeit generell erst am Ende der 11jährigen Pflicht-Schulzeit.

Damit wird das Ausbildungsvorbereitungsjahr im Anschluss an die 10jährige Schulzeit für inklusiv beschulte behinderte Jugendliche zum Pflichtjahr.

Und es geht noch weiter.

Am Ende des Ausbildungsvorbereitungsjahres empfehlen Hamburgs Reha-Berater oftmals die Teilnahme an einer weiteren berufsvorbereitenden Bildungsmaßnahme.

Das heißt: Behinderte Jugendliche sollen möglichst ein weiteres Jahr im Übergangsbereich verbleiben. Um weiterhin bestehende „Defizite“ auszugleichen.

Nur so lasse sich die Chance auf den erfolgreichen Abschluss einer anschließenden Ausbildung vergrößern.

Allerdings zeigt die Praxis: Genau das Gegenteil ist der Fall!

Je länger ein behinderter Jugendlicher im Übergangsbereich verbleibt, umso schlechter werden seine Chancen auf eine erfolgreiche Ausbildung und eine anschließende Beschäftigung auf dem 1. Arbeitsmarkt.

Viele sagen daher:

Der Übergangsbereich ist wie eine Black Box. Wer einmal im Übergangsbereich ist, dem gelingt kaum noch der Sprung in Ausbildung und Beschäftigung.

In der Mitte des Bildes steht "Human Rights". Darum herum sind viele bunte Handflächen einschließlich Handgelenken bzw. Unterarmen gezeichnet.

Das Deutsche Institut für Menschenrechte sagt:

Der Übergangsbereich ist ein Sondersystem, das gegen die UN-Behindertenrechtskonvention verstößt.

Einzige Aufgabe dieses Sondersystems ist es, ausschließlich defizitär definierte Gruppen von Jugendlichen aufzufangen, denen ein nahtloser Wechsel von Schule in Ausbildung verwehrt wird.

Durch das dauerhafte Bereitstellen dieses Sondersystems müssen sich bestehende Exklusionsmechanismen des Arbeitsmarkts nicht ändern. Inklusion wird verhindert.

Die bewegte Suche nach einem Ausbildungsplatz

Für unser großes Kind war immer klar: Gleich nach der Schule möchte es mit einer Ausbildung beginnen. Endlich arbeiten, endlich eigenes Geld verdienen.

Für unser großes Kind und mich war auch klar: Das mit einer Ausbildung wird nicht einfach werden. Denn unser Kind hat eine Fetale Alkoholspektrumstörung, bekannt als FASD. Wegen dieser Behinderung hat unser Kind keinen Schulabschluss und wird mehr Unterstützung bei der Ausbildung benötigen als andere Jugendliche.

Damit es trotzdem mit einer Ausbildung klappt, hat unser Kind bereits in seinen letzten zwei Schuljahren angefangen, nach einer Ausbildungsmöglichkeit zu suchen.

Auf dem Bild sieht man Knöpfe und Schalter eines Mischpults.

Ursprünglich wollte unser Kind im Bereich Veranstaltungstechnik arbeiten. Doch nach einem Praktikum in einer Firma für Veranstaltungstechnik hieß es im Abschlussgespräch: Die theoretischen und technischen Hürden in der Ausbildung zur Fachkraft für Veranstaltungstechnik seien sehr hoch und mit der Lernbehinderung unseres Kindes wohl nicht zu schaffen.

Also hat sich unser Kind umorientiert.

Hat mit Ehrgeiz, Freude und Erfolg zahlreiche Praktika im Garten- und Landschaftsbau gemacht.

Hat rechtzeitig die Psychologischen Eignungsuntersuchung (PSU) bei der Agentur für Arbeit absolviert.

War zum Gespräch beim Fachberater in der inzwischen für unser Kind zuständigen Reha-Abteilung der Agentur für Arbeit.

Hatte schließlich die Zusage des Berufsbildungswerks auf eine begleitete betriebliche Ausbildung zum Werker im Garten- und Landschaftsbau in der Tasche.

Unser Kind war ganz schön stolz auf sich. Und ich auf unser Kind.

Auf dem Bild sieht man den nach oben gehaltenen Daumen eines jungen Menschen in buntem Sweat-Shirt.

Doch dann rief kurz vor Schulschluss und Sommerferien überraschend das Berufsbildungswerk an und erklärte: Die Lehrer an der Berufsschule glaubten nicht, dass unser Kind die theoriereduzierte Ausbildung zum Werker schaffe. Seine “Lernrückstände“ seien einfach zu groß.

Darum zog das Berufsbildungswerk seine Zusage auf eine begleitete Werker-Ausbildung im Garten- und Landschaftsbau wieder zurück. Stattdessen solle unser Kind zunächst ein Ausbildungsvorbereitungsjahr machen und fleißig an seinen Mathekenntnissen arbeiten. Dann könne es sich im nächsten Jahr nochmals beim Berufsbildungswerk bewerben.

Unser Kind und ich verstanden die Welt nicht mehr.

Eigentlich ist die Ausbildung zum Werker als Alternative für behinderte Menschen gedacht, die aufgrund der Art und Schwere ihrer Behinderung keine übliche Ausbildung schaffen.

Und nun sollte das für unser Kind nicht möglich sein, weil die behinderungsbedingten „Lernrückstände“ zu groß seien?

Auf dem Bild sieht man einen jungen Menschen, der am Schreibtisch vor einem offenen Laptop sitzt und den Kopf auf Tisch und Tastatur gelegt hat.

Nur zwei Tage später rief die Firma für Veranstaltungstechnik an, bei der unser Kind Praktikum gemacht hatte. Sie bräuchten dringend Leute. Und würden unser Kind gerne als Aushilfe einstellen.

Unser Kind war selig: Doch noch arbeiten und Geld verdienen!

Und: Mit einer bezahlten Aushilfstätigkeit in der Hand wurde die Perspektive eines unbezahlten Ausbildungsvorbereitungsjahres für unser Kind endlich aushaltbar.

(Nur ich hatte etwas Stress und musste innerhalb weniger Wochen ein Ausbildungsvorbereitungsjahr organisieren.)

Das Bild zeigt eine Weggabelung mit grün belaubten Büschen an den Seiten. Davor steht ein kleiner Junge in roter Sportjacke und blauen Jeans, der sich für einen der zwei Wege entscheiden muss.

In gut drei Wochen soll es nun losgehen mit dem Ausbildungsvorbereitungsjahr. Eigentlich. Denn seit wenigen Tagen ist wieder alles anders:

Unser Kind hat ein Ausbildungsplatz-Angebot!

Bei der Firma für Veranstaltungstechnik, in der es jobbt!

Wie es jetzt weitergeht? Noch haben wir keinen Plan. Die Agentur für Arbeit ist angeschrieben. Ein Beratungstermin bei der zuständigen Handelskammer ist in Arbeit.

Ich halte Sie und euch weiter auf dem Laufenden!

Chancengleichheit?

Unser Pflegekind wird langsam flügge.

Im Sommer beendet es die Schule und möchte eine Ausbildung im Garten- und Landschaftsbau beginnen.

Endlich eigenes Geld verdienen!

Das Bild zeigt einen Menschen mit Schutzausrüstung beim Arbeiten mit einem elektrischen Kantentrimmer.

Das Ausbildungs-Gehalt ist zwar nicht üppig – aber deutlich mehr als Taschengeld.

Allerdings:

Unser Kind wird wohl ein Viertel seines Ausbildungsgehalts abgeben müssen.

An das Jugendamt.

Um sich an den Kosten für seine Unterbringung in einer Pflegefamilie zu beteiligen.

Blick von oben auf ein Paar rote Turnschuhe im Sand.

Vielleicht muss unser Kind auch noch mehr Geld abgeben.

Denn: Unser Kind hat eine angeborene Behinderung.

Besonders beim Lernen braucht es zusätzliche Hilfe.

Daher wird es sehr wahrscheinlich eine unterstützte Ausbildung machen.

Gefördert durch die Rehabilitations-Abteilung der Bundesagentur für Arbeit.

In solchen Maßnahmen erhalten junge Menschen mit Behinderung kein Ausbildungsgehalt.

Sie erhalten ein sogenanntes Ausbildungs-Geld.

Das hört sich ähnlich an, ist aber ein Unterschied.

Denn: Ausbildungsgeld ist kein Einkommen.

Ausbildungsgeld ist eine sogenannte unterhaltssichernde Leistung.

Das heißt: Das Jugendamt darf Ausbildungsgeld fast vollständig einziehen.

Um seine Kosten für die gewährte Jugendhilfemaßnahme zu decken.

Für unser Kind bliebe dann nicht mehr viel übrig im Monat.

Das Bild zeigt ein rosa Sparschwein.

Ob das als Motivation ausreicht, um drei Jahre Ausbildung durchzuhalten?

Als Pflegemutter kann ich es nur hoffen.

Die jetzige Bundesregierung hat im November 2021 in ihrem Koalitionsvertrag festgelegt:

Heim- und Pflegekinder sollen eigene Einkünfte komplett behalten können.“

Ich hoffe, dieses Vorhaben wird zügig umgesetzt.

Und gilt dann für alle Heim- und Pflegekinder.

Unabhängig davon, ob sie eine Behinderung haben oder nicht.

Wie alles begann – oder: „Auf welche Schule soll unser Kind?“

Füße in roten Turnschuhen stehen mit Zehenspitzen auf einem Geländer


Frühjahr 2012, Schuleingangsuntersuchung im Gesundheitsamt Bergedorf

Nach der Untersuchung und Testung unseres sechsjährigen Pflegekindes teilte uns die zuständige Ärztin mit:

„Also, auf einer normalen Schule sehe ich ihr Kind nicht. Da kommt es nicht mit.

Auf der Sprachheilschule sehe ich es auch nicht. Dafür ist es sprachlich zu fit.

Auf der Sonderschule sehe ich es auch nicht. Dazu ist es nicht behindert genug.“

Die Förderschule war nach Einführung der Inklusion gerade aufgelöst. Die ging also auch nicht.

Ich fragte nach: „Auf welche Schule soll unser Kind denn dann? Schließlich gibt es in Deutschland eine allgemeine Schulpflicht.“

Die Ärztin reagierte mit einem Schulterzucken und antwortete: 

„Ja, das weiß ich auch nicht.“

Frühjahr 2021

Seit drei Jahren wissen wir: Unser Pflegekind hat eine Fetale Alkohol-Spektrumstörung (FASD).

Bei seiner Einschulung 2012 haben wir uns für den inklusiven Weg entschieden. Nun liegen vier Jahre Grundschule und fünf Jahre Stadtteilschule hinter uns. 

Viele tolle Lehrerinnen und Lehrer haben sich auf unser Kind eingelassen und tragfähige Bindungen zu ihm aufgebaut. Durch seine offene und zugewandte Art hat es sich einen festen Platz in der Klassengemeinschaft erobert. Seine Stärken werden gesehen. Ihm wird etwas zugetraut. 

Allerdings: 

Das Lernen ist auf der Strecke geblieben. Ein individualisierter Unterricht funktioniert bis heute nicht. Immer noch wissen Lehrerinnen und Lehrer zu wenig über die Behinderung unseres Kindes. 

Regelmäßig müssen wir als Eltern mit dem Regionalen Bildungs- und Beratungszentrum und der Schulbehörde um eine ausreichende Unterstützung für unser Kind ringen. Die Schulbegleitung wurde jährlich gekürzt. Der Sonderpädagoge ist zu selten in der Klasse.

Unser Akku als Eltern ist so gut wie leer. Inzwischen geht es nur noch darum, das letzte Schuljahr an der Stadtteilschule so gut wie möglich hinter uns zu bringen. Für unser Kind wird das bedeuten, möglichst viele Praktika zu machen, während sich seine Klassenkameraden auf den ersten und zweiten Schulabschluss vorbereiten. 

Fazit

Die passende Schule für unser Kind gibt es bis heute nicht.

Mein Wunsch für eine „Inklusionsmetropole Hamburg“: Ein inklusives Schulsystem, das sich den individuellen Bedürfnissen von Kindern und Jugendlichen mit Behinderung anpasst!