„Mich sorgt die Art und Weise, wie bei uns in Deutschland über Menschen mit FASD gesprochen wird.“

Gerade erst war der 9. September.

Immer am 9. September wird weltweit auf die meist unsichtbare Behinderung FASD (Fetale Alkohol-Spektrum-Störung) aufmerksam gemacht.

Auch in Deutschland gab es diesmal Aktionen und Veranstaltungen.

Und das gleich an mehreren Orten, darunter Hamburg.

Denn FASD ist bei uns inzwischen um einiges bekannter geworden.

Links im Bild sieht man ein Paar rote Turnschuhe. Rechts daneben steht: September 9th. International Fetal Alcohol Spectrum Disorder Awareness Day.

Dank dem engagierten Einsatz vieler Adoptiv- und Pflege-Eltern gibt es immer häufiger Berichte und Filme über FASD und die Menschen, die davon betroffen sind.

Die Zahl der Selbsthilfe-Gruppen für Eltern und Betroffene wächst.

Neue Beratungsstellen und Fachzentren entstehen.

Es gibt jetzt eine spezielle FASD-Fachkraft-Ausbildung.

Und seit neustem auch einen Bundesverband FASD.

Alles in allem eine tolle Entwicklung, sollte man meinen.

Und trotzdem bin ich besorgt.

Auf dem Bild sieht man eine kleine Sorgenfresser-Figur aus Plüsch.

Mich sorgt die Art und Weise, wie bei uns in Deutschland über Menschen mit FASD gesprochen wird.

Immer wieder lese oder höre ich:

Menschen mit FASD sind „geschädigt“ und „krank“, weil ihre Mütter während der Schwangerschaft Alkohol getrunken haben.

Sie haben bereits vor der Geburt eine „irreparable Hirnschädigung“ erworben, unter der sie ein Leben lang „leiden“ werden.

Ohne Aussicht auf „Heilung“.

Und mit „fatalen Folgen“:

  • Menschen mit FASD können „nicht eigenständig leben“.
  • Sie bleiben ein Leben lang auf Unterstützung angewiesen.
  • Sie zeigen deutliche Verhaltensauffälligkeiten.
  • Sie können nicht lernen.
  • Sie schaffen es nicht, einer geregelten Arbeit nachzugehen.
  • Sie werden kriminell.
  • Sie landen auf der Straße oder in der Psychiatrie.

Menschen mit FASD werden als „Systemsprenger“ bezeichnet, als „Dorfdeppen“ oder „tickende Zeitbomben“.

Und sie verursachen, so wird behauptet, einen enorm hohen „volkswirtschaftlichen Schaden“.

Teilweise werden sogar konkrete Summen genannt, die die Millionen übersteigen.

Auf dem Bild sind viele verschiedene Zitate zum Thema FASD zusammengestellt, u.a. aus der Apotheken-Rundschau, dem Hamburger Abendblatt sowie der Website des FASD Fachzentrums Hamburg. Alle Zitate sind geprägt durch eine defizitäre,  ableistische und stigmatisierende Sicht auf Menschen mit FASD.
Copyright: Inklusion-in-Hamburg.de

Solch eine drastische Darstellung sei notwendig, damit Menschen mit FASD endlich die Aufmerksamkeit und Unterstützung erhalten, die sie benötigten.

Erklären mir einige Aktivisten aus der Adoptiv- und Pflegeeltern-Szene.

Und fordern gleich einen ganzen Katalog von Unterstützungsleistungen für ihre „schwerst- und mehrfach behinderten“ Kinder.

Ich halte diese Sicht auf Menschen mit FASD für äußerst problematisch.

Sie ignoriert das menschenrechtliche Modell von Behinderung.

Sie stigmatisiert und schürt Vorurteile.

Sie setzt auf Defizite und wertet Menschen mit FASD ab.

Sie hält Menschen mit FASD klein.

Und sie ist gefährlich!

Das Bild zeigt schwarz-gelbe Warnstreifen.

Unsere deutsche Geschichte zeichnet sich durch einen wenig rühmlichen Umgang mit Menschen mit Behinderungen aus.

In keinem anderen Land der Welt gibt es so alte und ausgeprägte Sonderstrukturen wie bei uns.

Gleichzeitig blicken wir zurück auf eine lange Tradition, den Wert eines Menschen über seine Leistung zu bemessen.

Noch als Kind wurde mir gesagt: „Wer nicht arbeitet, braucht auch kein Essen.“

Bei Menschen mit Behinderungen wurde bereits lange vor den Nationalsozialisten zwischen verschieden Gruppen unterschieden.

Nämlich denen, die „noch bildungsfähig“ seien.

Denen, die „lediglich der Beschäftigung fähig“ seien.

Und den „Pflegefällen“, die nur kosten, aber zu nichts nützten.

Der Blick in den langen Flur eines alten, heruntergekommenen Gebäudes aus der Gründerzeit. Links sieht man offen stehende Türen, rechts große, zum Teil offen stehende kaputte Fenster. Durch die Fenster erhascht man einen kleinen Ausblick in den Innenhof des aus Backstein gemauerten Gebäudes.

Mit der Eugenik setzte sich ab 1900 die Vorstellung durch, dass Behinderungen eine Folge „minderwertiger Erbanlagen“ seien und daher von Generation zu Generation weitergegeben würden.

Als eine der häufigsten Ursache für „Nerven- und Geisteskrankheiten“ und anderen „Missbildungen“ bei Kindern galt der „Alkoholmissbrauch“ der Eltern.

Der Alkoholkonsum von Müttern und Vätern wiederum wurde als Beweis für deren „minderwertige Erbanlagen“ angesehen.

Auf dem Bild ist folgender Text zu lesen: " Zu Tafel III. Alkohol und Entartung. Der verderbliche Einfluss des Alkoholmissbrauches auf die Nachkommenschaft ist ein so augenscheinlicher und zugleich so ungemein wichtiger, dass wir wenigstens einige der auf diesem Gebiete bekannt gewordenen Tatsachenreihen wiedergeben mussten. Die Darstellungen sind ohne weiteres verständlich; sie zeigen einmal die grosse Kindersterblichkeit in Trinkerfamilien, sodann die Häufigkeit von Nerven- und Geisteskrankheiten wie von Missbildungen, endlich auch die geringere Widerstandsfähigkeit der Trinkerkinder gegen Tuberkulose. Es darf allerdings nicht unberücksichtigt bleiben, dass die Trunksucht der Eltern in vielen Fällen das Zeichen ihrer leiblich-seelischen Entartung ist, die sie selbst schon von ihren Eltern ererbt haben. Selbstverständlich ist auch die Minderwertigkeit der Kinder nicht allein durch die [...]"

Der Textauszug stammt aus: Wandtafeln zur Alkoholfrage. Erläuterungen nebst den 10 verkleinerten Tafeln in mehrfachem Farbendruck, 2., unveränderte Auflage , München 1907.
Fortsetzung des Textes von Bild 1: 
"[...]  schädliche Wirkung des Alkohols auf die Keime bedingt, sondern es spielen dabei die Begleiterscheinungen der Trunksucht, die
Zerrüttung der Ehe, die sittliche Verwahrlosung und der wirtschaftliche Niedergang in Trinkerfamilien sicherlich eine wesentliche Rolle. Auf der andern Seite ist zu betonen, dass die Angaben über die Schicksale von Trinkerkindern insoweit meist an einer gewissen Unvollständigkeit leiden, als ein Ueberblick über  ihr gesamtes Leben in der Regel nicht vorliegt. Sehr schwere
Gefahren bringt bei ihnen oft genug der Eintritt in die Entwicklungsjahre und in das selbstständige Erwerbsleben. Wollte man daher ein wirklich zuverlässiges Urteil über die Nachkommenschaft
der Trinker gewinnen, so müssten deren Schicksale mindestens
etwa bis zum 25. oder 30. Lebensjahre in Betracht gezogen
 werden, was allerdings auf sehr erhebliche praktische Schwierigkeiten stösst."

Der Textauszug stammt aus: Wandtafeln zur Alkoholfrage. Erläuterungen nebst den 10 verkleinerten Tafeln in mehrfachem Farbendruck, 2., unveränderte Auflage , München 1907.
Quelle der Bilder: Wandtafeln zur Alkoholfrage. Erläuterungen nebst den 10 verkleinerten Tafeln in mehrfachem Farbendruck, 2., unveränderte Auflage , München 1907.

Nach dem 1. Weltkrieg verschärfte sich die eugenische Diskussion.

Mediziner und Juristen begannen damit, intensiv für die „Vernichtung lebensunwerten Lebens“ zu werben, um – so die Vorstellung – die „Volksgemeinschaft“ zu stärken und gesellschaftliche Kosten für „Ballastexistenzen“ zu reduzieren.

Menschen mit angeborenen „Gehirnveränderungen“ – auch als „unheilbar Blödsinnige“ oder „geistig Tote“ bezeichnet – standen dabei ganz oben auf der Liste derjenigen, deren „wertlose“ Leben zur „Vernichtung“ freigegeben werden sollten.

Gefolgt von den als „unheilbar“ angesehenen Kranken.

Die Nationalsozialisten griffen schließlich die Forderungen aus der Eugenik auf und rechtfertigten damit die hunderttausendfachen Zwangssterilisationen und „Euthanasie“-Morde an Menschen mit Behinderungen.

Auf dem Bild ist in altdeutscher Schrift zu lesen: 
"Hier interessiert uns nun zunächst die Frage, welche Eigenschaften und Wirkungen den Zuständen geistigen Todes zukommen. In äußerlicher Beziehung ist ohne
weiteres erkennbar: der Fremdkörpercharakter der
geistig Toten im Gefüge der menschlichen Gesellschaft, das
Fehlen irgendwelcher produktiver Leistungen , ein Zustand völliger Hilflosigkeit mit der Notwendigkeit der Versorgung durch Dritte. In bezug auf den inneren Zustand würde zum Begriff des geistigen Todes gehören, daß nach der Art der Hirnbeschaffenheit klare Vorstellungen, Gefühle oder Willensregungen nicht entstehen können, daß keine Möglichkeit der
Erweckung eines Weltbildes im Bewußtsein besteht, und daß
keine Gefühlsbeziehungen zur Umwelt von den geistig
Toten ausgehen können, (wenn sie auch natürlich Gegenstand
der Zuneigung von seiten Dritter sein mögen).
Das wesentlichste aber ist das Fehlen der Möglichkeit, sich der eigenen Persönlichkeit bewußt zu werden, das Fehlen des Selbstbewußtseins. Die geistig Toten stehen auf einem intellektuellen Niveau, das wir erst tief unten in der Tierreihe wider finden, [...]." 

Es handelt sich um ein Zitat aus dem 1922 erschienenen Buch von Karl Binding und Alfred Hoche: Die Freigebe der Vernichtung lebensunwerten Lebens - ihr Maß und ihre Form.
Auf dem Bild ist in altdeutscher Schrift zu lesen: 
"Die Frage, ob der für diese Kategorien von Ballastexistenzen notwendige Aufwand nach allen Richtungen hin gerechtfertigt sei , war in den verflossenen Zeiten des Wohlstandes nicht dringend; jetzt ist es anders geworden, und
wir müssen uns ernstlich mit ihr beschäftigen. Unsere Lage ist wie die der Teilnehmer an einer schwierigen Expedition,
bei welcher die größtmögliche Leistungsfähigkeit Aller die unerläßliche Voraussetzung für das Gelingen der Unternehmung bedeutet, und bei der kein Platz ist für halbe,
Viertels- und Achtels-Kräfte. Unsere deutsche Aufgabe wird
für lange Zeit sein: eine bis zum höchsten gesteigerte Zusammenfassung aller Möglichkeiten, ein Freimachen jeder
verfügbaren Leistungsfähigkeit für fördernde Zwecke. Der
Erfüllung dieser Aufgabe steht das moderne Bestreben
entgegen, möglichst auch die Schwächlinge aller Sorten zu  erhalten, allen, auch den zwar nicht geistig toten, aber doch
 ihrer Organisation nach minderwertigen Elementen Pflege
 und Schutz angedgihen zu lassen — Bemühungen, die dadurch ihre besondere Tragweite erhalten, daß es bisher nicht möglich gewesen, auch nicht im Ernste versucht worden ist, diese Defektmenschen von der Fortpflanzung auszuschließen."

Es handelt sich um ein Zitat aus dem 1922 erschienenen Buch von Karl Binding und Alfred Hoche: Die Freigebe der Vernichtung lebensunwerten Lebens - ihr Maß und ihre Form.
Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens – ihr Maß und ihre Form. Von Karl Binding und Alfred Hoche, Leipzig 1922, S. 57 und 55.

Wer glaubt, dass diese menschenverachtenden Vorstellungen von Menschen mit Behinderungen nach dem Ende des 2. Weltkriegs einfach verschwanden, irrt sich gewaltig.

Im Gegenteil.

Noch lange nach Kriegsende galten die an Menschen mit Behinderungen verübten Morde und Zwangssterilisationen bei vielen als gerechtfertigt – wegen der angeblichen „Minderwertigkeit“ der Opfer.

Anfang der 1970er Jahre ging eine Mehrheit aller Deutschen nach wie vor davon aus, dass Eltern an den Behinderungen oder Lernschwierigkeiten ihrer Kinder schuld seien.

Als „Hauptursachen“ galten „Vererbung“, „Trunksucht“ oder „Inzest“.

Aber auch eine „falsche Erziehung“, so meinten nicht wenige, spiele eine Rolle.

Eine Wäscheleine im Garten. Auf der Leine hängen verschiedene Wäschestücke, die im Stil an die 1970er Jahre erinnern.

Eine erste, zaghafte Aufarbeitung der an Menschen mit Behinderungen verübten Morde und Verbrechen begann erst in den 1980er Jahren.

Sie ist bis heute nicht abgeschlossen.

Erst in den 1990er Jahren setzte sich langsam die Erkenntnis durch, dass die Erfassung, Verfolgung, Zwangssterilisation und Ermordung von Menschen mit Behinderungen ein zentraler Teil der nationalsozialistischen Rassenideologie war.

Trotzdem sind die Opfer bis heute nicht offiziell als Verfolgte des Nationalsozialismus anerkannt.

Ein schwarz-weiß Bild der Stelen des Holocaust-Mahnmals in Berlin.

Warum schreibe ich das alle?

Die Art und Weise, wie bei uns in Deutschland über Menschen mit FASD gesprochen wird, weckt bei mir ungute Erinnerungen an das alte, gefährliche Gedankengut.

Natürlich weiß ich, dass das niemals beabsichtigt ist.

Aber es zeigt, wie tief verwurzelt die alten, von Leistung, Eugenik und Faschismus geprägten Denkmuster bei uns in Deutschland immer noch sind.

Um so wichtiger wird es, sich endlich von einem veralteten, von Medizinern geprägten Blick auf Menschen mit FASD und anderen Behinderungen zu verabschieden.

Menschen mit FASD sind nicht behindert – sie werden behindert.

Und zwar durch ein Wechselspiel zwischen individuellen Beeinträchtigungen und umwelt- und meinungsbedingten Barrieren in unserer Gesellschaft.

Wollen wir Menschen mit FASD nachhaltig unterstützen, müssen wir ihnen zunächst helfen, diese Barrieren zu überwinden.

Um sie dann gemeinsam mit ihnen abzubauen.

Das bedeutet auch:

Wir müssen Menschen mit FASD gleichberechtigt mit an den Tisch holen, wenn wir über FASD reden.

„Nichts über uns ohne uns“ – so lautet nicht umsonst eine der wichtigsten Forderungen der Behindertenrechtsbewegung.

In Kanada und anderswo werden Menschen mit FASD am internationalen FASD-Tag gefeiert.

Menschen mit und ohne FASD gehen gemeinsam auf die Straße und setzen sich für Menschenrechte ein.

In Hamburg gab es am 9. September einen Fachtag, an dem Mediziner, Psychologen und Erziehungswissenschaftler Vorträge hielten über FASD, Diagnostik und Therapie.

Foto einer großen, protestierenden Menschenmenge am Jungfernstieg. Darüber sieht man ein selbst gemaltes Plakat mit der Aufschrift „Menschenrechte statt rechte Menschen".

Bei uns in Deutschland sind Menschen mit Behinderungen nach wie vor viel zu selten sichtbar.

Eine Begegnung zwischen Menschen mit und ohne Behinderungen findet kaum statt.

Unbehagen und Unsicherheiten im Umgang mit Menschen mit Behinderungen sind weiterhin groß.

Viele glauben immer noch, dass Menschen mit Behinderungen am besten in Sondereinrichtungen wie Sonderschulen, Werkstätten und besonderen Wohnformen aufgehoben sein.

Dazu zählen nicht wenige Adoptiv- und Pflege-Eltern von Kindern mit FASD.

Gleichzeitig ist ein deutlicher Rechtsruck in unserer Gesellschaft spürbar.

Hinzu kommen die aktuellen Debatten darüber, ob sich unsere Gesellschaft einen Sozialstaat noch leisten kann.

Meine Angst wächst, dass es auf einmal heißen könnte:

  • Wenn Menschen mit FASD nicht lernen können, muss man auch nicht in deren Bildung investieren.
  • Unterstützungsleistungen für Menschen mit FASD sind zu teuer und lohnen nicht.
  • Menschen mit FASD gehören in Sonderschulen und Sondereinrichtungen.
  • Menschen mit FASD brauchen immer jemanden, der für sie die „richtigen“ Entscheidungen trifft.
  • Hat eine Frau in der Schwangerschaft Alkohol getrunken, sollte sie über einen Schwangerschaftsabbruch nachdenken.
  • Ist es überhaupt gut, wenn Menschen mit FASD Kinder bekommen?
Vier Menschen stehen in einem Kreis zusammen. Das Bild zeigt den Blick auf ihre Beine und Füße. Alle tragen dunkle lange Hosen und Turnschuhe in unterschiedlichen Farben.

Menschen mit FASD sind in erster Linie Menschen – so wie du und ich.

Wir alle haben unsere besonderen Stärken und Schwächen, unsere Wünsche und Träume.

Keiner gleicht dem andern.

Jeder wird wertgeschätzt und erhält die Unterstützung, die er braucht.

Damit alle mitmachen können.

Und jeder selbst bestimmt leben kann.

Das ist Inklusion.

Es geht nicht darum, Türen zu ersetzen

Vor einer Woche veröffentlichte das Hamburger Abendblatt einen ganzseitigen Artikel über die Fetale Alkoholspektrum-Störung FASD.

Und zwar an exponierter Stelle.

Normalerweise freue ich mich über solche Artikel. Ganz besonders als Mutter eines Kindes mit FASD.

Doch diesmal ist das anders.

Auf dem Bild sieht man einen lachenden Säugling in Bauchlage auf einer Decke.

Bereits den Anfang des Artikels finde ich problematisch:

„Eigentlich sollte es inzwischen wirklich jeder wissen: Schwangere dürfen keinen Alkohol trinken, denn dieser schädigt ihr ungeborenes Kind. Umso erschreckender ist, dass es trotzdem dauernd passiert“.

Hier wird mit dem moralischen Zeigefinger auf Mütter gezeigt: „Wie könnt ihr nur.“

Allerdings:

Wohl keine schwangere Frau trinkt mit der Absicht, ihrem ungeborenen Kind bewusst zu schaden.

Schwangere Frauen trinken:

  • weil sie sich amüsieren wollen und noch nicht wissen, dass sie schwanger sind.
  • weil ihnen immer noch Menschen sagen: „Ein oder zwei Schlückchen in der Schwangerschaft schaden doch nicht.“
  • weil sie gefangen sind in Drogen- oder Alkoholsucht.
  • weil sie andere schwerwiegende Probleme haben und dringend Unterstützung bräuchten.

Verurteilen wir leibliche Mütter von Kindern mit FASD, führt dies nur dazu, dass sie den Konsum von Alkohol in der Schwangerschaft verheimlichen.

Das hilft keinem. Ganz besonders nicht den betroffenen Kindern.

Wichtig ist es, leiblichen Müttern vorurteilsfrei zu begegnen. Zusammen mit ihren betroffenen Kindern müssen wir ihnen einen schnellen Zugang zum Hilfesystem ermöglichen.

Das Bild zeigt einen Holzstempel vor einem schwarzen Hintergrund. Auf den Griff des Stempels ist ein Strich-Gesicht gemalt. Dieses sieht aus, als würde es die Augenbrauen hochziehen.

Auch die Sichtweise auf Menschen mit FASD, die in dem Artikel zum Ausdruck kommt, bereitet mir Bauchschmerzen.

Bereits sehr früh fällt der Begriff des „Dorfdeppen“:

„Früher hatten wir das Wissen nicht. Jedes Dorf hatte seinen ‚Dorfdeppen‘. […] Wenn wir uns diese heute angucken würden, liegt die Vermutung nahe, dass der eine oder andere eine Alkoholschädigung hatte.“

Auch wenn dies sicherlich nicht beabsichtigt ist:

Hier wird an alte Bilder und Vorurteile angeknüpft, die hängen bleiben.

Die einen durch das Weiterlesen des Artikels und darüber hinaus begleiten.

Und die Menschen mit FASD und ihre Bezugspersonen verletzen können.

Im weiteren Verlauf des Artikels wird vorgestellt, wie sich die durch Alkohol verursachte vorgeburtliche Hirnschädigung auf das Leben von Menschen mit FASD auswirkt:

  • Menschen mit FASD bleiben ein Leben lang anders.
  • Menschen mit FASD verhalten sich auffällig bis herausfordernd, oft auch gewalttätig.
  • Menschen mit FASD sind freundlich und treu.
  • Menschen mit FASD können aus Erfahrung nicht lernen.
  • Kinder mit FASD schaffen in der Regel kein Abitur, auch wenn viele von ihnen einen normal hohen IQ haben.
  • Menschen mit FASD sind ein Leben lang auf Fürsorge und Unterstützung angewiesen.

Hinter dieser Beschreibung von Menschen mit FASD versteckt sich ein immer noch tief verwurzeltes medizinisch geprägtes Verständnis von Behinderung:

Eine Behinderung wird gesehen als etwas, das vom „Normalen“ abweicht.

Wie eine „biologische Funktionseinschränkung“ oder eine „Krankheit“.

Dazu passen Begriffe wie „Fehlbildung“, „hirnorganische Schädigungen“ oder „Heilung“, die sich wie ein roter Faden durch den Artikel ziehen.

Das Bild zeigt einen Playmobil-Arztkoffer.

Diese rein medizinisch geprägte Sicht auf Menschen mit FASD halte ich für äußerst problematisch.

Betroffene werden ausschließlich über ihre Gehirnschädigung definiert und als defizitär betrachtet.

Dadurch werden Menschen mit FASD bewertet, entmündigt und diskriminiert.

Der Blick von oben in eine geöffnete Eierpackung. In der Packung sind neun braune Eier und ein weißes Ei.

Die UN-Behindertenrechtskonvention hat bereits vor über zehn Jahren klargestellt:

Ein Mensch ist nicht per se behindert. Er wird durch eine Umwelt behindert, die individuelle Unterschiede nicht berücksichtigt.

Unser Kind hat FASD.

Unser Kind weiß: Wegen seiner FASD hat es verschiedene Einschränkungen.

Diese Einschränkungen sind für unser Kind normal. So normal wie seine Augenfarbe.

Problematisch wird es erst, wenn die Umwelt unseres Kindes diese Einschränkungen ignoriert. Wenn sie etwas erwartet, dass unser Kind aufgrund seiner Einschränkungen nicht erfüllen kann.

Dann wird unser Kind behindert.

Auf dem Bild sieht man die untere Hälfte eines Menschen in schwarzen Jeans und roten Turnschuhen, der einen Luftsprung macht.

Das Bundesteilhabegesetz legt fest:

„Menschen mit Behinderungen sind Menschen, die körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen haben, die sie in Wechselwirkung mit einstellungs- und umweltbedingten Barrieren an der gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft […] hindern können.“

Dadurch ändert sich der Blick auf Behinderung.

Für Kinder und Jugendliche mit FASD bedeutet das zum Beispiel:

Nicht ihre Einschränkungen durch FASD sind schuld daran, warum sie kein Abitur schaffen. Stattdessen verhindern bestehende schulische Strukturen, dass junge Menschen mit FASD auf ihre Potentiale zugreifen und gleichberechtigt an Bildung teilhaben können.

Wollen wir Menschen mit FASD wirksam unterstützen, müssen wir lernen, ihre individuellen Einschränkungen nicht als Defizite zu betrachten.

Sondern als unveränderliches Merkmal und damit als Teil menschlicher Vielfalt.

Warum wir den „Tag des alkoholgeschädigten Kindes“ dringend umbenennen sollten

Immer am 9. September wird weltweit auf die Fetale Alkoholspektrumstörung (FASD) aufmerksam gemacht – und zwar bereits seit 1999.

FASD ist eine lebenslange Behinderung. Sie entsteht, wenn das Gehirn eines Kindes bereits vor seiner Geburt durch die toxigenen Bestandteile von Alkohol dauerhaft verändert wird.

In englischsprachigen Ländern wird der 9. September als FASD Awareness Day bezeichnet. Oder auch schlicht als FASD DAY. Übersetzt heißt das „FASD Bewußtseins-Tag“ oder einfach „FASD Tag“.

Links im BIld sieht man ein Paar rote Turnschuhe. Rechts daneben steht: "September 9th International Fetal Alcohol Spectrum Disorder Awareness Day".

In Deutschland heißt der 9. September „Tag des alkoholgeschädigten Kindes“. Und genau das sollten wir schleunigst ändern!

Denn: Bezeichnungen sagen viel über Haltungen, die sich dahinter verbergen.

Unser Kind hat FASD. Wenn wir unserem Kind sagen würden: Du bist alkoholgeschädigt, würde es garantiert wütend protestieren:

„Ich bin doch kein Alkoholiker!“

„Ich bin doch nicht kaputt!“

„Ich habe doch keinen Schaden! Und erst recht keinen Dachschaden!“

Auch ich sehe unser Kind nicht als Menschen, dem ein Schaden zugefügt wurde.

Schaden – das bedeutet Beeinträchtigung, Benachteiligung, Störung, Beschädigung, Defekt, Fehler, Mangel, Gebrechen oder Leiden.

Hat etwas einen Schaden, heißt dies fast immer, es hat weniger Wert.

Überdies wird der Mensch, dem der Schaden zugefügt wurde, auf die Rolle eines Opfers reduziert.

Unser Kind ist weder beschädigt, kaputt, gebrechlich oder mangelhaft. Auch ist es kein „armes Opfer“. Und vor allem ist es eins nicht: weniger wert!

Unser Kind hat eine angeborene Behinderung. Durch den Kontakt mit Alkohol hat sich sein Gehirn im Mutterleib anders verdrahtet und verschaltet als üblich. Dadurch tickt es anders. Das macht manche Dinge kompliziert, sowohl für unser Kind wie auch seine Umwelt.

Trotzdem ist unser Kind ein wunderbarer, selbstbestimmter Mensch. Ein Mensch mit Stärken und Schwächen. So wie jeder und jede von uns.

Das Bild zeigt Teile eines schwer beschädigten Autos.

Es gibt noch einen zweiten Grund, warum wir den „Tag des alkoholgeschädigten Kindes“ dringend umbenennen sollten.

Dort, wo es einen Geschädigten gibt, gibt es meist auch jemanden, der den Schaden verursacht hat. Der – absichtlich oder unabsichtlich – Schuld an dem Schaden hat. Das wäre bei einem Kind mit FASD seine leibliche Mutter, die während der Schwangerschaft Alkohol getrunken hat.

Allerdings ist solch eine Sichtweise wenig hilfreich für den Umgang mit FASD.

Keine schwangere Frau trinkt mit der Absicht, ihrem ungeborenen Kind bewusst zu schaden.

Schwangere Frauen trinken

  • weil sie sich amüsieren wollen und noch nicht wissen, dass sie schwanger sind.
  • weil ihnen immer noch Menschen sagen: „Ein oder zwei Schlückchen in der Schwangerschaft schaden doch nicht.“
  • weil sie gefangen sind in Drogen- oder Alkoholsucht.
  • weil sie andere schwerwiegende Probleme haben und dringend Unterstützung bräuchten.

Verurteilen wir leibliche Mütter von Kindern mit FASD, führt dies nur dazu, dass sie den Konsum von Alkohol in der Schwangerschaft verschweigen. Dadurch wird den betroffenen Kindern der Zugang zu Diagnose und notwendiger Unterstützung erheblich erschwert.

Piktogramm mit einer rot durchgestrichenen schwarzen Flasche mit einem Weinglas davor als Symbol für das Verbot von Alkohol

Um FASD zu verhindern und Menschen mit FASD zu unterstützen, hilft keine Stigmatisierung von Müttern. Entscheidend ist es,

  • das Bewusstsein für die Gefahren von Alkohol während einer Schwangerschaft immer wieder zu schärfen.
  • schwangere Frauen so zu unterstützen und stärken, dass sie während der Schwangerschaft auf Alkohol verzichten können.
  • leiblichen Müttern vorurteilsfrei zu begegnen und ihnen zusammen mit ihren betroffenen Kindern einen schnellen Zugang zum Hilfesystem zu ermöglichen.

Von daher schlage ich vor:

Lasst uns den 9. September einfach FASD-Tag nennen!

Zwölf unterschiedliche linke Schuhe (Turnschuhe, Sandalen, Pumps und Badelatschen) in den Farben grün, blau, rot, orange, gelb und lila stehen im Kreis angeordnet auf einem Kiesbett.

An was denken Sie bei der Bezeichnung „alkoholgeschädigtes Kind“?

Paul

Darf ich vorstellen: Das ist Paul!

Zeichnung eines Jungen, der auf seinem Fahrrad durch einen Wald fährt. Begleitet wird er von einem kleinen Hund.

Paul sieht aus wie alle Jungen seines Alters. Vielleicht ist er etwas kleiner und dünner als die meisten. Doch das ist relativ.

Paul liebt Musik, Fahrrad fahren, Computerspiele, Chips und Schokolade.

Pauls Eltern sind nicht seine leiblichen Eltern. Da Pauls Bauch-Mama mit Pauls Versorgung überfordert war, wurde Paul bereits wenige Wochen nach seiner Geburt vom Jugendamt in Obhut genommen.

Die ersten zwei Jahre seines Lebens hat Paul in einem Kinderheim gelebt. Danach zog er bei seinen Pflegeeltern ein.

Bis heute kann Paul schlecht schlafen. Er hat oft Alpträume.

Paul erzählt gerne, ist höflich und liebt es, andern zu helfen.

Paul kann sich die wildesten Geschichten ausdenken und hat immer eine gute Idee.

Paul verliert schnell die Geduld und die Übersicht. Außerdem merkt er oft nicht, wenn sein Körper Hunger hat oder friert.

Bei einer Sache zu bleiben fällt Paul schwer. Oft vergisst er Dinge. Das fängt bereits beim Anziehen an. Seine Pflegemutter muss ihn dann immer wieder daran erinnern, mit dem Anziehen weiter zu machen.

Wenn die Dinge nicht so laufen, wie Paul es sich vorstellt oder gewohnt ist, wird er oft sehr, sehr wütend. Früher hat er dann wild um sich geschlagen, gebrüllt und getreten. Inzwischen schimpft er meist nur noch.

Pauls Pflegeeltern haben sich lange Sorgen gemacht, was mit Paul los ist. Oft haben sie sich gefragt, was sie falsch machen.

Inzwischen wissen Paul und seine Pflegeeltern: Paul hat FASD.

Einige Teile in Pauls Gehirn sind nicht richtig verschaltet. Sie wurden durch Alkohol geschädigt, als Paul noch im Bauch seiner leiblichen Mutter war. Das lässt sich nicht mehr ändern. Auch nicht durch Medizin.

Betroffen ist vor allem Pauls Frontalhirn.

Das Frontalhirn ist für die Fähigkeiten zuständig, die für die Kontrolle und Selbstregulierung des eigenen Verhaltens erforderlich sind. Wissenschaftler nennen das die Exekutivfunktionen.

Exekutivfunktionen werden für alle alltagspraktischen Fähigkeiten gebraucht. Zum Beispiel beim Anziehen, beim Tisch decken oder bei der Unterscheidung zwischen Wichtigem und Unwichtigem.

Menschen, deren Exekutivfunktionen gestört sind, sind meistens ein Leben lang auf Unterstützung im Alltag angewiesen.

Ausreichende Unterstützung kann Paul dabei helfen, mit sich und andern gut klar zu kommen.

Innenansicht eines Gehirns

Paul gibt es nicht wirklich. Paul habe ich mir ausgedacht.

Allerdings: In Paul findet sich vieles von dem, was ich mit Kindern mit FASD erlebt habe. Oder von dem mir Eltern von Kindern mit FASD erzählt haben.

Daher könnte man auch sagen: Es gibt nicht einen Paul, sondern viele Pauls und auch Paulas in Hamburg.

Neue Untersuchungen zeigen: Unter 100 Kindern in englischen Grundschulen weisen 1 bis 3 Kinder deutliche Merkmale von FASD auf. Für Nordamerika geht man inzwischen davon aus, dass 4 von 100 Kindern FASD haben. Das ist 1 Kind in jeder Schulklasse!

Für Deutschland fehlt bislang verlässliches Datenmaterial. Lange wurde geschätzt, dass sich unter 100 Kindern in Deutschland 1 Kind mit FASD finden lässt. Es ist zu befürchten, dass diese Schätzung zu niedrig angesetzt ist.

In meinem Blog werde ich Ihnen von nun an immer einmal wieder von Paul berichten.

#Red shoes rock – Rote Schuhe rocken

Ich liebe rote Schuhe.

Sie sehen einfach schick aus.

Sie fallen auf.

Außerdem ist rot eine meiner Lieblingsfarben.

#Redshoesrock

Doch rote Schuhe sind noch viel mehr:

Rote Schuhe machen weltweit aufmerksam auf die Fetale Alkohol-Spektrum-Störung FASD.

Im Jahr 2013 entschied sich der Kanadier R.J. Formanek dazu, erstmals in seinem Leben rote Schuhe zu tragen.

Dadurch wollte er auffallen und seine Einzigartigkeit unterstreichen.

Und er wollte mit Menschen ins Gespräch kommen: über seine angeborene Behinderung FASD.

Formanek war bereits Ende 40, als er erfuhr: Er hat FASD. Diese Diagnose veränderte sein Leben tiefgreifend.

Schon als junger Mensch hatte Formanek gemerkt, dass er sich von andern unterschied.

Er nahm die Welt um sich herum anders wahr.

Er fühlte anders.

Und er scheiterte immer wieder an Dingen, die für andere selbstverständlich und einfach schienen.

Die Diagnose FASD bedeutete für Formanek Erleichterung und Klarheit.

Nicht er war schuld, dass sein bisheriges Leben nicht rund gelaufen war.

Ein unbeabsichtigter vorgeburtlicher Alkoholkonsum hatte dazu geführt, dass sich seine Gehirnzellen anders verschaltet hatten als üblich.

„Our brains are different, but that does not have to be a bad thing, we can be the spark that starts a whole new way of looking at things, we can change how the world sees itself, because we ARE different. Take care of each other, the rest comes along one step at a time.“ ( R.J. Formanek)

Ausgehend von dieser Erkenntnis entwickelte Formanek erfolgreich Strategien, um mit seinem FASD umzugehen und gut zu leben.

Heute ist Formanek einer der wichtigsten Fürsprecher für Menschen mit FASD in Nordamerika. Seine Erfahrungen teilt er auf Vorträgen, in Seminaren und im Internet.

2012 gründete Formanek die erste Facebook Selbsthilfegruppe für Menschen mit FASD und deren Unterstützer: Flying with Broken Wings.

Ein Jahr später rief er gemeinsam mit Jodee Kulp die Red Shoes Rock– FASD -Bewegung ins Leben.

Seitdem wollen rote Schuhe

  • das Unsichtbare sichtbar machen,
  • Gespräche anregen,
  • Stigma umwandeln in Verständnis und Akzeptanz.

So, I am on a journey to understand how you see the world, because I KNOW how I see mine… so I share what I see, you share what you see and between us we both develop a deeper understanding of being human.(J.R. Formanek)

Menschen mit FASD sind so viel mehr als ihr FASD!

Gestern war der 9. September: Internationaler FASD-Aktionstag!

In den sozialen Netzwerken wurden viele tolle Beiträge gepostet – von engagierten Menschen mit und ohne FASD.

Zwei davon haben mich besonders berührt.

Alexandra Taussig, eine Frau mit FASD, beschreibt auf Instagram, was ihr aufgefallen ist:

Fast jeder, der über FASD lernt oder zu FASD forscht, konzentriert sich auf die Dinge , die Menschen mit FASD nicht gut können.

Ich würde Forscherinnen und Forscher gerne dazu auffordern, das zu erforschen, was Menschen mit FASD gut können.

Danielle, eine weitere junge Frau mit FASD, fordert auf Instagram:

Nichts über uns ohne uns!

Fragt danach, was wir können und was wir gut machen, nicht nur was wir nicht können oder wo wir Hilfe brauchen.

Auf dem Bild sieht man die untere Hälfte eines Menschen in schwarzen Jeans und roten Turnschuhen, der einen Luftsprung macht.

Ich bin inzwischen Weltmeisterin darin, Menschen zu erklären, was unser Kind alles nicht kann und wo es Schwierigkeiten hat.

Außerdem besitze ich einen ganzen Stapel ärztlicher und psychologischer Gutachten, die die Defizite unseres Kindes offiziell bescheinigen.

Das alles erscheint mir nötig, damit unser Kind eine möglichst gute Unterstützung erhält – jetzt und in der Zukunft.

Eins allerdings geht dabei völlig verloren: nämlich wie toll unser Kind eigentlich ist!

Unser Kind kann Herzen öffnen. Es ist offen, kommunikativ und entwaffnend ehrlich.

Unser Kind liebt es mit anzupacken, zu helfen und sich zu engagieren.

Unser Kind ist sehr kreativ und versteht es, andere für seine Träume und Pläne zu gewinnen.

Unser Kind liebt das Leben und die wildesten Achterbahnfahrten.

Unser Kind gibt sich sehr große Mühe, zuverlässig zu sein und zu gefallen.

Nach außen hin kann es sich super gut verkaufen.

Unser Kind hat ein sehr gutes Gespür dafür, was ihm gut tut und was nicht.

Lässt man sich auf unser Kind ein, kann es unglaublich treu und loyal sein.

Auf dem Bild sieht man die Wagen einer Achterbahn in voller Fahrt in einer Kurve. Die Menschen in den Wagen jubeln und kreischen.

Zum Glück gibt es Menschen, die mich immer wieder darauf aufmerksam machen, was unser Kind alles kann.

DANKE dafür!


Kennen Sie den Internationalen FASD-Aktionstag?

Bald ist es wieder soweit: Am 9. September ist FASD-Aktionstag!

Ein Werbebild für den FASD-Aktionstag aus Kanada: Zu sehen sind die Beine und Füße einer Person, die auf einer Steinkante nah am Wasser steht. Die Person trägt schwarze Jeans und rote Turnschuhe.
Der Text auf dem Plakat lautet: 99 Days to FASday. June 1 - September 9 2021. redshoesrock.com. oursacredbreath.com. @allabautfasd.
Copyright: our sacred breath – finding calm in the chaos of FASD

Immer am 9. September wird seit 1999 weltweit auf die fetale Alkoholspektrumstörung FASD als lebenslange Behinderung aufmerksam gemacht. Es gibt Demonstrationen, Spendenläufe, Glockengeläut, Plakataktionen, Informationsveranstaltungen, Kampagnen in sozialen Netzwerken und vieles mehr.

Ziel dieser Aktionen ist es, das Bewusstsein für FASD zu schärfen. FASD ist eine der häufigsten angeborenen Behinderungen überhaupt. Schätzungen gehen davon aus, dass allein in Deutschland jedes Jahr deutlich mehr als 10.000 Kinder mit FASD geboren werden. Dennoch wissen immer noch zu wenig Menschen bescheid über FASD.

Das liegt sicherlich mit daran, dass sich die meisten Menschen mit FASD auf den ersten Blick nicht von anderen unterscheiden. Viele nennen FASD daher auch eine unsichtbare Behinderung.

Bei Menschen mit FASD wurden Gehirn und zentrales Nervensystem bereits vor ihrer Geburt durch den Kontakt mit Alkohol irreparabel geschädigt. Die Folgen begleiten Betroffene ein Leben lang:

  • Sie können sich vieles nicht merken.
  • Sie können Handlungsabläufe nur schwer planen bzw. reflektieren.
  • Sich auf Neues einzustellen fällt ihnen schwer.
  • Sie haben eine besondere Art der Wahrnehmung.
  • Aus Fehlern können sie nur schwer lernen.
  • Sie reagieren sehr impulsiv, halten Frustrationen schlecht aus.
  • Sie haben häufig Schwierigkeiten im Umgang mit anderen.
  • Sie sind beeinträchtigt in ihrer körperlich-motorischen Entwicklung.

Damit Menschen mit FASD trotzdem gut leben, ihre Stärken entfalten und erfolgreich an der Gesellschaft teilhaben können, braucht es zwei Dinge: eine möglichst frühzeitige Diagnose und eine gute Unterstützung. Für beides macht sich der FASD-Aktionstag stark.

Außerdem wird am FASD-Aktionstag auf die Gefahren von Alkohol in der Schwangerschaft aufmerksam gemacht. Denn: FASD ist eine zu 100 Prozent vermeidbare Behinderung. Selbst kleine Mengen an Alkohol während einer Schwangerschaft können unabsehbare Folgen haben.

Nur ein vollständiger Verzicht auf Alkohol während einer Schwangerschaft kann FASD verhindern.

Das Bild zeigt eine grüne Fliesenwand. Darauf ist ein Schild mit der Aufschrift Stephansplatz angebracht. Über dem Schild kleben zwei Piktogramme an der Wand: Bitte nicht rauchen, bitte kein Alkohol.

In Hamburg ist das Bewusstsein für FASD erst schwach ausgeprägt. Vor allem in Schulen und Behörden kennen zu wenig Menschen FASD. Das macht es für Betroffene besonders schwer, ausreichend Hilfe zu erhalten.

Auch an Diagnosemöglichkeiten mangelt es, ganz besonders für Erwachsene.

Doch zum Glück verändert sich gerade etwas:

Der Unterstützerkreis für Menschen mit FASD wird größer.

Vor zwei Jahren wurde das FASD-Fachzentrum Hamburg gegründet.

In diesem Jahr stehen die Chancen gut, dass FASD als Behinderung in den nächsten Hamburger Landesaktionsplan zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention aufgenommen wird.

Wie wäre es, wenn spätestens am 9. September 2022 Menschen mit FASD zusammen mit dem ersten Bürgermeister eine FASD-Fahne auf dem Hamburger Rathaus hissen?

Auf dem Bild sieht man die Spitze eines Fahnenmastes. Daran flattert eine weiße Fahne im Wind. In der Mitte der Fahne sind zwei gemalte rote Turnschuhe zu sehen, an den Seiten steht FASD und SAFE.
#FASday: FASD Ottawa Walk (Kanada)

Mein Wunsch für eine „Inklusionsmetropole“ Hamburg:

  • Ausbau des FASD Fachzentrums
  • Verbesserung der Diagnosemöglichkeiten bei FASD, vor allem für Erwachsene
  • FASD-Fortbildungen in Behörden, Kitas und Schulen
  • Ausreichende Beratungsangebote für Menschen mit FASD
  • Freizeit- und Ferienangebote für Kinder und Jugendliche mit FASD
  • Unterstützte Wohnformen für Erwachsene mit FASD

Das Gehirn: unendliche Weiten – Oder: Probieren wir es doch mal mit Neurodiversität!

Mein Großvater war hirnverletzt. Aus dem Krieg brachte er Bombensplitter in seinem Kopf mit nach Hause. Die begleiteten ihn, bis er im Alter von 78 Jahren starb.

Die Splitter im Kopf verursachten immer wieder Schmerzen. Das machte meinen Großvater depressiv und aggressiv zugleich. Das war nicht leicht für seine Frau und seine Kinder.

Unser Pflegekind hat keine Splitter im Kopf. Sein Gehirn ist durch einen vorgeburtlichen Alkohol- und Drogenkonsum auf Dauer verändert. Wenn zu viele Dinge gleichzeitig auf unser Kind einströmen, ist es überfordert und reagiert aggressiv. Oder es schaltet ab und verweigert sich.

Als junge Frau habe ich ein Jahr lang mit Menschen mit einer Cerebralparese zusammen gelebt und gearbeitet. Bei einer Cerebralparese können sich Gehirn und Muskulatur nicht richtig miteinander verständigen. Menschen mit Cerebralparese haben Schwierigkeiten, ihre Bewegungen zu steuern. Sie haben Spastiken. Ihr Gleichgewicht ist gestört.

Bei autistischen Menschen wird vermutet, dass ihre unterschiedliche Wahrnehmung und Informationsverarbeitung auf unterschiedlichen Verarbeitungsprozessen im Gehirn beruhen.

Innenansicht eines Gehirns

Fragt man nach den Gemeinsamkeiten von Menschen mit Hirnverletzungen, FASD, Cerebralparese oder Autismus, so könnte eine Antwort darauf lauten:

Die Gehirne dieser Menschen sind geschädigt oder gestört. Dadurch sind sie dauerhaft eingeschränkt.

Diese Antwort geht von einer defizitär ausgerichteten Sichtweise aus. Das heißt:

Es gibt eine Norm. Alles, was von dieser Norm abweicht, ist schlecht, nicht normal, kaputt oder krank.

Viele Menschen mit Behinderung werden bis heute so definiert: Als Menschen, die nicht laufen, nicht sprechen, nicht hören, nicht sehen oder nicht richtig denken können.

Regenbogenfarbenes Unendlichkeitszeichen als Symbol für Autismus und Neurodiversität

Man kann aber auch sagen:

Die Gehirne dieser Menschen ticken anders: Sie sind anders verdrahtet und geschaltet. Deshalb entwickeln sie sich anders, nehmen anders wahr und kommunizieren anders.

Die Wissenschaft bezeichnet dies als Neurodiversität.

Neurodiversität bedeutet neurologische Vielfalt. Jeder Mensch, jedes Gehirn ist anders. Es gibt nicht den einen neurobiologischen Bauplan, sondern viele verschiedene. Damit entfällt die Unterscheidung zwischen gut oder schlecht, gesund oder krank, heile oder kaputt, normal oder behindert.

Jeder Mensch wird zu dem, was er ist: einzigartig und wunderbar!

Viele bunt bemalte Holzschuhe auf einer Bank

Mein Wunsch für eine „Inklusionsmetropole Hamburg“: ein neues Verständnis von Behinderung, das sich nicht an Defiziten orientiert, sondern jeden Menschen in seiner Einzigartigkeit Wert schätzt!

FASD und Schule

Den meisten Kindern mit FASD sieht man ihre Behinderung von außen nicht an. Sie verfügen über eine große sprachliche Kompetenz. Im direkten Umgang sind sie freundlich, motiviert und zugewandt. Und dennoch haben fast alle von ihnen gravierende Probleme in der Schule. Woran liegt das?

Zeichnung eines menschlichen Gehirns

Bedingt durch die vorgeburtliche Schädigung von Gehirn und Nervensystem können sich Kinder mit FASD nur schwer konzentrieren, vergessen viele Dinge, sind unruhig und impulsiv.

Vielen fehlt ein genaues Verständnis von Zeit und Raum.

Das Verhalten ihrer Mitmenschen können Kinder mit FASD ebenso schwer einschätzen wie Gefahren. Daher sind sie äußerst leicht verführbar.

Aus Erfahrungen können sie nicht lernen, ihre Handlungsplanung ist stark eingeschränkt.

Aufgaben können sie nur bewältigen, wenn diese in viele kleine Arbeitsschritte eingeteilt sind.

Überdies zeigen viele Kinder mit FASD Entwicklungsverzögerungen, Teilleistungsschwächen und Lernschwierigkeiten.

Ein Kind malt mit Kreide auf einer Tafel.

Von außen ganz normal wirkend und sprachlich kompetent, werden Kinder mit FASD von ihrer Umwelt regelmäßig überschätzt. Das gilt ganz besonders für die Schule. Hier geraten Kinder mit FASD immer wieder in Überforderungssituationen, auf die sie äußerst heftig reagieren können, sei es mit wüsten verbalen Beschimpfungen, körperlichen Angriffen auf Lehrer und Mitschüler oder einer völligen Verweigerung.

Dieses „auffällige Verhalten“ wird von Seiten der Schule (zu) häufig als schlechtes Benehmen, Widerspenstigkeit oder Faulheit fehlinterpretiert und entsprechend sanktioniert, was eine erneute Überforderung der  Kinder zur Folge hat.

Diese „Teufelskreise“ lassen sich nur dadurch aufbrechen, indem die Schule die Bedürfnisse von Kindern mit FASD erkennt und Unterricht und Schulalltag daran anpasst. Dazu ist es nötig, FASD als eine lebenslange organische Behinderung zu begreifen, die eine spezielle sonderpädagogische Förderung nötig macht.

Mein Wunsch für eine „Inklusionsmetropole Hamburg“: Anerkennung eines speziellen sonderpädagogischen Förderbedarfs bei Kindern und Jugendlichen mit FASD !

Unser Kind hat FASD

Unser Kind sieht aus wie andere Kinder.

Unser Kind spricht wie andere Kinder.

Unser Kind bewegt sich wie andere Kinder, fährt Fahrrad und schwimmt wie ein Weltmeister.

Unser Kind ist zu 70 Prozent schwerbehindert (mit dem Merkzeichen H), hat einen speziellen sonderpädagogischen Förderbedarf und Pflegestufe 2.

Geht das? Ja, das geht!

Unser Kind hat FASD.

Ultraschallbild eines Fötus im Mutterleib

FASD steht für Fetal Alcohol Spectrum Disorder. Übersetzt heißt das „Fetale Alkoholspektrumstörung“.

FASD entsteht, wenn Mütter während der Schwangerschaft Alkohol trinken. Durch die Giftstoffe des Alkohols werden die Organe und das zentrale Nervensystem der Föten irreparabel geschädigt. Betroffene Säuglinge leiden ein Leben lang an den Auswirkungen dieser Schädigungen.

FASD ist eine der häufigsten angeborenen Behinderungen weltweit. Schätzungen gehen davon aus, dass allein in Deutschland jedes Jahr deutlich mehr als 10.000 Kinder mit FASD geboren werden.

Trotzdem wissen immer noch viel zu wenig Menschen Bescheid über FASD.

Mein erster Maßnahmenvorschlag für den Hamburger Landesaktionsplan:

Verbesserung der Situation von Kindern und Erwachsenen mit FASD, um ihnen eine umfassende Teilhabe am gesellschaftlichen Leben (einschließlich Bildung) und eine zielgerichtete medizinische Versorgung zu ermöglichen.

Embryo im Mutterleib, umrahmt von einem Glas Alkohol und einer Scheibe Zitrone

Die Fetale Alkohol-Spektrumstörung (FASD) gilt als häufigste vorgeburtliche Behinderungsform weltweit. Schätzungen gehen davon aus, dass in Deutschland jährlich bis zu 10.000 Kinder mit FASD geboren werden.

Es gilt, verstärkt über FASD als lebenslange Behinderung aufzuklären, um präventiv zu wirken und die Situation Betroffener zu verbessern.

Bisher wird der Unterstützungsbedarf von Menschen mit FASD in allen Lebensbereichen (Schule, Arbeit, Wohnen, Freizeit) zu sehr unterschätzt. Überall dort gilt es, wirksame Unterstützungsangebote zu schaffen.

Auch muss die Diagnostik, insbesondere bei Erwachsenen, deutlich verbessert werden.