Hamburgs Schulbegleitung im Praxis-Check – die wichtigsten Ergebnisse

Zwei Jahre lang haben Erziehungswissenschaftler der Universität Oldenburg zur Schulbegleitung in Hamburg geforscht.

Ihr Abschlussbericht ermöglicht erstmals umfassende Einblicke in die formalen Strukturen und die tatsächliche Umsetzung von Schulbegleitung in unserer Stadt.

Doch was genau haben die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler eigentlich herausgefunden?

Ein Mann mit Lupe in der Hand. Er blickt mit einem Auge durch die Lupe. Dadurch wird dieses Auge stark vergrößert.

1. Die rechtlichen Regelungen in Hamburg sehen Schulbegleitung als nachrangige Leistung der Eingliederungshilfe – nicht als Bildungsangebot.

Hamburgs Schulen haben den Auftrag, die Teilhabe an Bildung und Erziehung für alle Schülerinnen und Schüler sicherzustellen.

Und zwar durch ein individualisiertes Bildungsangebot verbunden mit entsprechenden Maßnahmen.

Reichen die schulischen Angebote und Maßnahmen im Einzelfall nicht aus, kann eine Schulbegleitung beantragt werden.

In Behördensprache heißt das: Die Schulbegleitung ist immer nachrangig.

Eine Schulbegleitung soll es dem einzelnen Schüler ermöglichen, gleichberechtigt am schulischen Alltag und Unterricht teilzunehmen.

Schulbegleitung ist also in erster Linie ein Mittel zur Teilhabe – kein Bildungsangebot.

Das wird oft missverstanden.

Eigentlich ist Schulbegleitung eine personengebundene Leistung der Eingliederungshilfe.

Nämlich im Rahmen der Leistungen zur Teilhabe an Bildung.

Allerdings hat die Stadt Hamburg die Zuständigkeit für diese Leistung an die Behörde für Schule und Bildung übertragen.

Zwei ca. 6jährige Mädchen blicken mit gebeugten Köpfen in ein Schulheft. Das linke Mädchen malt mit einem Stift in das Heft.

2. Es gibt in Hamburg zwei unterschiedliche Verfahren zur Beantragung und Bewilligung von Schulbegleitung.

Was Schulbegleitung angeht, unterscheidet Hamburg zwischen Schülerinnen und Schülern mit komplexen psychosozialen Beeinträchtigungen.

Und Schülerinnen und Schülern mit erheblichem oder umfassendem Unterstützungsbedarf in der geistigen und/oder körperlich-motorischen Entwicklung.

In die Gruppe der Schülerinnen und Schüler mit einer komplexen psychosozialen Beeinträchtigung fallen alle jungen Menschen, die einen sonderpädagogischen Förderschwerpunkt in der emotional-sozialen Entwicklung haben. Viele von ihnen haben zusätzlich den Förderschwerpunkt Lernen.

In die Gruppe der Schülerinnen und Schüler mit erheblichem oder umfassendem Unterstützungsbedarf aufgrund einer Behinderung fallen junge Menschen mit einem Förderschwerpunkt körperlich-motorische Entwicklung und/oder geistige Entwicklung,

Bei Schülerinnen und Schülern mit einer komplexen psychosozialen Beeinträchtigung erfolgt die Beantragung und Bewilligung der Schulbegleitung über die Schulen und die
Regionalen Bildungs- und Beratungszentren (ReBBZ).

Bei Schülerinnen und Schülern mit einem Förderschwerpunkt körperlich-motorische Entwicklung und/oder geistige Entwicklung ist die Fachabteilung der Behörde für Schule und Bildung zuständig.

Beide Antrags- und Bewilligungsverfahren werden von vielen Eltern und Lehrkräften als zu aufwendig und wenig transparent beschrieben.

Oft können getroffene Entscheidungen nicht nachvollzogen werden.

Das Bild zeigt die obere Hälfte eines angespitzten orangenen Bleistifts. Im Hintergrund sieht man die verwischten Konturen eines Taschenrechners.

3. Die Zahl der Schulbegleitungen ist seit Einführung der schulischen Inklusion in Hamburg enorm gestiegen.

Im Schuljahr 2011/12 wurden in Hamburg rund 460 Schulbegleitungen bewilligt.

Im Schuljahr 2016/17 waren es bereits 1.874 Schulbegleitungen.

Im Schuljahr 2022/23 hatten 2.520 Schülerinnen und Schüler eine Schulbegleitung.

Im Schuljahr 2023/2024 stieg die Zahl der Schulbegleitungen auf 2.608.

Die Zahl der Schulbegleitungen in Hamburg hat sich innerhalb der letzten 12 Jahre also mehr als verfünffacht.

Noch bis 2022 hatten Schüler mit psychosozialen Beeinträchtigungen deutlich häufiger eine Schulbegleitung als Schüler mit Behinderungen.

Inzwischen ist die Zahl der Schulbegleitungen bei beiden Gruppen gleich hoch.

Ein Säulendiagramm zeigt die Anzahl der Schulbegleitungen in Hamburg zwischen 2018 und 2023. Dabei wird unterschieden zwischen Schüler*innen mit psychosozialen Beeinträchtigungen und Schüler*innen mit Behinderungen.

4. Schulbegleitungen werden in Hamburg hauptsächlich im laufenden Unterricht eingesetzt.

Bei der überwiegenden Mehrheit aller Kinder und Jugendlichen mit Schulbegleitung erfolgt die Unterstützung im laufenden Unterricht.

Bei Klassenfahrten und außerschulischen Maßnahmen (wie zum Beispiel Schwimmunterricht, Betriebspraktikum oder Ferienbetreuung) kommen Schulbegleitungen nur in Ausnahmefällen zum Einsatz.

Das gleiche gilt für die Ganztagsbetreuung und den Schulweg.

Auf einem Schultisch liegt ein Stapel Hefte. Zuoberst erkennt man ein Notenblatt. Rechts neben dem Stapel liegen ein Radiergummi, ein Kuli, ein Bleistift, eine grüne Flötenhülle und eine helle Blockflöte.

5. Eine Schulbegleitung dauert in der Regel zwei Jahre.

Die Dauer einer Schulbegleitung beträgt in Hamburg meist zwei Jahre.

Nur in absoluten Ausnahmefällen erstreckt sich eine Schulbegleitung über die gesamte Schulzeit eines Schülers.

Was den Umfang einer Schulbegleitung und die Gültigkeitsdauer des Bewilligungsbescheides angeht, zeigen sich deutliche Unterschiede zwischen Schülern mit einer komplexen psychosozialen Beeinträchtigung und Schülern mit Behinderung.

Einem Schüler mit einer komplexen psychosozialen Beeinträchtigung werden in der Regel 10 Stunden Schulbegleitung pro Woche bewilligt.

Meistens ist die Bewilligung zeitlich befristet. Und zwar auf 3 bis 6 Monate. Allerdings wird sie in der Regel mehrfach verlängert.

Ein Schüler mit Behinderung dagegen erhält im Durchschnitt 20 Stunden Schulbegleitung pro Woche.

Außerdem wird hier die Schulbegleitung jeweils für ein ganzes Schuljahr bewilligt. Eine Verlängerung über ein weiteres Schuljahr ist üblich.

Das Bild zeigt einen Wecker, der auf einem Schreibtisch steht.

6. Schulbegleitungen finden sowohl in Regelschulen wie auch in Sonderschulen statt.

Obwohl Hamburg gerne die inklusive Zielsetzung von Schulbegleitung betont, bedeutet der Erhalt einer Schulbegleitung nicht automatisch, dass ein Schüler inklusiv beschult wird.

Jede dritte Schulbegleitung in Hamburg findet an einer Sonderschule statt.

Dabei zeigen sich deutliche Unterschiede zwischen den zwei ermittelten Schülergruppen.

Schulbegleitungen für Schülerinnen und Schüler mit komplexen psychosozialen Beeinträchtigungen finden überwiegend an Grundschulen und Stadtteilschulen statt.

Hier unterstützt die Schulbegleitung also tatsächlich bei der inklusiven Beschulung.

Ein Kreisdiagram zeigt die Anzahl der Schulbegleitungen für SchülerInnen mit psychosozialen Beeinträchtigungen, unterschieden nach Schulformen, für das Schuljahr 2020/21.

Mehr als die Hälfte aller Schülerinnen und Schüler mit körperlichen und/oder geistigen Behinderungen, die Schulbegleitung erhalten, besucht eine Sonderschule.

Nur jede vierte Schulbegleitung findet an einer Grundschule statt, nur jede fünfte an einer Stadtteilschule.

Schulbegleitungen bei jungen Menschen mit körperlichen und/oder geistigen Behinderungen unterstützten also vor allem das Sondersystem und nicht die Inklusion.

An Gymnasien findet Schulbegleitung so gut wie nicht statt.

Ein Kreisdiagram zeigt die Anzahl der Schulbegleitungen für SchülerInnen mit Behinderungen, unterschieden nach Schulformen, für das Schuljahr 2020/21.

7. In Hamburg arbeiten sowohl junge Menschen in Freiwilligendiensten wie auch ausgebildete Fachkräfte als Schulbegleitung.

Bei der Bestellung einer Schulbegleitung unterscheidet Hamburg zwischen vier verschiedenen Anforderungsstufen.

Nämlich:

  • jungen Menschen in Freiwilligendiensten,
  • sozial erfahrenem Personal,
  • pädagogisch, pflegerisch oder therapeutisch ausgebildetem Personal und
  • sozialpädagogisch ausgebildetem Personal.

Innerhalb der einzelnen Anforderungsstufen fehlt es an verbindlichen Vorgaben, welche konkreten Kenntnisse, Fähigkeiten und Erfahrungen angehende Schulbegleitungen mitbringen sollten.

Ganz besonders gilt das für das Anforderungskriterium „sozial erfahren“.

Bei den meisten Schülerinnen und Schülern mit komplexen psychosozialen Beeinträchtigungen kommen „sozial erfahrene“ Schulbegleitungen zum Einsatz.

Gut jeder vierte Schüler mit einer komplexen psychosozialen Beeinträchtigung hat eine pädagogisch, pflegerisch oder therapeutisch ausgebildete Schulbegleitung. Meist sind das Erzieherinnen und Erzieher.

Nur selten werden Sozialpädagoginnen und Sozialpädagogen als Schulbegleitung eingesetzt, noch seltener junge Menschen in Freiwilligendiensten.

Ein Kreisdiagram zeigt die Qualifikation von Schulbegleitungen für SchülerInnen mit psychosozialen Beeinträchtigungen im Schuljahr 2021/22. Unterschieden wird zwischen den vier in Hamburg festgelegten Anforderungsstufen.

Ganz anders sieht es bei Schülerinnen und Schülern mit körperlicher und/oder geistiger Behinderung aus.

Hier kommen überwiegend junge Menschen in Freiwilligendiensten zum Einsatz.

Bei nur jedem vierten Schüler mit Behinderung gilt die Schulbegleitung als sozial erfahrene Kraft.

Schulbegleitungen mit einer pädagogischen, pflegerischen, therapeutischen oder gar sozialpädagogischen Ausbildung bleiben bei Schülerinnen und Schülern mit Behinderung die Ausnahme.

Ein Kreisdiagram zeigt die Qualifikation von Schulbegleitungen für SchülerInnen mit Behinderungen im Schuljahr 2021/22. Unterschieden wird zwischen den vier in Hamburg festgelegten Anforderungsstufen.

8. Hamburgs Schulbegleitungen sind nicht bei einer Schule angestellt, sondern bei externen Leistungsanbietern.

Benötigt ein Schüler eine Schulbegleitung, meldet seine Schule den Bedarf bei einem externen Leistungsanbieter an.

Der Leistungsanbieter sucht eine für den Schüler geeignete und ausreichend qualifizierte Schulbegleitung und stellt sie der Schule zur Verfügung.

Angestellt bleibt die Schulbegleitung beim Leistungsanbieter.

Der Arbeitsvertrag einer Schulbegleitung ist meist auf wenige Monate bis maximal ein Schuljahr befristet.

Geht ein Schüler wegen Krankheit oder Ferien nicht zur Schule, erhält die Schulbegleitung oftmals kein Geld.

Diese Rahmenbedingungen machen die Arbeit als Schulbegleitung wenig attraktiv.

Im Schuljahr 2018/2019 gab es in Hamburg 88 verschiedene Leistungsanbieter für Schulbegleitungen.

Etwas mehr als die Hälfte von ihnen bot ausschließlich Schulbegleitungen für Kinder und Jugendliche mit komplexen psychosozialen Beeinträchtigungen an.

Das Bild zeigt die Tastatur eines Tablets oder Laptops. Auf der Maus-Fläche steht ein Miniatur-Einkaufswagen. Darin befinden sich zwei leere Papiertaschen im Mini-Format. Und zwar in grün und rot.

9. Die Hamburger Schulbehörde führt eine umfangreiche Datenbank zur Schulbegleitung.

Seit dem Schuljahr 2016/2017 werden in Hamburg alle Anträge auf Schulbegleitung in einer Datenbank erfasst.

Diese Datenbank enthält Angaben:

  • über das für die beantragte Schulbegleitung zuständige Regionale Bildungs- und Beratungszentrum (einschließlich Bezirk),
  • über das Geschlecht, die Schulform, die Schule und die Klassenstufe der Schüler, für die Schulbegleitung beantragt wird,
  • über den vorrangigen sonderpädagogischen Förderbedarf und den weiteren sonderpädagogischen Förderbedarf der Schüler,
  • über das Schuljahr und das Anfragedatum,
  • über die rechtlichen Grundlagen der Schulbegleitung,
  • darüber, ob der Antrag auf Schulbegleitung bewilligt oder abgelehnt wurde,
  • über den Stundenumfang, die Förderdauer und das Kostensatzniveau der bewilligten Schulbegleitung.
  • über den Leistungsanbieter der Schulbegleitung sowie
  • über die Qualifizierung und Qualifikation der Schulbegleitung.

Mit dieser Datenbank verfügt Hamburg – anders als die meisten Bundesländer – über eine gute Datenbasis und Berichterstattung zur Schulbegleitung.

Das Bild zeigt einen kleinen Teil einer silbernen Tastatur. Über der Shift-Taste ist eine schwarze Taste mit der Aufschrift "BIG DATA".

10. Schulbegleitungen sind meistens weiblich und ansonsten sehr verschieden.

Die Gruppe der Schulbegleiterinnen und Schulbegleiter in Hamburg ist äußerst heterogen.

Die Altersspanne bei Schulbegleitungen beginnt mit der Volljährigkeit und reicht bis ins Rentenalter.

Es gibt Schulbegleitungen mit Abitur und Hochschulabschluss.

Und Schulbegleitungen ohne Ausbildung.

Ein Teil der Schulbegleiter ist pädagogisch ausgebildet.

Andere haben zuvor noch nie im pädagogischen Bereich gearbeitet.

Nur eins haben Hamburgs Schulbegleitungen gemeinsam: Sie sind meistens weiblich.

Das Bild zeigt eine Frau, die ein älteres Kind huckepack durch einen Wald trägt. Man sieht beide von hinten. Das Kind trägt einen großen Rucksack.

11. Vieles in Sachen Schulbegleitung ist in Hamburg nicht ausreichend geklärt.

Die Studie der Universität Oldenburg hat deutlich gemacht: Vieles in Sachen Schulbegleitung ist in Hamburg nicht ausreichend geklärt.

Das betrifft vor allem

  • die Auswahl und Qualifikation von Schulbegleitungen,
  • die Einarbeitung und Weiterbildung von Schulbegleitungen,
  • das Vertretungssystem für Schulbegleitungen,
  • die Aufgaben und Tätigkeitsfelder von Schulbegleitung,
  • die Ziele und Zielgruppen von Schulbegleitung sowie
  • die Rolle und Stellung von Schulbegleitung im Gesamtsystem Schule.

Durch diese Unklarheiten haben sich sehr unterschiedliche Erwartungshaltungen an Schulbegleitung entwickelt, die im schulischen Alltag zu oft nicht erfüllt werden.

Das führt zu einer großen Unzufriedenheit. Und zwar auf allen Seiten.

Viele Lehrerinnen und Lehrer empfinden Schulbegleitung inzwischen als Belastung. Sie wünschen sich eine deutlich bessere Vorbereitung und Fachlichkeit bei Schulbegleitern.

Viele Eltern sind enttäuscht bis verärgert, weil sie ihre Kinder nicht ausreichend unterstützt und gefördert sehen. Sie hatten gehofft, durch eine Schulbegleitung nähmen ihre Kinder endlich an Bildung teil.

Viele Schulbegleiterinnen und Schulbegleiter fühlen sich überfordert und zu wenig wertgeschätzt. Ihnen fehlt eine längerfristige Perspektive. Viele von ihnen geben schnell wieder auf.

Zu viele Schülerinnen und Schüler nehmen nach wie vor nur eingeschränkt bis gar nicht am Unterricht teil, wenn ihre Schulbegleitung fehlt.

In der Mitte des Bildes sieht man ein Strichmännchen mit fragendem Gesichtsausdruck. Es kratzt sich mit der rechten Hand am Kopf. Der linke Arm ist in die Hüften gestemmt. Um das Strichmännchen sieht man viele bunte Linien, die miteinander verknotet scheinen.

Die große Unzufriedenheit über Schulbegleitung führt inzwischen sogar dazu, dass manche die schulische Inklusion in Hamburg insgesamt in Frage stellen oder gar für gescheitert erklären.

Genau das bringt uns zum Kern des eigentlichen Problems.

Schulbegleitung allein macht noch keine Inklusion.

Schulbegleitung ist „nur“ das Hilfsmittel, damit ein Schüler mit Beeinträchtigung gleichberechtigt am Unterricht teilnehmen kann.

Ist der Unterricht selbst nicht inklusiv, kann auch eine Schulbegleitung nur bedingt erfolgreich sein.

Der Hamburger Senat betont oft und gerne, wie erfolgreich die schulische Inklusion in der Hansestadt sei.

Rhetorisch mag das vielleicht überzeugen. Wissenschaftlich belegt ist es nicht.

Leider versäumt es die Evaluation der Universität Oldenburg, neben der Schulbegleitung auch die inklusive Schulentwicklung in Hamburg genauer zu untersuchen.

Ja, es gibt in Hamburg inklusive Schulen, die sehr erfolgreich sind.

Allerdings sind das bislang die Ausnahmen.

Die meisten Schulen in Hamburg haben sich bisher kaum bis gar nicht damit beschäftigt, schuleigene Konzepte für eine inklusive Schule und eine individualisierte Unterrichtsgestaltung zu entwickeln.

Schulbegleitung als Leistung zur Teilhabe an Bildung kann nur dann funktionieren, wenn die angebotene Bildung tatsächlich inklusiv ist.

Genau hier gilt es anzusetzen – anstatt sich in einer Diskussion über unzureichende Schulbegleitungen zu verlieren.

Wir müssen endlich die immer noch vorhandenen exklusiven Strukturen im Hamburger Schulsystem genauer in den Blick nehmen.

Und inklusive Schulentwicklungsprozesse für alle Schulen verbindlich machen.

Auf dem Bild sieht man 7 Paar Gummistiefel, die auf einer Steinmauer aufgereiht stehen. Zwei Paar Gummistiefel sind pink, zwei Paar blau, zwei Paar orange und ein Paar rot. Hinter der Mauer und den Gummistiefeln sieht man grüne Büsche und Bäume.

Inklusion in Hamburg ist nicht gescheitert.

Inklusion in Hamburg hat noch gar nicht richtig angefangen.

Endlich da: die Evaluation der Hamburger Schulbegleitung

Lange haben wir darauf gewartet.

Nun ist sie endlich öffentlich: die Evaluation der Hamburger Schulbegleitung!

Ihr erinnert euch?

Vor drei Jahren erhielt die Universität Oldenburg vom Hamburger Senat den Auftrag, Schulbegleitungen in Hamburg zu untersuchen.

Und zwar verbunden mit den Fragen:

  • Wie sieht die Gruppe der Schülerinnen und Schüler aus, die in Hamburg Schulbegleitung erhält?
  • Wie sieht die Gruppe der Schulbegleiterinnen und Schulbegleiter aus?
  • Wie sehen die formalen Merkmale der Schulbegleitungen aus?
  • Welche Erwartungen werden an Schulbegleitungen gestellt? Wie werden sie wahrgenommen?
  • Welche Stärken und Schwächen hat das gegenwärtige Verfahren der Schulbegleitungen?
  • Wie lassen sich Schulbegleitungen in Hamburg verbessern?
Ein Mann mit Lupe in der Hand. Er blickt mit einem Auge durch die Lupe. Dadurch wird dieses Auge stark vergrößert.

Zwei Jahre lang (von Anfang 2022 bis Ende 2023) haben Erziehungswissenschaftlerinnen und Erziehungswissenschaftler der Universität Oldenburg zu diesen Fragen geforscht.

Im Juni 2024 haben sie dem Senat ihren fertigen Abschlussbericht vorgelegt.

Danach sah es zunächst so aus, als würde der Bericht für längere Zeit in nicht-öffentlichen Fächern der Schulbehörde verschwinden.

Zur internen Auswertung – so hieß es vom Senat.

Im Juli hat sich der Senat dann doch dazu entschieden, den fertigen Abschlussbericht im Transparenzportal der Stadt Hamburg zu veröffentlichen.

Hier ist er nun für alle einsehbar unter https://suche.transparenz.hamburg.de/dataset/abschlussbericht-eva-studie-schulbegleitung-in-hamburg-2024.

Eine richtige Entscheidung!

Auf dem Bild sieht man die Füße eines Menschen in roten Turnschuhen auf einem grünen Teppich. Um die Füße herum liegen ein roter Rucksack, zwei Spiralblöcke, mehrere Stifte und ein Handy.

Immer wieder fehlt die Schulbegleitung

Eltern behinderter Kinder in Hamburg wünschen sich seit langem deutlich mehr Verlässlichkeit im Schulalltag.

Immer wieder werden Kinder mit Behinderung vorzeitig aus dem laufenden Unterricht nach Hause geschickt.

Nicht selten gehen Kinder mit Behinderung erst gar nicht zur Schule.

Weil eine Schulbegleitung fehlt.

Das Bild zeigt eine Frau, die ein älteres Kind huckepack durch einen Wald trägt. Man sieht beide von hinten. Das Kind trägt einen großen  Rucksack.

Mit Beginn des Schuljahres 2022/23 scheint sich das Problem nochmals verschärft zu haben.

Egal, ob Regelschule oder Sonderschule – überall hieß es von Eltern:

Noch nie fehlten bereits zu Beginn eines Schuljahres so viele Schulbegleitungen!

Allerdings: Niemand weiß genau, wie viele Unterrichtsstunden Kinder mit Behinderung versäumen. Weil die Schulbegleitung fehlt.

Da sich jede Schule selbst verwaltet, sei die Erfassung von Zahlen schwierig. Sagt die Schulbehörde.

Das Bild zeigt einen Fensterputzer bei der Arbeit.

Erste konkrete Zahlen liefert nun eine Elternumfrage von Autismus Hamburg e.V.

Der Verein Autismus Hamburg e.V. ist eine Hamburger Selbsthilfe-Organisation. Gegründet 2009 durch Eltern von Kindern mit Autismus.

Viele Kinder mit Autismus brauchen in der Schule zusätzliche Unterstützung. Damit sie gut durch den Schultag kommen.

Im Herbst 2022 hat Autismus Hamburg e.V. daher 54 Eltern des Vereins zur aktuellen Situation der Schulbegleitung befragt.

Fast alle befragten Eltern hatten für ihr Kind eine Schulbegleitung beantragt. Entweder über ein Regionales Bildungs- und Beratungszentrum (ReBBZ) oder die Schulbehörde.

In vier von fünf Fällen wurde die Schulbegleitung bewilligt.

Von den bewilligten Schulbegleitungen fehlte zum Schulstart deutlich mehr als die Hälfte.

Meist war niemand für die Schulbegleitung gefunden worden.

In einigen Fällen erfolgte die Genehmigung nicht rechtzeitig.

Ein junger Mann sitzt auf einer Holzbank und blickt skeptisch Richtung Kamera. Im Hintergrund sieht man Blätter und Büsche.

Außerdem ergab die Umfrage:

Bei mehr als der Hälfte aller Kinder wurden zwischen 5 bis 18 Stunden Schulbegleitung pro Woche bewilligt. Das macht 1 bis 3 begleitete Unterrichtsstunden pro Tag.

Gut jedes vierte Kind erhielt zwischen 20 und 28 Stunden Schulbegleitung pro Woche.

Nur wenige Kinder hatten eine ganztägige Schulbegleitung.

Bei mehr als der Hälfte der Kinder reichten die bewilligten Stunden nicht, um gut durch den Schultag zu kommen.

Die Eltern gaben an, ihre Kinder seien deshalb verstärkt gestresst.

Oft müssten die Kinder bereits mittags aus der Schule abgeholt werden.

An einigen Tagen blieben die Kinder ganz zu Hause.

Dies wirkte sich deutlich auf den Alltag der Eltern aus.

Viele Eltern machten sich Sorgen: Wird ihr Kind in der Schule gut beschult und betreut?

Mehrere Eltern fühlten sich überfordert: Wie sollen sie den versäumten Unterricht mit ihrem Kind nachholen? Wie lässt sich ihr Kind emotional immer wieder auffangen?

Einige Eltern erklärten klar und deutlich: Sie können nicht im gewünschten Umfang arbeiten gehen.

Einige Eltern gaben an: Sie können überhaupt nicht arbeiten gehen.

Auf kariertem Papier sind drei unterschiedliche Smiley-Gesichter gezeichnet: glücklich, neutral und traurig. Dahinter steht jeweils ein Ankreuz-Kästchen. Eine Hand mit Stift setzt gerade ein schwarzes Häkchen.

Nun mag der ein oder andere sagen:

Die durchgeführte Elternumfrage von Autismus Hamburg e.V. ist nicht repräsentativ.

Zu wenige Eltern wurden befragt.

Andere Behinderungsformen wurden nicht berücksichtigt.

Es handelt sich um Einzelfälle, die individuell betrachtet werden müssen.

Dennoch bleiben die Ergebnisse der Umfrage alarmierend.

Sie untermauern das, was Eltern seit langem sagen:

Viele Kinder mit Behinderung nehmen in Hamburg nur eingeschränkt an Bildung teil.

Dabei sagt das Bundesteilhabe-Gesetz:

Kinder mit Behinderung haben Anspruch auf unterstützende Leistungen, damit sie Bildungsangebote gleichberechtigt wahrnehmen können.

Es ist dringend nötig, den durch fehlende Schulbegleitung verursachten Unterrichtsausfall für Kinder mit Behinderung genauer zu bestimmen.

Um daraus konkrete Verbesserungs-Maßnahmen abzuleiten.

Gerade lässt die Stadt Hamburg ihr bisheriges Verfahren in Sachen Schulbegleitung wissenschaftlich evaluieren.

Ein erster Zwischenbericht wird für März 2023 erwartet.

Der vollständige Abschlussbericht soll Ende 2023 folgen.

Ich bin sehr gespannt auf die Ergebnisse dieser Untersuchung.

Zwei rote Kinder-Gummistiefel stehen neben einer Pfütze. Der linke von beiden ist umgefallen.

Was ich bereits jetzt weiß:

Für das Schuljahr 2023/24 plant Autismus Hamburg e.V. eine erneute Elternumfrage zum Thema Schulbegleitung.

Das Thema Schulbegleitung – Frust und Wut von Eltern nehmen zu

Neulich in der Pflegeelterngruppe:

Eine Mutter erzählt von der fehlenden Schulbegleitung für ihr Kind.

Sofort wird es lauter in der Gruppe:

„Das Problem haben wir auch!“

„Wenn die Schulbegleitung nicht da ist, schickt die Schule unser Kind sofort nach Hause! Das geht doch nicht!“

„Wenn es eine Schulbegleitung gibt, dann ist das meist nur ein junger Mensch im freiwilligen sozialen Jahr. Also völlig unqualifiziert für unsere Kinder!“

„Warum wird nicht mit professionellen Kräften gearbeitet?“

„Die letzte junge Frau im freiwilligen sozialen Jahr hat genau acht Wochen durchgehalten und dann frustriert und überfordert das Handtuch geworfen!“

Jungen und Mädchen im Grundschulalter sitzen an einem langen Holztisch und malen. Auf dem Tisch stehen drei Becher mit Buntstiften.

Beim Thema Schulbegleitung sind die Fronten inzwischen deutlich verhärtet:

Eltern, die verärgert sind, weil ihre Kinder nur dann beschult werden, wenn eine Schulbegleitung anwesend ist.

Eltern, die fachlich kompetente Schulbegleitungen für ihre Kinder fordern. In der Hoffnung, dass ihre Kinder so erfolgreich an Bildung teilhaben können.

Berater in der Schulbehörde, die betonen, dass Schulbegleitungen nicht auf Dauer angelegt sind. Die deshalb regelmäßig Schulbegleitungsstunden kürzen. Und die gerne anbringen: Das sind keine Aufgaben von Schulbegleitung.

Schulen, die stöhnen, sie fänden keine Schulbegleiter. Oder von Anfang an sagen: Schulbegleitung zu beantragen ist uns zu zeitaufwendig und bringt zu wenig.

Schulbegleiter, die sich zu wenig informiert und nicht einbezogen fühlen. Denen konkrete Aufgabenbeschreibungen fehlen. Die nur befristete Arbeitsverträge erhalten und in den Ferien nicht bezahlt werden. Die oft frustriert wieder aufgeben.

Hinzu kommt das Wissen, dass es in Zukunft immer weniger qualifizierte Fachkräfte für Schulbegleitungen geben wird.

Es wird dringend Zeit, Schulbegleitung neu aufzustellen!

Hamburg-Flagge an einem Fahnenmast. Im Hintergrund erkennt man Wasser.

In Hamburg hat die Behörde für Schule und Berufsbildung gerade eine Evaluation des jetzigen Verfahrens von Schulbegleitung in Auftrag gegeben. Unter dem Titel „Schulbegleitung in Hamburg“ wollen Erziehungswissenschaftler der Universität Oldenburg herausfinden:

1. Welche Schülerinnen und Schüler erhalten eine Schulbegleitung ? Wer sind ihre Schulbegleiter?

2. Welche Erwartungen gibt es an Schulbegleitung? Wie wird Schulbegleitung wahrgenommen?

3. Was läuft gut beim jetzigen Verfahren der Schulbegleitungen? Was läuft weniger gut? Wie lässt sich Schulbegleitung insgesamt für alle verbessern?

Eine Untersuchungsmethode wird sein, verschiedene Gruppen von Personen zu befragen, die mit Schulbegleitung zu tun haben. Das sind:

  • in den Schulen: Schulleitungen, Förderkoordinatoren, Klassenlehrer und Sonderpädagogen.
  • in den Regionalen Bildungs- und Beratungszentren sowie der Fachabteilung Schulbegleitung: Koordinatoren, Fallzuständige, Gesamtleitungen, Beratungslehrkräfte.
  • die Leistungserbringer von Schulbegleitung: Träger und Schulbegleitungskräfte.
  • die Sorgeberechtigten von Schülerinnen und Schülern.
Auf dem Bild sieht man die Rückseite eines Kindes mit langen Haaren und  rotem Helm. Das Kind hängt mit einem Klettergurt an einem Seil an einer Felswand.

Als Mutter eines Kindes mit Behinderung fällt mir sofort auf:

In der Liste der zu befragenden Menschen fehlen die Schülerinnen und Schüler, die Schulbegleitung erhalten. Kein „Mit uns über uns“. Sondern weiterhin „Über die Köpfe von behinderten Schülerinnen und Schülern hinweg“.

Dabei ist unser Kind inzwischen Experte in Sachen Schulbegleitung. Immerhin hatte es acht Jahre lang eine Schulbegleitung an seiner Seite!

Unser Kind kann ganz genau benennen, was ihm bei einer Schulbegleitung wichtig ist.

Und das ist in erster Linie nicht die Qualifikation der Schulbegleitung.

Viel wichtiger für unser Kind ist: Es muss spüren, dass sich die Schulbegleitung einlässt und zu einer Bindung bereit ist. Dass sie unser Kind ein Stück an ihrem Leben teilhaben lässt. Das muss gar nicht viel sein. Es kann bereits reichen:

  • das Auto der Schulbegleitung zu kennen,
  • zu wissen, ob die Schulbegleitung einen Freund oder eine Freundin hat,
  • zu erfahren, welche Musik die Schulbegleitung mag oder welches Hobby sie hat.

Das mag sich banal anhören, ist aber für ein Kind mit Bindungsstörung enorm wichtig. Nur so kann es sich sicher fühlen und seinerseits Bindung wagen.

Bildungsforscher wissen inzwischen: Erst wenn Bindung und Vertrauen da sind, ist erfolgreiches Lernen überhaupt möglich.

Das Bild zeigt zwei rechteckige gelbe Luftballons. Auf dem oberen Teil der Ballons steht in schwarz Schrift "Schule", darunter "Kindergarten". "Kindergarten" ist rot durchgestrichen.

Auch ich als Mutter kann inzwischen so einiges zum Thema Schulbegleitung sagen.

Eine meiner Erfahrungen ist:

Schulbegleitung durch junge Menschen im freiwilligen sozialen Jahr kann durchaus funktionieren. Wenn Vorbereitung und Rahmenbedingungen stimmen.

Unser Kind wurde in den ersten drei Grundschuljahren sehr erfolgreich durch engagierte junge Menschen im freiwilligen sozialen Jahr unterstützt.

Angestellt waren sie bei einem erfahrenen Träger, der genau darauf achtete, wer am besten zu welchem Kind passte. Anschließend bereitete der Träger die jungen Menschen zwei Wochen lang auf ihre Tätigkeit als Schulbegleiter vor. Während ihres Einsatzes als Schulbegleiter gab es regelmäßige Schulungswochen.

Außerdem hat die Klassenlehrerin unseres Kindes sehr eng mit der Schulbegleitung zusammen gearbeitet. Auch wir als Eltern waren mit an Bord und standen in regelmäßigem Austausch mit Klassenlehrerin und Schulbegleitung.

Und: Obwohl die Finanzierung noch nicht gesichert war, trat die Schulbegleitung mit der Einschulungsfeier ihren Dienst an. Möglich gemacht hat es der Träger, der von Anfang an von der Sinnhaftigkeit der Schulbegleitung überzeugt war. Sechs Wochen lang schoss er das Geld für die Schulbegleitung vor. Erst dann erhielten wir die Bewilligung durch die Schulbehörde.

So wurde der Schulstart für unser Kind zum Erfolg – und die Schulbegleitung zu einer Selbstverständlichkeit für alle in der Klasse.

Wer in Hamburg schon einmal mit Schulbegleitung zu tun hatte, der weiß: Dies alles ist bis heute bei Schulbegleitung nicht selbstverständlich.

Auf dem Bild sieht man Unterschenkel und Füße von zwei Menschen, die auf hochgestapelten Stühlen sitzen. Die eine Person trägt eine schwarze, die andere eine blaue Jeans. Beide haben rote Turnschuhe an.

Für eine erfolgreiche Evaluation von Schulbegleitung müssen alle an Schulbegleitung Beteiligten gleichberechtigt gehört werden. Dies schließt sowohl die begleiteten Schülerinnen und Schüler wie auch deren Eltern und Sorgeberechtigten mit ein.

Das Ergebnis einer solchen Evaluation liefert die Grundlage, auf der eine Neuaufstellung von Schulbegleitung konstruktiv diskutiert werden kann.

Auch für diese Diskussion gilt: Es müssen alle an Schulbegleitung Beteiligten gleichberechtigt mit einbezogen werden. So funktioniert Teilhabe.

Das Thema Schulbegleitung – ein Dauerbrenner

Klaus Wicher, erster Landesvorsitzende des Sozialverbands Deutschland (SoVD) in Hamburg, warnte vor kurzem: Die Inklusion in Hamburgs Schulen laufe nicht störungsfrei. 

„Vor allem fehlt es an ausreichend qualifizierten Schulbegleiter*innen. Das hat zur Folge, dass Kinder nicht richtig am Unterricht teilhaben können und benachteiligt werden. Ich empfehle der Stadt dringend neue Strukturen für die Betreuung und verweise auf Pool-Modelle, die in anderen Städten schon erfolgreich laufen.“ (Aktuelle Meldungen des SoVD, Landesverband Hamburg)

Das kann ich nur unterstützen!

Allein in meinem näheren Bekanntenkreis kenne ich aktuell drei Familien, deren Kinder häufig bis regelmäßig einen verkürzten Schultag haben, weil es an Schulbegleitung fehlt.

Schulbegleitung: Allgemeine gesetzliche Grundlagen

Artikel 24 der UN-Behindertenrechtskonvention sieht vor, dass alle Kinder einen Anspruch auf bestmögliche Bildung haben. Um dies sicherzustellen, verpflichten sich die Vertragsstaaten, ausreichende Vorkehrungen für Schülerinnen und Schüler mit Behinderung zur Verfügung zu stellen. Eine solche Vorkehrung ist die Schulbegleitung.

In Deutschland fußte der Anspruch auf Schulbegleitung bis 2018 auf zwei verschiedenen gesetzlichen Grundlagen:

Kinder und Jugendliche mit körperlicher oder geistiger Behinderung hatten die Möglichkeit, eine Schulbegleitung nach § 54 SGB XII zu beantragen. Zuständig für diese Leistung war die Eingliederungshilfe.

Für Kinder und Jugendliche mit drohender oder vorhandener seelischer Behinderung regelte die Kinder- und Jugendhilfe den Bedarf. Grundlage hierfür war § 35a SGB VIII .

Seit dem 1. Januar 2017 tritt in Deutschland das neue Bundesteilhabegesetz stufenweise in Kraft.

Ab dem 1. Januar 2018 wurde die Eingliederungshilfe für Kinder und Jugendliche mit Behinderungen den für alle Rehabilitationsträger geltenden allgemeinen Regeln des Teils 1 und 2 des SGB IX unterworfen und zwar unabhängig davon, ob sie aus dem SGB XII oder dem SGB VIII zu leisten ist.

Zum 1. Januar 2020 wurde die Eingliederungshilfe aus dem SGB XII herausgelöst. Sie wird nun im zweiten Teil des SGB IX als „Besondere Leistungen zur selbstbestimmten Lebensführung für Menschen mit Behinderung“ geregelt. Gleichzeitig wurde § 35a SGB VIII an die Eingliederungshilfe des SGB IX (Teil 2) angepasst.

Schulbegleitung: der Hamburger Weg

Hamburg beschritt mit Einführung der Inklusion seinen eigenen Weg in Sachen Schulbegleitung.

Um Familien mit behinderten Kindern möglichst zu entlasten, beschloss der Hamburger Senat 2014/2015, die Zuständigkeit für Schulbegleitung an die Behörde für Schule und Berufsbildung zu übertragen. Die Auswahl des Lernortes, die Zusammensetzung der Klassen und die Ausstattung der Schulen sollten von nun an so gestaltet werden, dass die Gewährung individueller Eingliederungsleistungen überflüssig würde.

Das hört sich nach einer guten Entscheidung für Schülerinnen und Schüler mit Behinderung an!

Allerdings: Bei der Beantragung und Organisation von Schulbegleitung hielt die Behörde für Schule und Berufsbildung an der Unterscheidung zwischen (drohenden) seelischen Beeinträchtigungen auf der einen und körperlichen oder geistigen Behinderungen auf der andern Seite fest.

So blieb es weiterhin kompliziert.

Benötigen Schülerinnen und Schüler mit komplexen psychosozialen Beeinträchtigungen eine Schulbegleitung, sind seit April 2014 die Regionalen Bildungs- und Beratungszentren (ReBBZ) zuständig.

Einen Antrag auf Schulbegleitung über das ReBBZ kann nur die Schule stellen, nicht die Sorgeberechtigten eines Kindes. Damit ist Sorgeberechtigten das Recht auf Widerspruch verwehrt, wenn das ReBBZ den Antrag auf Schulbegleitung ablehnt. Sieht die Schule keinen Bedarf an Schulbegleitung oder zögert eine Antragstellung aus unterschiedlichen Gründen heraus, sind Sorgeberechtigte so gut wie machtlos.

Die ReBBZ sehen Schulbegleitung vorrangig als pädagogische Maßnahme. Ziel ist es, ein Kind in seiner Entwicklung so zu fördern, dass es perspektivisch keine Schulbegleitung mehr benötigt. Schulbegleitungen über ein ReBBZ sind daher nie auf Dauer, sondern immer nur befristet. Meist muss eine Schulbegleitung jedes Schulhalbjahr neu beantragt werden.

Eltern von Kindern und Jugendlichen mit komplexen psychosozialen Beeinträchtigungen hören von den ReBBZ regelmäßig, dass Schulbegleitungen nie länger als für ein bis maximal zwei Jahre bewilligt werden, in der Regel nie über 20 Stunden/Woche hinausgehen und spätestens ab der achten Klasse generell nicht mehr möglich seien.

Zwar ist dies nirgendwo festgeschrieben, soll aber vermutlich dazu dienen, die Kosten für Schulbegleitung nicht noch weiter ansteigen zu lassen.

Denn: Während Hamburg 2011 nur ca. 3 Millionen Euro Euro für Schulbegleitung ausgab, waren es 2020 mehr als 15 Millionen Euro.

Verantwortlich für die Suche und Einstellung einer Schulbegleitung ist das ReBBZ. Eltern sind an der Auswahl der Schulbegleitung für ihr Kind nicht beteiligt.

Weiterführende Informationen finden Sie hier:

Dienstanweisung zum Einsatz von Schulbegleitungen für Schülerinnen und Schüler mit erheblichem Betreuungs- und Unterstützungsbedarf aufgrund einer komplexen psychosozialen Beeinträchtigung (1. April 2014)

Brauchen Schülerinnen und Schüler mit erheblichem oder umfassenden Unterstützungsbedarf im Bereich der geistigen oder körperlich-motorischen Entwicklung eine Schulbegleitung, regelt dies seit September 2021 die stellvertretende Abteilungsleitung der neu geschaffenen Abteilung B 4 – Inklusive Bildung innerhalb der Schulbehörde. Zwischen Mai 2015 und August 2021 lag das Verfahren in den Händen der Schulaufsicht spezielle Sonderschulen.

Auch bei Schülerinnen und Schülern mit erheblichem oder umfassenden Unterstützungsbedarf im Bereich der geistigen oder körperlich-motorischen Entwicklung ist eine Bedarfsklärung durch die Schule vorgesehen. Allerdings haben Sorgeberechtigte hier die Möglichkeit, einen eigenen Antrag auf Schulbegleitung zu stellen. Die Entscheidung über diesen Antrag wird Sorgeberechtigten über einen rechtsmittelfähigen Bescheid mitgeteilt. Somit haben sie die Möglichkeit, gegen die Entscheidung Widerspruch einzulegen.

Schulbegleitungen für Schülerinnen und Schüler mit erheblichem oder umfassenden Unterstützungsbedarf im Bereich der geistigen oder körperlich-motorischen Entwicklung werden als notwendige Unterstützungsmaßnahmen angesehen, um das Recht behinderter Kinder und Jugendlicher auf Teilhabe an Bildung sicher zu stellen.

Es wird davon ausgegangen, dass der Bedarf dieser Kinder und Jugendlichen weitgehend konstant bleibt. Eine generelle zeitliche Befristung der Schulbegleitung ist daher nicht vorgesehen. Trotzdem muss die Schulbegleitung jährlich neu beantragt werden.

Bei Schülerinnen und Schülern mit erheblichem oder umfassenden Unterstützungsbedarf im Bereich der geistigen oder körperlich-motorischen Entwicklung, denen eine persönliche Schulbegleitung zugesprochen wurde, liegt es in den Händen der Sorgeberechtigten, eine geeignete Schulbegleitung zu finden und einzustellen. Dabei sollen Sorgeberechtigte von der Schule unterstützt werden.

Weitere Informationen finden Sie hier:

Dienstanweisung zum Einsatz von Schulbegleitungen für Schülerinnen und Schüler mit erheblichem Betreuungs- und Unterstützungsbedarf aufgrund einer Behinderung (Mai 2015)

Topp oder Flopp? Warum eine Reform der Schulbegleitung in Hamburg dringend nötig ist

Die bisherige Organisation von Schulbegleitung durch die Behörde für Schule und Berufsbildung hat gleich mehrere Schwachstellen:

  • Die unterschiedlichen Zuständigkeiten innerhalb der Behörde und die Unterschiede bei der Beantragung und Organisation von Schulbegleitung machen das gesamte Verfahren für Lehrer, Eltern und Schüler sehr unübersichtlich und schwer verständlich.
  • Die regelhaften Befristungen und Unsicherheiten bei der Weiterbewilligung von Schulbegleitung verhindern Kontinuität und Verlässlichkeit. Oftmals sind Schulbegleiterstellen bei Beginn eines Schuljahrs noch nicht besetzt.
  • Verschärfend kommt hinzu, dass es keine Vertretungen bei Schulbegleitung gibt. Fällt ein Schulbegleiter aus, geht das unterstützte Kind häufig nicht in die Schule.
  • Befristete Arbeitsverträge, keine Beschäftigung während der Ferien und eine meist dürftige Bezahlung haben zur Folge, dass es kaum qualifizierte Schulbegleiter gibt. Nicht selten sind es junge Menschen im Freiwilligen Sozialen Jahr, die Schulbegleitungen übernehmen.
  • Mit dem Bundesteilhabegesetz wurde ein neues Verständnis von Behinderung eingeführt:

„Menschen mit Behinderungen sind Menschen, die körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen haben, die sie in Wechselwirkung mit einstellungs- und umweltbedingten Barrieren an der gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate hindern können“ (§ 2 Abs. 1 SGB IX).

Damit wird Behinderung nicht mehr ausschließlich als Eigenschaft und Defizit einer Person gesehen. Stattdessen werden – in Übereinstimmung mit der UN-Behindertenrechtskonvention – gesundheitliche Beeinträchtigungen im Zusammenspiel mit Kontextfaktoren sowie mit den Interessen und Wünschen der betroffenen Menschen betrachtet.

Bei der Vorgehensweise in Hamburg begründen ausschließlich erhebliche, umfassende oder komplexe Defizite von Kindern und Jugendlichen die Notwendigkeit einer Schulbegleitung.

  • Erschwerend kommt hinzu: Komplexe psychosoziale Beeinträchtigungen werden von der Behörde für Schule und Berufsbildung nicht als Behinderung gesehen. Daraus ergibt sich eine Ungleichbehandlung von Schülerinnen und Schülern mit seelischen Beeinträchtigungen, die nicht im Einklang steht mit den Vorgaben der UN-Behindertenrechtskonvention und des Bundesteilhabegesetzes.
  • Es gibt Behinderungen, die sich nur schwer oder gar nicht in das Verfahren der Behörde für Schule und Berufsbildung einordnen lassen. Dazu zählen besonders die sogenannten unsichtbaren Behinderungen wie Autismus und FASD.

Verhaltensauffälligkeiten von Kindern und Jugendlichen mit FASD zum Beispiel werden von der Schulbehörde gerne als komplexe psychosoziale Beeinträchtigungen eingestuft. Allerdings sind diese Verhaltensauffälligkeiten Folge einer Gehirnschädigung, daher langfristig und nicht durch Pädagogik heilbar.

Eltern von Kindern und Jugendlichen mit FASD gehen in Hamburg inzwischen dazu über, bei der Eingliederungshilfe ein persönliches Budget zu beantragen, um darüber eine verlässliche und ausreichende schulische Assistenz zu finanzieren. Mit Erfolg.

Mein Wunsch für eine „Inklusionsmetropole“ Hamburg:

Eine Neuorganisation von Schulbegleitung, die

Sorgeberechtigte entlastet,

verständlich, einheitlich und transparent ist,

sich am individuellen Bedarf orientiert,

Verlässlichkeit und Kontinuität schafft,

fachliche Standards setzt und prüft

und so Teilhabe an Bildung für alle möglich macht!

Die Beantragung von Hilfen – ein Dauerlauf mit Hindernissen

BTHG, EUTB, GdB, Heilpädagogischer Förderbedarf, Sonderpädagogischer Förderbedarf, Spezieller Förderbedarf, LSE, GE, KmE, SGB, KJSG, § 35a, ReBBZ, WAZ, systemische Ressource, persönliche Ressource, Förderkoordinator, Förderplan, UNBRK, SPZ, JPPD, JPD, Pflegestufe, Verhinderungspflege, AUL, Persönliches Budget, Eingliederungshilfe . . .

Steigen Sie noch durch?

Solchen Abkürzungen und Begriffen begegnen Eltern, die sich um Unterstützung bemühen für ihr Kind mit Behinderung. Das beginnt mit der Frühförderung. Geht weiter in Krippe, Kita und Schule. Und ist mit der Berufsvorbereitung und Ausbildung noch längst nicht zu Ende.

Als Eltern eines Kindes mit Behinderung lernt man schnell: Nichts geht einfach. Nichts geht schnell. Nichts ist auf Dauer. Nichts ist selbstverständlich. Nichts geht ohne Druck und Nachhaken.

Nein, damit meine ich nicht die Entwicklung unseres Kindes.

Damit meine ich die Bewilligung von Hilfen, die unser Kind benötigt, um sich gut zu entwickeln. Um wie alle Kinder in die Kita zu gehen oder in die Schule.

Oft komme ich mir vor wie eine Hürdenläuferin.

Die erste Hürde: Ich muss vorab bereits wissen, was es an Hilfen gibt.

Die zweite Hürde: Ich muss wissen, wer für die Bewilligung einer Hilfe zuständig ist.

Die dritte Hürde: Ich muss überzeugend nachweisen, was mein Kind an Hilfen benötigt und dass es einen Anspruch darauf hat.

Die vierte Hürde: Ich muss viel Geduld haben. Und ich muss aufpassen, dass das Bewilligungsverfahren nirgendwo stecken bleibt.

Die fünfte Hürde: Ich muss wissen, was bei der Bewilligung oder auch Ablehnung einer Hilfe zu tun ist.

Diesen Hürdenlauf absolviere ich nicht nur einmal sondern regelmäßig.

Denn: Kinder entwickeln sich. Daher sind bewilligte Hilfen in der Regel auf ein Jahr befristet. Die Tatsache, dass mein Kind eine lebenslange Behinderung hat und dauerhaft auf Hilfe angewiesen sein wird, interessiert da nicht.

Erschwerend kommt hinzu: Mit jedem Entwicklungsschritt meines Kindes (von der Frühförderung in die Kita, von der Kita in die Grundschule usw.) wechseln die für die Bewilligung von Hilfen zuständigen Menschen und Behördenstellen. Müssen Bedarfe neu beantragt, ermittelt, begründet und geprüft werden. Beginnen wir als Eltern quasi wieder am Punkt Null.

Ein Beispiel:

Unser Kind war drei Jahre lang in der Kita. Jedes Jahr wuchsen die Anforderungen an unser Kind. Und damit auch sein Bedarf an Unterstützung.

Im letzten Kita-Jahr hatte unser Kind die Zuschlagstufe III. Damit ließ sich die inzwischen nötige 1:1 Betreuung halbwegs abdecken.

Dann stand der Wechsel in die Grundschule an. Als Eltern war uns klar: Unser Kind wird die inklusive Grundschule nur meistern, wenn es eine verlässliche Begleitung an seiner Seite hat.

Also haben wir Druck gemacht. Wir haben Schule und Kita ein Jahr vor der Einschulung zu einem gemeinsamen Gespräch zusammen gebracht. Wir haben noch während der Kita-Zeit einen Antrag auf Schulbegleitung gestellt. Wir haben selbst eine Schulbegleitung gesucht. So konnte unser Kind gut begleitet in die Grundschulzeit starten.

Wenn wir nichts gemacht hätten? Dann wäre unser Kind sehr wahrscheinlich ohne Unterstützung in die Schule gegangen. Spätestens am Ende der ersten Woche hätten wir einen Anruf erhalten, dass wir unser Kind bitte abholen sollten. Weil es ausgerastet wäre. Mit Büchern geworfen hätte. Oder noch schlimmeres.

Vielleicht wäre dann bereits die Beantragung von Hilfe in Gang gekommen. Vielleicht hätte das aber auch noch eine Weile gedauert.

Auf jeden Fall hätte unser Kind bereits in der ersten Klasse seinen Stempel weg gehabt: als schlecht erzogen, unberechenbar, gewalttätig, schlimmstenfalls sogar als unbeschulbar.