Viele junge Menschen in Hamburg sind mit einer dualen Berufsausbildung gestartet.
Nur unser Kind wieder nicht.
Obwohl es seit einem Jahr eine feste Zusage auf einen betrieblichen Ausbildungsplatz hat. In einer Firma für Veranstaltungstechnik.
Woran das liegt?
Unser Kind hat eine fetale Alkoholspektrumstörung (FASD) und damit eine lebenslange Behinderung.
Aufgrund seiner Behinderung wird unser Kind keine Vollausbildung zur Fachkraft für Veranstaltungstechnik schaffen.
Es benötigt eine theoriereduzierte Fachpraktiker-Ausbildung nach § 66 des Berufsbildungsgesetzes (BBiG). Darauf hat es einen Anspruch.
Zuständig für Ausbildungen im Bereich Veranstaltungstechnik ist die Handelskammer Hamburg. Dort haben wir vor 7 Monaten einen Antrag auf eine theoriereduzierte Ausbildung zum Fachpraktiker für Veranstaltungstechnik gestellt.
Über diesen Antrag hat die Handelskammer bis heute nicht entschieden.
Inzwischen glaube ich: Die Handelskammer will gar nicht über unseren Antrag entscheiden.
Denn: Unser Antrag scheint die Zuständigen in der Handelskammer vor ein Problem gestellt zu haben.
Einerseits ist es nur schwer möglich, unseren Antrag abzulehnen. Da unser Kind alle Voraussetzungen für eine theoriereduzierte Fachpraktiker-Ausbildung erfüllt.
Gleichzeitig scheint es in der Handelskammer einflussreiche Stimmen zu geben, die sagen:
„Die Handelskammer Hamburg hat sich vor mehr als 40 Jahren bewusst gegen eine Behinderten-Ausbildung entschieden, ist damit immer gut gefahren und wird daran auch in Zukunft sicherlich nichts ändern.“
Tatsache ist: An der Handelskammer Hamburg hat es noch nie eine theoriereduzierte Fachpraktiker-Ausbildung nach § 66 BBiG gegeben.
Ganz im Gegensatz zu vielen anderen Industrie- und Handelskammern.
Dabei erscheint mir das Verfahren bei einer Fachpraktiker-Ausbildung relativ einfach.
Als erstes muss ein Ausbildungsrahmenplan geschrieben werden. Dafür gibt es klare Vorgaben.
Ist der Ausbildungsrahmenplan fertig, muss er dem Berufsbildungsausschuss der Handelskammer zur Genehmigung vorgelegt werden.
Stimmt der Berufsbildungsausschuss dem Ausbildungsrahmenplan zu, dann gilt er offiziell als erlassen – und unser Kind mit Behinderung könnte mit seiner Ausbildung beginnen.
Soweit die Theorie.
In der Praxis bekamen wir von der Handelskammer in den letzten Monaten immer wieder zu hören:
Das mit der Fachpraktiker-Ausbildung ist unheimlich kompliziert.
Bis zum Erlass des notwendigen Ausbildungsrahmenplans dauert es Jahre.
Das ganze Verfahren ist teuer.
Auf dem Arbeitsmarkt gibt es keinen Bedarf an Fachpraktikern für Veranstaltungstechnik.
Die theoriereduzierte Fachpraktiker-Ausbildung ist nicht anerkannt.
Eine Fachpraktiker-Ausbildung stigmatisiert.
Die Berufsschule für Veranstaltungstechnik hat keinerlei Erfahrung mit einer theoriereduzierten Ausbildung.
Der Unterricht an der Berufsschule wird unser Kind überfordern.
Inzwischen ist die Handelskammer dazu übergegangen, uns „attraktive Alternativen“ zur Fachpraktiker-Ausbildung vorzustellen.
Um uns dazu zu bewegen, unseren Antrag auf eine Fachpraktiker-Ausbildung wieder zurückzuziehen.
Ich gebe zu: Einiges davon klingt interessant.
Unser Kind könnte bereits jetzt Geld verdienen. Und müsste sich nicht durch die Berufsschule quälen. Gleichzeitig hätte es in drei Jahren ein Zertifikat der Handelskammer in Aussicht.
Allerdings: Das ganze wäre keine Ausbildung. Unser Kind bliebe offiziell ungelernt.
Von früh an wollte unser Kind mit Behinderung vor allem eins: Es wollte alles so machen wie andere auch.
Unser Kind hat eine inklusive Kita besucht.
Unser Kind hat sich zehn Jahre lang durch die inklusive Schule gekämpft.
Unser Kind hat sich intensiv um einen Ausbildungsplatz bemüht. Weil es gelernt hat: Menschen ohne abgeschlossene Ausbildung haben kaum Chancen auf dem 1. Arbeitsmarkt.
Unserem Kind ist es gelungen, einen Ausbildungsbetrieb von seinen Fähigkeiten und Kenntnissen zu überzeugen.
Ich bin stolz auf unser Kind!
Und werde weiter dafür kämpfen, dass sein eigentlich ganz stinknormaler Wunsch nach einer Ausbildung in Erfüllung geht.
Teilhabe an Bildung ist ein Menschenrecht und schließt berufliche Bildung ausdrücklich mit ein.
Eltern behinderter Kinder in Hamburg wünschen sich seit langem deutlich mehr Verlässlichkeit im Schulalltag.
Immer wieder werden Kinder mit Behinderung vorzeitig aus dem laufenden Unterricht nach Hause geschickt.
Nicht selten gehen Kinder mit Behinderung erst gar nicht zur Schule.
Weil eine Schulbegleitung fehlt.
Mit Beginn des Schuljahres 2022/23 scheint sich das Problem nochmals verschärft zu haben.
Egal, ob Regelschule oder Sonderschule – überall hieß es von Eltern:
Noch nie fehlten bereits zu Beginn eines Schuljahres so viele Schulbegleitungen!
Allerdings: Niemand weiß genau, wie viele Unterrichtsstunden Kinder mit Behinderung versäumen. Weil die Schulbegleitung fehlt.
Da sich jede Schule selbst verwaltet, sei die Erfassung von Zahlen schwierig. Sagt die Schulbehörde.
Erste konkrete Zahlen liefert nun eine Elternumfrage von Autismus Hamburg e.V.
Der Verein Autismus Hamburg e.V. ist eine Hamburger Selbsthilfe-Organisation. Gegründet 2009 durch Eltern von Kindern mit Autismus.
Viele Kinder mit Autismus brauchen in der Schule zusätzliche Unterstützung. Damit sie gut durch den Schultag kommen.
Im Herbst 2022 hat Autismus Hamburg e.V. daher 54 Eltern des Vereins zur aktuellen Situation der Schulbegleitung befragt.
Fast alle befragten Eltern hatten für ihr Kind eine Schulbegleitung beantragt. Entweder über ein Regionales Bildungs- und Beratungszentrum (ReBBZ) oder die Schulbehörde.
In vier von fünf Fällen wurde die Schulbegleitung bewilligt.
Von den bewilligten Schulbegleitungen fehlte zum Schulstart deutlich mehr als die Hälfte.
Meist war niemand für die Schulbegleitung gefunden worden.
In einigen Fällen erfolgte die Genehmigung nicht rechtzeitig.
Außerdem ergab die Umfrage:
Bei mehr als der Hälfte aller Kinder wurden zwischen 5 bis 18 Stunden Schulbegleitung pro Woche bewilligt. Das macht 1 bis 3 begleitete Unterrichtsstunden pro Tag.
Gut jedes vierte Kind erhielt zwischen 20 und 28 Stunden Schulbegleitung pro Woche.
Nur wenige Kinder hatten eine ganztägige Schulbegleitung.
Bei mehr als der Hälfte der Kinder reichten die bewilligten Stunden nicht, um gut durch den Schultag zu kommen.
Die Eltern gaben an, ihre Kinder seien deshalb verstärkt gestresst.
Oft müssten die Kinder bereits mittags aus der Schule abgeholt werden.
An einigen Tagen blieben die Kinder ganz zu Hause.
Dies wirkte sich deutlich auf den Alltag der Eltern aus.
Viele Eltern machten sich Sorgen: Wird ihr Kind in der Schule gut beschult und betreut?
Mehrere Eltern fühlten sich überfordert: Wie sollen sie den versäumten Unterricht mit ihrem Kind nachholen? Wie lässt sich ihr Kind emotional immer wieder auffangen?
Einige Eltern erklärten klar und deutlich: Sie können nicht im gewünschten Umfang arbeiten gehen.
Einige Eltern gaben an: Sie können überhaupt nicht arbeiten gehen.
Nun mag der ein oder andere sagen:
Die durchgeführte Elternumfrage von Autismus Hamburg e.V. ist nicht repräsentativ.
Zu wenige Eltern wurden befragt.
Andere Behinderungsformen wurden nicht berücksichtigt.
Es handelt sich um Einzelfälle, die individuell betrachtet werden müssen.
Dennoch bleiben die Ergebnisse der Umfrage alarmierend.
Sie untermauern das, was Eltern seit langem sagen:
Viele Kinder mit Behinderung nehmen in Hamburg nur eingeschränkt an Bildung teil.
Dabei sagt das Bundesteilhabe-Gesetz:
Kinder mit Behinderung haben Anspruch auf unterstützende Leistungen, damit sie Bildungsangebote gleichberechtigt wahrnehmen können.
Es ist dringend nötig, den durch fehlende Schulbegleitung verursachten Unterrichtsausfall für Kinder mit Behinderung genauer zu bestimmen.
Um daraus konkrete Verbesserungs-Maßnahmen abzuleiten.
Gerade lässt die Stadt Hamburg ihr bisheriges Verfahren in Sachen Schulbegleitung wissenschaftlich evaluieren.
Ein erster Zwischenbericht wird für März 2023 erwartet.
Der vollständige Abschlussbericht soll Ende 2023 folgen.
Ich bin sehr gespannt auf die Ergebnisse dieser Untersuchung.
Was ich bereits jetzt weiß:
Für das Schuljahr 2023/24 plant Autismus Hamburg e.V. eine erneute Elternumfrage zum Thema Schulbegleitung.
„Ich brauche eine Berufsausbildung. Damit ich auf dem 1. Arbeitsmarkt arbeiten kann.“
Eine Arbeit auf dem ersten Arbeitsmarkt ist unserem Kind sehr wichtig.
Damit es ausreichend Geld verdient.
Um sich selbst zu finanzieren. Um unabhängig zu sein.
Und um in eine eigene Wohnung ziehen zu können.
Tatsächlich ist es in Deutschland für Menschen ohne abgeschlossene Ausbildung kaum möglich, auf Dauer erfolgreich am ersten Arbeitsmarkt teilzuhaben.
Allerdings ist es unserem Kind aufgrund seiner Behinderung nicht möglich, alle inhaltlichen Anforderungen an eine Ausbildung in einem staatlich anerkannten Beruf zu erfüllen.
In so einem Fall bietet das Berufsbildungsgesetz in Paragraf 66 (entsprechend dazu Handwerksordnung, Paragraf 42m) die Möglichkeit einer theoriereduzierten Fachpraktiker-Ausbildung.
Fachpraktiker-Ausbildungen sind gerade sehr umstritten.
Das Deutsche Institut für Menschenrechte hat 2020 in seinem 5. Bericht zur Entwicklung der Menschenrechts-Situation in Deutschland geschrieben:
Fachpraktiker-Ausbildungen sind exklusiv und stigmatisierend.
Durch Fachpraktiker-Ausbildungen werden junge Menschen mit Behinderung anders behandelt als junge Menschen ohne Behinderung. Ihre Leistungen werden als nicht ausreichend betrachtet. Ihre Ausbildung findet getrennt von der ihrer Altersgenossen statt.
Fachpraktiker-Ausbildungen schaffen neue Sonderwelten und verhindern, dass junge Menschen mit Behinderung einen Zugang zum allgemeinen Arbeitsmarkt erhalten.
Tatsächlich finden Fachpraktiker-Ausbildungen bisher fast immer überbetrieblich statt. In speziellen Einrichtungen für junge Menschen mit Behinderung.
Außerdem werden Fachpraktiker bisher nur in wenigen Berufen ausgebildet.
In Hamburg bietet das Berufsbildungswerk in Eidelstedt folgende Fachpraktiker-Ausbildungen an:
Fachpraktiker für Metallbau,
Fachpraktiker für Holzbearbeitung,
Fachpraktiker im Gartenbau,
Fachpraktiker Maler und Lackierer,
Fachpraktiker Hauswirtschaft.
Die Auszubildenden werden überwiegend in Werkstätten des Berufsbildungswerks angeleitet.
Der Berufsschulunterricht findet direkt auf dem Gelände des Berufsbildungswerks statt. Und zwar in der beruflichen Schule Eidelstedt (BS 24), einer Berufsschule für junge Menschen mit besonderem Unterstützungsbedarf.
In dieser Form sind Fachpraktiker-Ausbildungen alles andere als inklusiv.
Gleichzeitig gibt es bislang keine Alternativen zur Fachpraktiker-Ausbildung.
Die Fachpraktiker-Ausbildung ist zur Zeit die einzige anerkannte Ausbildungsform für junge Menschen, die wegen einer Behinderung keine Regel-Ausbildung in einem anerkannten Ausbildungsberuf schaffen.
Daher habe ich mir die gesetzlichen Vorgaben für eine Fachpraktiker-Ausbildung einmal etwas näher angeschaut.
Das wichtigste vorweg:
Das Berufsbildungsgesetz schreibt vor, dass junge Menschen vorrangig in einem staatlich anerkannten Ausbildungsberuf ausgebildet werden sollen. Unabhängig davon, ob sie behindert sind oder nicht.
Behinderungsbedingte Nachteile sollen durch angemessene Nachteilsausgleiche ausgeglichen werden.
Nur wenn aufgrund der Art und Schwere einer Behinderung nicht alle inhaltlichen Anforderungen einer Regel-Ausbildung erfüllt werden können, dürfen junge Menschen zum Fachpraktiker ausgebildet werden.
Der Fachpraktiker ist also keine Regel-Ausbildung. Sondern eine Sonderform der Ausbildung.
Gedacht ist die Fachpraktiker-Ausbildung vor allem für Menschen mit kognitiven Einschränkungen.
Angepasst an deren individuellen Fähigkeiten sollen die theoretischen Inhalte einer Regel-Ausbildung reduziert und praktische Tätigkeiten stärker gewichtet werden.
Die Inhalte der Fachpraktiker-Ausbildung sollen aus den Inhalten anerkannter Ausbildungsberufe abgeleitet werden.
So orientiert sich zum Beispiel die Ausbildung zum Fachpraktiker im Garten- und Landschaftsbau an der Ausbildungsverordnung zum Garten- und Landschaftsbauer.
Auch sind Lage und Entwicklung des allgemeinen Arbeitsmarktes bei der Einführung einer neuen Fachpraktiker-Ausbildung zu berücksichtigen.
Theoretisch ist eine Fachpraktiker-Ausbildung in jedem anerkannten Ausbildungsberuf möglich.
Ziel der Fachpraktiker-Ausbildung ist der Erwerb beruflicher Handlungsfähigkeit.
Das heißt: Dem Auszubildenden sollen berufliche Fertigkeiten, Kenntnisse und Fähigkeiten vermittelt werden, die er für die Ausübung einer qualifizierten beruflichen Tätigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt braucht.
So soll zum Beispiel der Fachpraktiker im Garten- und Landschaftsbau so ausgebildet werden, dass er später unter fachlicher Anleitung eigenständig in Gärten, Parks, auf Baustellen oder auf Friedhöfen arbeiten kann.
Der Zugang zu einer Fachpraktiker-Ausbildung ist genau geregelt.
Nötig sind:
eine Bescheinigung der Agentur für Arbeit, dass Art und Schwere der Behinderung eine theoriereduzierte Ausbildung gemäß § 66 Berufsbildungsgesetz (beziehungsweise Paragraf 42m der Handwerksordnung) erforderlich machen. Festgestellt durch eine ausführliche berufspsychologische Untersuchung.
ein Ausbildungsplatz.
Liegt beides vor, muss bei der zuständigen Kammer ein Antrag auf eine Fachpraktiker-Ausbildung gestellt werden.
In der Regel ist das die Handwerkskammer, die Industrie- und Handelskammer oder die Landwirtschaftskammer.
Sind die Voraussetzungen für eine Fachpraktiker-Ausbildung gegeben, ist die Kammer verpflichtet, besondere Ausbildungsregelungen für den behinderten Antragsteller zu erlassen.
Orientiert an speziellen Empfehlungen des Hauptausschusses des Bundesinstituts für Berufsbildung (BIBB). Um auch Fachpraktiker-Ausbildungen einheitlicher und vergleichbarer zu machen.
Abschließend trägt die Kammer den Ausbildungsvertrag des behinderten Antragstellers in das Verzeichnis der Berufsausbildungsverhältnisse ein.
Die Fachpraktiker-Ausbildung dauert meist drei Jahre.
Gegenstand der Ausbildung sind die von der Kammer im Ausbildungsrahmenplan festgelegten Fertigkeiten, Kenntnisse und Fähigkeiten.
Je nach Behinderung oder Ausbildungsort sind Abweichungen davon möglich.
Am Ende seiner Ausbildung hat der Auszubildende eine Abschlussprüfung abzulegen. Vor der zuständigen Kammer.
Fachpraktiker sollen vorrangig in Betrieben ausgebildet werden.
So wie junge Menschen in Regel-Ausbildungen auch.
Hier ist das Berufsbildungsgesetz sehr klar.
Allerdings: Betriebliche Fachpraktiker-Ausbildung gibt es bisher nur äußerst selten.
Dabei lassen sich Auszubildende zum Fachpraktiker inzwischen gut über Arbeitsassistenzen unterstützen. Sowohl vor Ort im Betrieb wie auch in der Berufsschule.
Betriebliche Fachpraktiker-Ausbildungen bieten jungen Menschen mit kognitiven Einschränkungen die Möglichkeit, trotz ihrer Behinderung von Anfang an am ersten Arbeitsmarkt teilzuhaben.
Und sie vergrößern deren Chance, auf Dauer auf dem ersten Arbeitsmarkt Fuß zu fassen.
Es zeigt sich:
Eine ausführliche Auseinandersetzung mit der Fachpraktiker-Ausbildung lohnt!
Daher sollte die Fachpraktiker-Ausbildung nicht vorschnell als exklusiv abgestempelt werden.
Ohne Zweifel: Überbetriebliche Fachpraktiker-Ausbildungen in speziellen Einrichtungen für junge Menschen mit Behinderung sind exklusiv und verhindern einen direkten Zugang zum allgemeinen Arbeitsmarkt.
Allerdings hat die Fachpraktiker-Ausbildung durchaus inklusives Potential:
Sie ermöglicht einem jungen Menschen mit Behinderung eine anerkannte berufliche Qualifizierung, wenn wegen Art und Schwere seiner Behinderung eine Regel-Ausbildung mit Nachteilsausgleich nicht in Frage kommt.
Sie ermöglicht eine individualisierte Form der Ausbildung, angepasst an die Fähigkeiten und Stärken des Auszubildenden.
Wichtig ist es, Fachpraktiker viel stärker als bisher direkt vor Ort auszubilden. Nämlich in Betrieben des ersten Arbeitsmarktes.
So können junge Menschen mit Behinderung bereits von Anfang an teilhaben am allgemeinen Arbeitsmarkt. So wie Menschen ohne Behinderung auch.
Dort, wo eine überbetriebliche Ausbildung erforderlich ist, sollten junge Menschen mit und ohne Behinderung gemeinsam ausgebildet werden. Und zwar sowohl in Regel-Berufen wie auch als Fachpraktiker.
Auch die Berufsschule sollten Auszubildende mit und ohne Behinderung gemeinsam besuchen. Ermöglicht durch einen differenzierenden Unterricht.
Schließlich müssen Fachpraktiker-Ausbildungen in allen anerkannten Ausbildungsberufen möglich werden. Denn auch ein junger Mensch mit Behinderung hat das Recht, seinen Beruf frei zu wählen.
Die Fachpraktiker-Ausbildung als individualisierte Form der Ausbildung innerhalb des Regelsystems, orientiert an den Potentialen und Fähigkeiten eines jungen Menschen mit Behinderung – in diese Richtung lohnt es sich weiterzudenken!
Wow. Zum ersten Mal hat sich einer meiner Blog Beiträge inhaltlich überholt.
Und ist gleichzeitig weiter aktuell geblieben.
Vor gut einem Jahr hatte ich über fehlende Chancengleichheit geschrieben.
Fehlende Chancengleichheit für junge Menschen mit und ohne Behinderung, die in einer Pflegefamilie oder einer Einrichtung der Jugendhilfe leben.
Denn:
Noch 2022 mussten junge Menschen in Pflegefamilien oder Einrichtungen der Jugendhilfe ein Viertel ihres selbst verdienten Geldes an das Jugendamt abgeben. Um sich an den Kosten für ihren Unterhalt zu beteiligen.
Noch härter traf es behinderte junge Menschen in geförderten Ausbildungsmaßnahmen, die anstelle eines Ausbildungsgehalts Ausbildungsgeld oder Berufsausbildungsbeihilfe erhielten.
Ausbildungsgeld und Berufsausbildungsbeihilfe gelten nicht als Einkommen. Sondern als eine unterhaltssichernde Maßnahme. Daher konnten Jugendämter Ausbildungsgeld und Berufsausbildungsbeihilfe so gut wie vollständig einziehen.
Bereits seit langem war angemahnt worden, dass diese Art der Kostenheranziehung dem Auftrag der Jugendhilfe widerspreche:
„Wachsen junge Menschen außerhalb ihrer Herkunftsfamilie auf, haben sie bereits mit zusätzlichen Herausforderungen umzugehen und dadurch einen schwierigeren Start in ein eigenständiges Leben. Dieser Start wird nochmal erschwert, wenn sie einen Teil ihres Einkommens, das sie zum Beispiel im Rahmen eines Schüler- oder Ferienjobs oder ihrer Ausbildung verdienen, abgeben müssen.“ (Deutscher Bundestag – Kostenheranziehung in der Kinder- und Jugendhilfe wird abgeschafft)
Seit dem 1.1.2023 ist die Kostenheranziehung nun endlich Geschichte!
Allerdings nicht für alle jungen Menschen, die in Pflegefamilien oder Einrichtungen der Jugendhilfe leben.
Junge Menschen, die aufgrund einer Behinderung Ausbildungsgeld oder Berufsausbildungsbeihilfe erhalten, müssen nach wie vor den Großteil davon ans Jugendamt abgeben. Zur Deckung ihrer Unterhaltskosten.
Aktuell 126 Euro im Monat dürfen diese jungen Menschen jetzt behalten.
Ob das ausreicht für einen erfolgreichen Start in ein möglichst eigenständiges Leben?
Vor kurzem hat das Deutsche Institut für Menschenrechte seinen Jahresbericht 2021/22 über die Menschenrechts-Situation in Deutschland veröffentlicht.
Im Mittelpunkt des Berichts steht diesmal die inklusive Bildung für Kinder und Jugendliche mit Behinderung. Mit sehr ernüchternden Ergebnissen:
Noch immer haben zu viele Kinder und Jugendliche mit Behinderung in Deutschland keinen diskriminierungsfreien Zugang zu einem inklusiven Schulsystem.
Viele Landesregierungen bekennen sich zwar vordergründig zu einer inklusiven Bildung. Trotzdem halten sie am Sonderschulsystem für Schüler mit Behinderung fest.
Immer noch werden mehr als die Hälfte aller Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf exklusiv an Förder- und Sonderschulen unterrichtet.
Die meisten dieser Schülerinnen und Schüler verlassen die Schule ohne Abschluss.
Als LeuchttürmefürinklusiveBildung gelten in Deutschland nur wenige Bundesländer, unter ihnen Hamburg.
Im Oktober 2009 beschloss die Hamburgische Bürgerschaft einstimmig eine Änderung des Hamburgischen Schulgesetzes. Seitdem haben Kinder und Jugendliche mit sonderpädagogischem Förderbedarf in Hamburg das Recht, allgemeine Schulen zu besuchen.
Im Juni 2012 verabschiedete die Hamburgische Bürgerschaft die Drucksache „Inklusive Bildung an Hamburgs Schulen„. Diese Drucksache enthält das Konzept, auf der die inklusive Umgestaltung des Hamburger Schulsystems fußt. Gleichzeitig war diese Drucksache der Startschuss für die praktische Umsetzung der Inklusion an Hamburgs Schulen.
Inzwischen sind 10 Jahre vergangen. Wie steht es um die inklusive Bildung für Kinder und Jugendliche mit Behinderung in Hamburg im Jahr 2022?
Ein Zeiger für den Stand von inklusiver Bildung ist die sogenannte Exklusionsquote.
Die Exklusionsquote zeigt, wie sich der Anteil der Schülerinnen und Schüler an Sonderschulen im Verhältnis zur Gesamtzahl aller Schüler entwickelt.
Zu Beginn des inklusiven Umbaus des Hamburger Schulsystems betrug die Exklusionsquote 3,6. Das heißt, 3,6 Prozent aller Schüler in Hamburg wurden 2012 exklusiv in Sonderschulen unterrichtet.
Sechs Jahre später lag die Exklusionsquote bei 2,4. Ein beeindruckendes Ergebnis.
Quelle: Das Schuljahr 2021/22 in Zahlen. Das Hamburger Schulwesen. Hrsg. vom Institut für Bildungsmonitoring und Qualitätsentwicklung, Hamburg 2022.
Allerdings: In den letzten vier Jahren ist die Zahl der Schüler an Sonderschulen annähernd gleich geblieben. Dementsprechend stagniert die Exklusionsquote.
Was sind das für Schüler, die nach wie vor an Sonderschulen unterrichtet werden?
Gut die Hälfte aller rund 4400 weiterhin nicht inkludierten Schülerinnen und Schüler hat einen speziellen Förderbedarf in den Bereichen geistige Entwicklung, körperlich-motorische Entwicklung, Hören, Sehen oder Autismus.
Diese Schüler werden in Hamburg an sogenannten speziellen Sonderschulen unterrichtet.
Betrachtet man die Entwicklung der Schülerzahlen an den speziellen Sonderschulen in den letzten 10 Jahren, zeigt sich ein frustrierendes Bild:
Quelle: Das Schuljahr 2021/22 in Zahlen. Das Hamburger Schulwesen. Hrsg. vom Institut für Bildungsmonitoring und Qualitätsentwicklung, Hamburg 2022.
Seit Einführung der schulischen Inklusion vor 10 Jahren ist es in Hamburg nicht gelungen, die Zahl der an speziellen Sonderschulen unterrichteten Schüler zu verringern.
Die meisten Schüler mit speziellen Förderbedarfen nehmen an inklusiver Bildung weiterhin nicht teil.
Woran liegt das?
Zwar hat seit Einführung der Inklusion jedes Kind mit Behinderung das Recht, eine Regelschule zu besuchen. Allerdings muss es keine Regelschule besuchen.
Hamburg hielt 2012 am sogenannten Elternwahlrecht fest. Das bedeutet: Eltern und Sorgeberechtigte sollen wählen können, ob ihr Kind mit Behinderung eine Regelschule oder eine Sonderschule besucht.
Um dieses Elternwahlrecht sicherzustellen, blieben die speziellen Sonderschulen trotz Einführung der schulischen Inklusion unverändert erhalten.
Die Begutachtung spezieller Förderbedarfe findet nach wie vor an den speziellen Sonderschulen statt.
Außerdem bieten die speziellen Sonderschulen mit Fahrdiensten und gesicherter Ganztagsbetreuung ein jahrelang erprobtes „Rundum-sorglos-Paket“ an.
Dagegen ist die inklusive Beschulung eines Kindes mit Behinderung an einer Regelschule nach wie vor ein Abenteuer mit vielen Hindernissen. Ein Abenteuer, das enorme Kraft, starke Nerven, Durchhaltevermögen und Eigeninitiative von Eltern fordert. Und das mit einem zunehmenden Fachkräftemangel immer schwerer zu bewältigen wird.
Die zweite Hälfte der noch nicht inkludierten Schüler hat einen sonderpädagogischen Förderbedarf in den Bereichen Lernen, Sprache oder emotional-soziale Entwicklung.
Bis 2012 wurden Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf in den Bereichen Lernen, Sprache oder emotional-soziale Entwicklung in Hamburg überwiegend an Förderschulen (ehemalige Lernbehinderten-Schulen) unterrichtet.
2012 wurden diese Förderschulen zusammen mit Sprachheilschulen und regionalen Beratungs- und Unterstützungsstellen (REBUS) zu Regionalen Bildungs- und Beratungszentren (ReBBZ) zusammengefasst. Dieser Schritt fand bundesweit viel Beachtung und wurde als „Abschaffung der Förderschulen“ gelobt.
Quelle: Das Schuljahr 2021/22 in Zahlen. Das Hamburger Schulwesen. Hrsg. vom Institut für Bildungsmonitoring und Qualitätsentwicklung, Hamburg 2022.
Allerdings: Durch das Festhalten am Elternwahlrecht behielten auch Eltern von Kindern mit sonderpädagogischen Förderbedarfen einen Anspruch auf einen Schulplatz im Sondersystem. Daher blieb es eine zentrale Aufgabe der Regionalen Bildungs- und Beratungszentren, Schüler mit sonderpädagogischen Förderbedarfen auf Dauer zu unterrichten.
Die Folge: Unter dem Deckmantel der Regionalen Bildungs- und Beratungszentren blieben offiziell abgeschaffte Förderschulen weiter erhalten.Seit einigen Jahren werden sie als ReBBZ-Schulen ganz offen wieder unter Sonderschulen gelistet.
Die UN-Behindertenrechtskonvention sagt:
Alle Schüler sollen zusammen lernen und aufwachsen – unabhängig davon, ob sie eine Behinderung haben oder nicht.
Das funktioniert nur in einem inklusiven Bildungssystem für alle. Dieses muss kontinuierlich ausgebaut werden.
Im Gegenzug müssen Förder- und Sonderschulen nach und nach abgebaut werden.
Gemessen an den Vorgaben der UN-Behindertenrechtskonvention zeigt sich die inklusive Bildung in Hamburg im Jahr 2022 alles andere als vorbildlich:
Nach wie vor gibt es ein gut ausgebautes schulisches Sondersystem in der Stadt.
Dort werden seit Jahren kontinuierlich weit über 4.000 Kinder und Jugendliche exklusiv beschult. Mit steigender Tendenz.
Perspektiven, dass sich daran etwas ändert, sind nicht in Sicht.
Ja, es stimmt. Hamburg hat 2009 das Recht auf inklusive Bildung in seinem Schulgesetz verankert. Das war ein mutiger und wichtiger Schritt!
Doch dann ist Hamburg nicht weitergegangen.
Vielmehr hat sich die Stadt über das Elternwahlrecht die Hintertür zum alten Sondersystem weit offen gehalten.
Das Deutsche Institut für Menschenrechte findet in seinem aktuellen Jahresbericht deutliche Worte, was das Elternwahlrecht angeht:
Das Elternwahlrecht steht im Widerspruch zum Auftrag der UN-Behindertenrechtskonvention.
Aufgabe eines Staates ist es, ein inklusives Bildungssystem aufzubauen, das den Bedarfen aller Schüler gerecht wird. Unabhängig davon, ob ein Schüler eine Beeinträchtigung hat oder nicht.
Eltern sollen erst gar nicht vor der Wahl stehen müssen, ob sie ihr Kind mit Behinderung an einer Regelschule oder besser an einer Sonderschule beschulen lassen sollen.
Der Verantwortung, ein inklusives Bildungssystem aufzubauen, kann sich Deutschland nicht über „das Konstrukt des Elternwillens“ entledigen.
Unser Kind mit Behinderung arbeitet seit Mai in einer Firma für Veranstaltungstechnik. Und ist dort super glücklich.
Auch der Betrieb ist mehr als zufrieden mit der Arbeit unseres Kindes. Gerne möchte er unserem Kind die Möglichkeit zur Qualifizierung geben.
Hätte unser Kind keine Behinderung, wäre es bereits vor drei Monaten mit der Ausbildung zur Fachkraft für Veranstaltungstechnik gestartet.
Doch mit Behinderung ist alles komplizierter.
Denn: Wegen seiner Lernschwierigkeiten schafft unser Kind keine Vollausbildung.
Das ist dem Betrieb egal. Der sagt: „Bis zu 80 Prozent der Ausbildung kann Ihr Kind schaffen. Das reicht uns.“
Ganz anders sieht das der für unser Kind zuständige Reha-Berater in der Agentur für Arbeit.
Die berufspsychologische Testung unseres Kindes durch die Agentur für Arbeit hat ergeben:
„Die Teilnahme an einer Vollausbildung ist unrealistisch. Dafür sind die behinderungsbedingten Lernschwierigkeiten zu groß.“
Daher empfiehlt das berufspsychologische Gutachten eine theoriereduzierte Ausbildung für „Förderschüler“. Mit entsprechend gestalteten Rahmenbedingungen wie einer kleinen Lerngruppe und einer intensiven sonderpädagogischen Unterstützung.
Der Haken an der Sache: Im Bereich Veranstaltungstechnik gibt es (noch) keine theoriereduzierte Ausbildung.
Also sagt der Reha-Berater: „Was es nicht gibt, kann auch nicht gefördert werden.“
Und empfiehlt unserem Kind eine Ausbildung zum Werker im Garten- und Landschaftsbau.
Auch wenn das nicht der Wunschberuf unseres Kindes ist.
Unser Kind könnte sich auch über eine Unterstützte Beschäftigung im Bereich Veranstaltungstechnik qualifizieren.
Bei einer Unterstützten Beschäftigung werden Menschen mit Behinderung direkt vor Ort in einem Betrieb angeleitet. Sie können ausprobieren, welche betrieblichen Tätigkeiten sie gut schaffen. Und sich darüber auf eine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung in dem Betrieb vorbereiten.
Allerdings: Die betriebliche Qualifizierung im Rahmen einer unterstützten Beschäftigung ist keine Ausbildung. Sie dient alleine dazu, behinderte Menschen auch ohne formale Bildungsabschlüsse in eine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt zu bringen.
Für unser Kind hieße das, dass es nicht über den Status eines angelernten Hilfsarbeiters hinaus käme. Überdies würde es in der Zeit der Qualifizierung kaum etwas verdienen.
Doch unser Kind möchte mehr. Es will sich nicht mit einem direkten Einstieg in eine Anlerntätigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt zufrieden geben. Es möchte lernen und eine Ausbildung machen – so wie seine nicht-behinderten Freunde auch.
Bei uns in der Familie bin meist ich als Mutter für die Terminplanung zuständig.
Eine nicht immer leichte Aufgabe. Vor allem dann, wenn ein Kind mit Behinderung in der Familie ist.
Viele Termine drehen sich um die Themen Gesundheit und Therapie.
Da sind zunächst einmal die regelmäßigen Vorsorge-Termine für alle Kinder. Beim Zahnarzt, beim Kinderarzt, beim Augenarzt und beim Hals-Nasen-Ohrenarzt.
Hinzu kommen die Spezial-Termine. Beim Kinderneurologen, bei der Kinderpsychologin, bei der Ergotherapie – um nur einige zu nennen.
Wie wird es mit der Gesundheitsvorsorge funktionieren, wenn unser Kind mit Behinderung erwachsen ist und nicht mehr bei uns leben wird?
Menschen mit einer Lernbehinderung oder einer geistigen Behinderung haben ein erhöhtes Gesundheitsrisiko.
Bei vielen von ihnen werden Krankheiten nicht rechtzeitig erkannt und behandelt.
Das liegt daran, dass unser Gesundheitssystem kaum eingestellt ist auf die besonderen Bedarfe vieler Menschen mit Behinderung.
Zu oft fehlen Zeit und Verständnis bei der medizinischen Behandlung.
Häufig gehen Menschen mit einer Lernbehinderung oder geistigen Behinderung erst gar nicht zum Arzt. Weil sie früher schlechte Erfahrungen gemacht haben. Weil sie Angst davor haben, dass der Arzt sie für dumm hält. Weil sie nicht verstehen, was der Arzt sagt. Oder weil ihnen nicht bewusst ist, dass sie krank sind und ein Arzt ihnen helfen kann.
Die Folgen sind gravierend: Menschen mit einer Lernbehinderung oder geistigen Behinderung leiden häufiger an Schmerzen als nicht behinderte Menschen. Einige sterben sogar früher.
Gleichzeitig ist es für Menschen mit einer Lernbehinderung oder geistigen Behinderung sehr schwer, Zugang zu Präventionsangeboten zu erhalten.
Also Zugang zu Angeboten, die die Gesundheit bereits im Vorfeld stärken. Die sich mit den Fragen beschäftigen:
Wie kann ich gesund essen?
Wie kann ich mich ausreichend bewegen?
Wie gehe ich mit Stress um?
Wie gehe ich mit Alkohol, Tabak oder anderen Drogen um?
In Hamburg gibt es jetzt ein neues Projekt, das genau das ändern möchte. Es heißt BESSER GESUND LEBEN.
Ziel dieses Projekts ist es, die Gesundheit und Lebensqualität von Menschen mit einer Lernbehinderung oder geistigen Behinderung zu verbessern.
Das besondere an dem Projekt: Viele verschiedene Menschen, die sich mit Gesundheitsvorsorge beschäftigen, arbeiten zusammen mit Menschen mit Lernbehinderung oder geistiger Behinderung. Gemeinsam wollen sie voneinander lernen und herausfinden:
Wie können Menschen mit einer Lernbehinderung oder geistigen Behinderung gesund leben? Wie können Menschen mit einer Lernbehinderung oder geistigen Behinderung länger gesund bleiben? Was müssen sie dafür machen? Wie kann man Menschen mit einer Lernbehinderung oder geistigen Behinderung gut dabei unterstützen?
Dazu beraten Fachleute für Pflege mehr als 200 Menschen mit einer Lernbehinderung oder geistigen Behinderungen. Ganz individuell und kostenlos.
Interesse an dem Projekt? Bis Ende des Jahres werden noch erwachsene Teilnehmer mit einer Lernbehinderung oder geistigen Behinderung gesucht!
Eigentlich wollte unser behindertes Kind direkt nach der Schule mit einer betrieblichen Ausbildung beginnen. So wie seine nicht behinderten Freunde auch.
Dazu hat unser Kind über ein Jahr lang Praktika gemacht, in unterschiedlichen Einrichtungen und Betrieben.
Am Ende der Praktika gab es von allen Seiten nur gute Rückmeldungen. Trotzdem hat unser Kind nach Abschluss der Schule mit keiner Ausbildung begonnen.
Hat sich unser Kind nicht ausreichend angestrengt? Hätten wir als Eltern mehr unterstützen müssen?
Inzwischen weiß ich:
Es liegt nicht an unserem Kind oder an uns, dass es mit einem nahtlosen Wechsel von der Schule in die Ausbildung nicht geklappt hat. Es liegt an einer strukturellen Diskriminierung von jungen Menschen mit Behinderung.
Nurwenigen Jugendlichen mit Behinderung gelingt in Deutschland ein nahtloser Wechsel von der Schule in eine betriebliche Ausbildung.
Etwas mehr schaffen den nahtlosen Wechsel in eine überbetriebliche Ausbildung.
Jugendliche mit einer geistigen oder psychischen Behinderung wechseln besonders häufig direkt nach der Schule in eine Werkstatt für behinderte Menschen.
Die meisten Jugendlichen mit Behinderung werden nach Schulende zunächst in Maßnahmen des sogenannten Übergangsbereich vermittelt.
Der Übergangsbereich ist für Jugendliche gedacht, die nach dem Ende ihrer Schulzeit noch keinen Ausbildungsplatz gefunden haben.
Ziel des Übergangbereichs ist es, die Ausbildungschancen dieser Jugendlichen zu verbessern.
Eine Vielzahl regional sehr unterschiedlicher Programme und Maßnahmen sollen die Berufsorientierung stärken und eine erste berufliche Qualifizierung ermöglichen. Auch Schulabschlüsse können im Übergangsbereich nachgeholt werden.
Allerdings führen die Angebote des Übergangbereichs zu keinem Berufsabschluss. Auf eine spätere Ausbildung werden sie nicht angerechnet.
Angelegt ist der Übergangsbereich als Notfallplan. Und damit als ein Plan B.
Ein Plan B, der nur dann in Kraft tritt, wenn es mit Plan A (dem nahtlosen Wechsel in eine Ausbildung) nicht geklappt hat.
Den meisten Jugendlichen ohne Behinderung gelingt in Deutschland tatsächlich ein nahtloser Wechsel von der Schule in eine Ausbildung. Für sie erübrigt sich damit der Übergangsbereich.
Anders sieht dies bei Jugendlichen mit Behinderung aus.
Für die meisten behinderten Jugendlichen ist der Übergangsbereich bereits Plan A und damit fester Bestandteil ihres Lebenslaufs.
Viele Lehrer und Berufsberater an den inklusiven Stadtteilschulen in Hamburg gehen einfach davon aus, dass behinderte Jugendliche nach Abschluss ihrer 10jährigen Schulzeit automatisch in ein sogenanntes Ausbildungsvorbereitungsjahr wechseln.
Auch bei unserem Kind war das so.
Den behinderten Jugendlichen und ihren Eltern wird gesagt:
Durch das Ausbildungsvorbereitungsjahr lässt sich das in Hamburg geltende 11. Pflichtschuljahr erfüllen. (Dass sich das 11. Pflichtschuljahr auch über den Besuch einer Berufsschule während des ersten Ausbildungsjahres erfüllen lässt, bleibt unerwähnt.)
Oft heißt es auch:
Jugendliche mit Behinderung sind nach dem Ende ihrer Schulzeit noch nicht reif für eine Ausbildung.
Beides hat zur Folge, dass sich behinderte Jugendliche während ihrer Schulzeit in der Regel erst gar nicht mit der Suche nach einem Ausbildungsplatz beschäftigen.
In der Agentur für Arbeit ist meist die sogenannte Reha-Abteilung für Menschen mit Behinderung zuständig.
In Hamburg beginnen die Berufsberater der Reha-Abteilung ihre Vermittlungstätigkeit generell erst am Ende der 11jährigen Pflicht-Schulzeit.
Damit wird das Ausbildungsvorbereitungsjahr im Anschluss an die 10jährige Schulzeit für inklusiv beschulte behinderte Jugendliche zum Pflichtjahr.
Und es geht noch weiter.
Am Ende des Ausbildungsvorbereitungsjahres empfehlen Hamburgs Reha-Berater oftmals die Teilnahme an einer weiteren berufsvorbereitenden Bildungsmaßnahme.
Das heißt: Behinderte Jugendliche sollen möglichst ein weiteres Jahr im Übergangsbereich verbleiben. Um weiterhin bestehende „Defizite“ auszugleichen.
Nur so lasse sich die Chance auf den erfolgreichen Abschluss einer anschließenden Ausbildung vergrößern.
Allerdings zeigt die Praxis: Genau das Gegenteil ist der Fall!
Je länger ein behinderter Jugendlicher im Übergangsbereich verbleibt, umso schlechter werden seine Chancen auf eine erfolgreiche Ausbildung und eine anschließende Beschäftigung auf dem 1. Arbeitsmarkt.
Viele sagen daher:
Der Übergangsbereich ist wie eine Black Box. Wer einmal im Übergangsbereich ist, dem gelingt kaum noch der Sprung in Ausbildung und Beschäftigung.
Der Übergangsbereich ist ein Sondersystem, das gegen die UN-Behindertenrechtskonvention verstößt.
Einzige Aufgabe dieses Sondersystems ist es, ausschließlich defizitär definierte Gruppen von Jugendlichen aufzufangen, denen ein nahtloser Wechsel von Schule in Ausbildung verwehrt wird.
Durch das dauerhafte Bereitstellen dieses Sondersystems müssen sich bestehende Exklusionsmechanismen des Arbeitsmarkts nicht ändern. Inklusion wird verhindert.
Vor 10 Jahren wurde in Hamburg die schulische Inklusion eingeführt.
Nun – 10 Jahre später – verlassen die ersten inklusiv beschulten Jugendlichen mit Behinderung die Regelschulen.
Wie geht es für sie weiter? Wie sieht ihre berufliche Zukunft aus? Welche Berufe wollen und können sie ergreifen? Wer hilft ihnen bei Berufswahl und Ausbildung?
Die UN-Behindertenrechtskonvention benennt klar und deutlich, wie inklusive Arbeit und Berufsbildung aussehen sollen:
Alle Menschen haben das Recht auf frei gewählte und gerecht bezahlte Arbeit, damit sie ihren Lebensunterhalt selbst verdienen können.
Um dieses Recht zu verwirklichen, müssen Arbeitsmarkt und Arbeitsumfeld inklusiv gestaltet und auch für Menschen mit Behinderung zugänglich sein.
Entscheidend für den späteren Berufsweg eines Menschen sind schulische und berufliche Bildung.
An ein inklusives Schulwesen muss sich ein inklusives Ausbildungswesen anschließen.
Berufsorientierung und Berufsvorbereitung sind inklusiv zu gestalten.
Menschen mit und ohne Behinderung sollen gemeinsam in Betrieben oder Schulen/Hochschulen ausgebildet werden.
Alle anerkannten Berufe sollen auch für Menschen mit Behinderung zugänglich sein. Wo nötig, müssen unterstützende individuelle Vorkehrungen getroffen werden.
Sonderausbildungen für Menschen mit Behinderung müssen abgeschafft werden.
Anstatt auf Gleichbehandlungsgebote und gleiche Leistungsanforderungen zu drängen, sollen Kreativität und Vielfalt gestärkt werden.
Ausgehend von diesen Punkten frage ich:
Wie inklusiv ist die berufliche Bildung in Hamburg inzwischen aufgestellt?
Im Juli hat unser behindertes Kind die Stadtteilschule ohne Abschluss beendet.
Eigentlich wollte es im Anschluss mit einer betrieblichen Ausbildung starten – so wie seine besten (nicht-behinderten) Freunde auch.
Doch während diese die Ausbildung längst begonnen haben, wartet unser Kind weiterhin auf eine klare, verlässliche Ausbildungsperspektive.
Dabei hat unser Kind ein Ausbildungsangebot – von einer Firma, in der es Praktikum gemacht hat und in der es seit drei Monaten erfolgreich jobbt.
Die Firma ist so zufrieden mit der Arbeit unseres Kindes, dass sie ihm die Möglichkeit zur Qualifizierung bieten möchte.
Die Firma weiß: Aufgrund seiner Behinderung schafft unser Kind keine reguläre Vollausbildung. Aber sie ist offen für alternative, inklusive Ausbildungswege.
Das Problem: Auch 13 Jahre nach Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention fehlen in Deutschland Vorgaben und Beispiele für eine inklusive Berufsausbildung.
Das Berufsbildungsgesetz (BBiG) legt fest, dass Menschen mit Behinderung vorrangig in einem anerkannten Ausbildungsberuf ausgebildet und die Verhältnisse behinderter Menschen berücksichtigt werden sollen (§ 65). Dies deckt sich mit den Forderungen der UN-Behindertenrechtskonvention.
Für Jugendliche, die aufgrund der Art und Schwere ihrer Behinderung keine reguläre Ausbildung schaffen, sieht das Berufsbildungsgesetz theoriereduzierte Fachpraktiker-Ausbildungen vor (§ 66). Bereits hier wird es problematisch.
Denn: Durch Fachpraktiker-Ausbildungen werden neue Sonderwelten für junge Menschen mit Behinderung geschaffen. Die Ausbildungen finden in speziellen Berufsschulen und überwiegend überbetrieblich statt. Der Beruf des Fachpraktikers ist ausschließlich für Menschen mit Behinderung gedacht und von Beginn an mit einer geringeren Entlohnung verbunden als bei regulären Berufen.
Hinzu kommt, dass Fachpraktiker-Ausbildungen zwar theoriereduziert, aber nicht individualisiert angelegt sind. Ausgehend von der Vorstellung, Leistungen vergleichbar machen zu müssen, setzen Fachpraktiker-Ausbildungen ein festgelegtes Maß an Wissen und Fähigkeiten voraus. Das heißt: Ein junger Mensch mit Behinderung muss sich an die Leistungsanforderungen der Ausbildung anpassen. Die Anpassung der Ausbildung an die individuellen Fähigkeiten und Bedürfnisse eines behinderten Menschen ist nicht möglich. Dadurch werden viele junge Menschen mit Lernbehinderung oder geistiger Behinderung von Fachpraktiker-Ausbildungen ausgeschlossen.
Für junge Menschen, die aufgrund ihrer Behinderung weder eine Vollausbildung noch eine Fachpraktiker-Ausbildung schaffen, bietet das Berufsbildungsgesetz die Möglichkeit, Qualifizierungsbausteine zu erwerben (§ 69).
Aufgabe von Qualifizierungsbausteinen ist es, „Grundlagen für den Erwerb beruflicher Handlungsfähigkeit“ zu vermitteln. Übersetzt heißt dies: Qualifizierungsbausteine sollen junge Menschen mit Beeinträchtigungen soweit fit machen, dass sie im Anschluss doch noch eine Ausbildung schaffen.
Der Erwerb von Qualifizierungsbausteinen ist auf berufliche Ausbildungsvorbereitungs-Maßnahmen begrenzt. Diese finden ausschließlich überbetrieblich in Sondereinrichtungen wie Werkstätten für behinderte Menschen statt. Erworbene Qualifikationen lassen sich nicht auf eine anschließende Ausbildung anrechnen.
Auch Qualifizierungsbausteine sind an einen festgelegten Leistungskatalog geknüpft. Wenn ein junger Mensch mit Behinderung nicht alle Anforderungen eines Qualifizierungsbausteins erfüllt, bleibt er auch hier bei der Qualifizierung außen vor.
Erschwerend kommt hinzu: Es ist äußerst aufwendig, normierte Vorgaben für Fachpraktiker-Ausbildungen und Qualifizierungsbausteine zu erstellen. Daher gibt es bisher nur eine sehr begrenzte Zahl an Berufen, in denen Fachpraktiker-Ausbildungen oder der Erwerb von Qualifizierungsbausteinen möglich sind. In Hamburg werden derzeit nur 5 (!) Fachpraktiker-Ausbildungen angeboten. Während nicht-behinderte junge Menschen zwischen vielen unterschiedlichen Berufen wählen können, ist behinderten Menschen eine echte Berufswahl somit nicht möglich.
Was bedeutet das für unser Kind mit Behinderung?
Zwar hat ein Betrieb unserem Kind eine Ausbildung in seinem Wunsch-Beruf angeboten. Trotzdem kann es diese Chance nicht nutzen, da es für diesen Beruf keine Fachpraktiker-Ausbildung gibt.
Selbst wenn es eine Fachpraktiker-Ausbildung für diesen Beruf gäbe, wäre es nicht sicher, ob unser Kind die dafür festgelegten theoretischen Anforderungen erfüllen könnte.
Qualifizierungsbausteine gibt es für den Wunsch-Beruf unseres Kindes ebenfalls nicht.
Es ist also völlig egal, wie gut sich unser Kind in der praktischen Arbeit vor Ort in seinem Wunsch-Beruf macht. So wie es zur Zeit aussieht, hat es nur eine einzige Perspektive: die Arbeit als Ungelernter in seinem Wunsch-Beruf.
Gleich zu Anfang seines Berufslebens erfahren zu müssen, dass man aufgrund seiner Behinderung keine Chance auf eine Berufsausbildung hat, ist hart und diskriminierend.Es verhindert eine gleichberechtigte soziale Teilhabe und verstößt gegen das Menschenrecht auf frei gewählte und gerecht bezahlte Arbeit.
Das Deutsche Institut für Menschenrechte hat 2020 in seinem 5. Bericht zur Entwicklung der Menschenrechtssituation in Deutschlandklargestellt:
Fachpraktiker-Ausbildungen sind exklusiv und stigmatisierend.
Durch Fachpraktiker-Ausbildungen werden junge Menschen mit Behinderung anders behandelt als junge Menschen ohne Behinderung. Ihre Leistungen werden als nicht ausreichend betrachtet. Ihre Ausbildung findet getrennt von der ihrer Altersgenossen statt.
Fachpraktiker-Ausbildungen schaffen neue Sonderwelten und verhindern, dass junge Menschen mit Behinderung einen Zugang zum ersten Arbeitsmarkt erhalten.
Dies lässt sich 1:1 auf eine Ausbildung über Qualifizierungsbausteine übertragen.
Immer am 9. September wird weltweit auf die FetaleAlkoholspektrumstörung (FASD) aufmerksam gemacht – und zwar bereits seit 1999.
FASD ist eine lebenslange Behinderung. Sie entsteht, wenn das Gehirn eines Kindes bereits vor seiner Geburt durch die toxigenen Bestandteile von Alkohol dauerhaft verändert wird.
In englischsprachigen Ländern wird der 9. September als FASD Awareness Day bezeichnet. Oder auch schlicht als FASD DAY. Übersetzt heißt das „FASD Bewußtseins-Tag“ oder einfach „FASD Tag“.
In Deutschland heißt der 9. September „Tag des alkoholgeschädigten Kindes“. Und genau das sollten wir schleunigst ändern!
Denn: Bezeichnungen sagen viel über Haltungen, die sich dahinter verbergen.
Unser Kind hat FASD. Wenn wir unserem Kind sagen würden: Du bist alkoholgeschädigt, würde es garantiert wütend protestieren:
„Ich bin doch kein Alkoholiker!“
„Ich bin doch nicht kaputt!“
„Ich habe doch keinen Schaden! Und erst recht keinen Dachschaden!“
Auch ich sehe unser Kind nicht als Menschen, dem ein Schaden zugefügt wurde.
Schaden – das bedeutet Beeinträchtigung, Benachteiligung, Störung, Beschädigung, Defekt, Fehler, Mangel, Gebrechen oder Leiden.
Hat etwas einen Schaden, heißt dies fast immer, es hat weniger Wert.
Überdies wird der Mensch, dem der Schaden zugefügt wurde, auf die Rolle eines Opfers reduziert.
Unser Kind ist weder beschädigt, kaputt, gebrechlich oder mangelhaft. Auch ist es kein „armes Opfer“. Und vor allem ist es eins nicht: weniger wert!
Unser Kind hat eine angeborene Behinderung. Durch den Kontakt mit Alkohol hat sich sein Gehirn im Mutterleib anders verdrahtet und verschaltet als üblich. Dadurch tickt es anders. Das macht manche Dinge kompliziert, sowohl für unser Kind wie auch seine Umwelt.
Trotzdem ist unser Kind ein wunderbarer, selbstbestimmter Mensch. Ein Mensch mit Stärken und Schwächen. So wie jeder und jede von uns.
Es gibt noch einen zweiten Grund, warum wir den „Tag des alkoholgeschädigten Kindes“ dringend umbenennen sollten.
Dort, wo es einen Geschädigten gibt, gibt es meist auch jemanden, der den Schaden verursacht hat. Der – absichtlich oder unabsichtlich – Schuld an dem Schaden hat. Das wäre bei einem Kind mit FASD seine leibliche Mutter, die während der Schwangerschaft Alkohol getrunken hat.
Allerdings ist solch eine Sichtweise wenig hilfreich für den Umgang mit FASD.
Keine schwangere Frau trinkt mit der Absicht, ihrem ungeborenen Kind bewusst zu schaden.
Schwangere Frauen trinken
weil sie sich amüsieren wollen und noch nicht wissen, dass sie schwanger sind.
weil ihnen immer noch Menschen sagen: „Ein oder zwei Schlückchen in der Schwangerschaft schaden doch nicht.“
weil sie gefangen sind in Drogen- oder Alkoholsucht.
weil sie andere schwerwiegende Probleme haben und dringend Unterstützung bräuchten.
Verurteilen wir leibliche Mütter von Kindern mit FASD, führt dies nur dazu, dass sie den Konsum von Alkohol in der Schwangerschaft verschweigen. Dadurch wird den betroffenen Kindern der Zugang zu Diagnose und notwendiger Unterstützung erheblich erschwert.
Um FASD zu verhindern und Menschen mit FASD zu unterstützen, hilft keine Stigmatisierung von Müttern. Entscheidend ist es,
das Bewusstsein für die Gefahren von Alkohol während einer Schwangerschaft immer wieder zu schärfen.
schwangere Frauen so zu unterstützen und stärken, dass sie während der Schwangerschaft auf Alkohol verzichten können.
leiblichen Müttern vorurteilsfrei zu begegnen und ihnen zusammen mit ihren betroffenen Kindern einen schnellen Zugang zum Hilfesystem zu ermöglichen.
Von daher schlage ich vor:
Lasstuns den 9. September einfach FASD-Tagnennen!
An was denken Sie bei der Bezeichnung „alkoholgeschädigtes Kind“?
Für unser großes Kind war immer klar: Gleich nach der Schule möchte es mit einer Ausbildung beginnen. Endlich arbeiten, endlich eigenes Geld verdienen.
Für unser großes Kind und mich war auch klar: Das mit einer Ausbildung wird nicht einfach werden. Denn unser Kind hat eine Fetale Alkoholspektrumstörung, bekannt als FASD. Wegen dieser Behinderung hat unser Kind keinen Schulabschluss und wird mehr Unterstützung bei der Ausbildung benötigen als andere Jugendliche.
Damit es trotzdem mit einer Ausbildung klappt, hat unser Kind bereits in seinen letzten zwei Schuljahren angefangen, nach einer Ausbildungsmöglichkeit zu suchen.
Ursprünglich wollte unser Kind im Bereich Veranstaltungstechnik arbeiten. Doch nach einem Praktikum in einer Firma für Veranstaltungstechnik hieß es im Abschlussgespräch: Die theoretischen und technischen Hürden in der Ausbildung zur Fachkraft für Veranstaltungstechnik seien sehr hoch und mit der Lernbehinderung unseres Kindes wohl nicht zu schaffen.
Also hat sich unser Kind umorientiert.
Hat mit Ehrgeiz, Freude und Erfolg zahlreiche Praktika im Garten- und Landschaftsbau gemacht.
Hat rechtzeitig die Psychologischen Eignungsuntersuchung (PSU) bei der Agentur für Arbeit absolviert.
War zum Gespräch beim Fachberater in der inzwischen für unser Kind zuständigen Reha-Abteilung der Agentur für Arbeit.
Hatte schließlich die Zusage des Berufsbildungswerks auf eine begleitete betriebliche Ausbildung zum Werker im Garten- und Landschaftsbau in der Tasche.
Unser Kind war ganz schön stolz auf sich. Und ich auf unser Kind.
Doch dann rief kurz vor Schulschluss und Sommerferien überraschend das Berufsbildungswerk an und erklärte: Die Lehrer an der Berufsschule glaubten nicht, dass unser Kind die theoriereduzierte Ausbildung zum Werker schaffe. Seine “Lernrückstände“ seien einfach zu groß.
Darum zog das Berufsbildungswerk seine Zusage auf eine begleitete Werker-Ausbildung im Garten- und Landschaftsbau wieder zurück. Stattdessen solle unser Kind zunächst ein Ausbildungsvorbereitungsjahr machen und fleißig an seinen Mathekenntnissen arbeiten. Dann könne es sich im nächsten Jahr nochmals beim Berufsbildungswerk bewerben.
Unser Kind und ich verstanden die Welt nicht mehr.
Eigentlich ist die Ausbildung zum Werker als Alternative für behinderte Menschen gedacht, die aufgrund der Art und Schwere ihrer Behinderung keine übliche Ausbildung schaffen.
Und nun sollte das für unser Kind nicht möglich sein, weil die behinderungsbedingten „Lernrückstände“ zu groß seien?
Nur zwei Tage später rief die Firma für Veranstaltungstechnik an, bei der unser Kind Praktikum gemacht hatte. Sie bräuchten dringend Leute. Und würden unser Kind gerne als Aushilfe einstellen.
Unser Kind war selig: Doch noch arbeiten und Geld verdienen!
Und: Mit einer bezahlten Aushilfstätigkeit in der Hand wurde die Perspektive eines unbezahlten Ausbildungsvorbereitungsjahres für unser Kind endlich aushaltbar.
(Nur ich hatte etwas Stress und musste innerhalb weniger Wochen ein Ausbildungsvorbereitungsjahr organisieren.)
In gut drei Wochen soll es nun losgehen mit dem Ausbildungsvorbereitungsjahr. Eigentlich. Denn seit wenigen Tagen ist wieder alles anders:
Unser Kind hat ein Ausbildungsplatz-Angebot!
Bei der Firma für Veranstaltungstechnik, in der es jobbt!
Wie es jetzt weitergeht? Noch haben wir keinen Plan. Die Agentur für Arbeit ist angeschrieben. Ein Beratungstermin bei der zuständigen Handelskammer ist in Arbeit.
In Hamburgs Schulen gibt es viele Arten von Förderung.
Sprachförderung, Lernförderung, sonderpädagogische Förderung, Begabtenförderung … Da verliert man leicht den Überblick.
Damit das nicht so schnell passiert, stelle ich Ihnen die 6 wichtigsten Fördermaßnahmen kurz vor.
Fördermaßnahme 1: Fördern statt Wiederholen
Schüler in Hamburg können nicht mehr sitzenbleiben.
Das heißt: Schlechte Schüler, die das Lernziel in (mindestens) einem Unterrichtsfach nicht erreichen, müssen kein Schuljahr mehr wiederholen.
Stattdessen erhalten sie eine kostenlose Lernförderung (§ 45 Hamburgisches Schulgesetz).
Die Lernförderung wird von jeder Schule in Eigenregie organisiert. Die meisten Schulen beauftragen externe Anbieter (Nachhilfeinstitute) oder Einzelpersonen (Studenten) für Nachhilfestunden nach Schulschluss. Die Kosten dafür trägt die Schulbehörde.
Die Zeugniskonferenz entscheidet darüber, welcher Schüler eine kostenlose Lernförderung erhält.
Fördermaßnahme 2: Kermit und Co.
Schüler in Hamburg werden regelmäßig getestet. So wird ermittelt, wie gut oder schlecht sie in einzelnen Fächern sind.
Die Testergebnisse helfen den Lehrern, ihren Unterricht noch besser auf den Lernstand ihrer Schüler auszurichten. Die Lernentwicklung von Schülern wird sichtbar gemacht.
Zwei bekannte Tests sind die Hamburger Schreibprobe (HSP) und der KERMIT-Test.
Mit der Hamburger Schreibprobe wird jährlich die Rechtschreibleistung aller Schüler geprüft.
Unter dem Motto „Kompetenzen ermitteln“ (KERMIT) schreiben Hamburger Schüler in Klasse 2, 3, 5, 7, 8 und 9 jeweils im Frühjahr Tests in allen Kernfächern.
Fördermaßnahme 3: Sonderpädagogische Förderung
Seit Oktober 2009 haben Kinder und Jugendliche mit sonderpädagogischem Förderbedarf das Recht, allgemeine Schulen zu besuchen ( § 12 Hamburgisches Schulgesetz). Dort werden sie gemeinsam mit Schülern ohne sonderpädagogischen Förderbedarf unterrichtet und besonders gefördert.
Was bedeutet sonderpädagogischer Förderbedarf?
Sonderpädagogischer Förderbedarf liegt vor, wenn Schüler in ihren individuellen Bildungs-, Entwicklungs- und Lernmöglichkeiten so weitreichend beeinträchtigt sind, dass sie ohne gezielte sonderpädagogische Förderung und Unterstützung ihre Möglichkeiten nicht erfolgreich entfalten können.
Sonderpädagogischen Förderbedarf gibt es in folgenden Bereichen:
Lernen,
Sprache,
Emotionale und soziale Entwicklung,
Körperliche und motorische Entwicklung,
Geistige Entwicklung,
Hören (Gehörlosigkeit und Schwerhörigkeit),
Sehen (Blindheit und Sehbehinderung),
Autismus
und in besonderen Ausnahmefällen im Förderschwerpunkt Pädagogik bei Krankheit.
Um zu prüfen, ob ein sonderpädagogischer Förderbedarf vorliegt, stellen die Eltern oder die Schule einen Antrag.
Zwei unterschiedliche Verfahren klären, ob ein sonderpädagogischer Förderbedarf vorliegt:
Wird ein Förderschwerpunkt in den Bereichen Lernen, Sprache oder emotionale und soziale Entwicklung (LSE) vermutet, sind die Schule und das Regionale Bildungs- und Beratungszentrum für die Prüfung und Diagnostik zuständig.
Wird ein Förderschwerpunkt in den Bereichen Hören und Kommunikation, Sehen, Autismus, geistige Entwicklung oder körperliche und motorische Entwicklung (Spezielle Förderbedarfe!) vermutet, wird ein Gutachten zur Überprüfung und Feststellung ein sonderpädagogischen Förderbedarfs (gem. § 12 Abs. 3 AO-SF) erstellt. Das zuständige Regionale Bildungs- und Beratungszentrum koordiniert die Erstellung dieses Gutachtens. Dazu befragt es Lehrer, Eltern und gegebenenfalls Fachkräfte der speziellen Sonderschulen oder der überregionalen Bildungszentren für Hören und Kommunikation, für Blinde und Sehbehinderte oder für Pädagogik bei Krankheit/Autismus.
Umfang und Organisation der Förderung hängen davon ab, ob ein sonderpädagogischer Förderbedarf LSE oder ein spezieller Förderbedarf festgestellt wurde.
Weitere Informationen zur sonderpädagogischen Förderung finden Sie hier.
Fördermaßnahme 4: Sprachförderung
Es gibt Schülerinnen und Schüler, deren Deutschkenntnisse nicht ausreichen, um erfolgreich am Unterricht teilnehmen zu können.
Diese Schüler müssen in Hamburg an einem zusätzlichem Sprachunterricht teilnehmen (§ 28a Hamburgisches Schulgesetz).
Der zusätzliche Sprachunterricht findet in der Regel entweder parallel zu offenen Lernangeboten im Ganztag oder als Teil eines Förderbandes statt.
Neu zugewanderte Kinder und Jugendliche besuchen zunächst für ein Jahr eine Internationale Vorbereitungsklasse (IVK). Anschließend wechseln sie in eine reguläre Klasse, in der sie ein Jahr lang weiter gefördert werden.
Eine Besonderheit in Hamburg ist die vorschulische Sprachförderung. Bei der sogenannten Viereinhalbjährigen-Untersuchung werden alle Kinder im Alter von 4 1/2 Jahren in der für sie zuständigen Grundschule genau geprüft. Wird ein Sprachförderbedarf festgestellt, wird das betroffene Kind mit 5 Jahren automatisch in die Vorschule aufgenommen und erhält hier eine zusätzliche Sprachförderung.
Anteile der Schülerinnen und Schüler mit und ohne Migrationshintergrund im Schuljahr 2020/21 (Quelle: Hamburger Schuljahresstatistik 2020)
Fördermaßnahme 5: Begabtenförderung
Das Hamburgische Schulgesetz sieht vor, dass Schülerinnen und Schüler „in ihren individuellen Fähigkeiten und Begabungen, Interessen und Neigungen gestärkt und bis zur vollen Entfaltung ihrer Leistungsfähigkeit gefördert und gefordert werden“ sollen (§ 3 Hamburgisches Schulgesetz).
Daher werden auch besonders begabte und hochbegabte Schülerinnen und Schüler speziell gefördert.
Ein Aktionsprogramm zur Begabtenförderung fordert jede Schule auf, ein schulspezifisches Konzept zur Begabtenförderung zu entwickeln.
Die Beratungsstelle besondere Begabungen (BbB) berät und unterstützt Schulen, Lehrkräfte, Eltern sowie Schülerinnen und Schüler bei Fragen der Förderung von besonders begabten und hochbegabten Kindern und Jugendlichen.
Fördermaßnahme 6: Außerunterrichtliche Lernhilfen
Schon einmal etwas von AUL gehört?
AUL steht für Außerunterrichtliche Lernhilfen.
Außerunterrichtliche Lernhilfen erhalten Kinder mit besonderen Schwierigkeiten im Lesen und/oder Rechtschreiben (Lese-Rechtschreibschwäche) oder im Rechnen (Rechenschwäche/Dyskalkulie).
Die Förderung findet in Form einer Lerntherapie statt.
Ein von der Schulbehörde anerkannter Lerntherapeut führt die Lerntherapie durch.
Die Lerntherapie kann innerhalb wie außerhalb der Schule stattfinden, in kleinen Gruppen oder als Einzelförderung.
Ein Kind hat Anspruch auf eine außerunterrichtliche Lernhilfe, wenn es
die erste bis sechste Klasse besucht,
seinen Hauptwohnsitz in Hamburg hat,
Deutsch als Muttersprache spricht,
keinen sonderpädagogischen Förderbedarf hat,
nicht von einer seelischen Behinderung bedroht oder betroffen ist,
die Anforderungen seines Jahrgangs insgesamt erfüllt,
im Lesen und/oder Rechtschreiben allerdings für längere Zeit (mehr als sechs Monate) zu den Leistungsschwächsten in seinem Jahrgang zählt (nachweisbar über entsprechende schulische Testungen wie Hamburger Schreibprobe und Kermit).
Um eine außerunterrichtliche Lernhilfe zu erhalten, müssen Eltern einen Antrag stellen.
Die Schule ergänzt den Antrag und leitet ihn an das zuständige Regionale Bildungs- und Beratungszentrum weiter. Dieses nimmt, falls nötig, weitere Testungen vor.
Anschließend übersendet das Regionale Bildungs- und Beratungszentrum den Antrag an die Behörde für Schule und Berufsbildung zur Entscheidung.
Allerdings: Die Behörde für Schule und Berufsbildung ist nicht verpflichtet, außerschulische Fördermaßnahmen zu finanzieren.
Eine Kostenübernahme erfolgt nur im jeweils geprüften Einzelfall und regelhaft ohne Anerkennung einer Rechtspflicht.
Daher ist es gut, wenn Eltern bereits im Vorfeld mit den Lehrern ihres Kindes über den Antrag sprechen. Wenn alle informiert sind und sich gegenseitig unterstützen, hat ein Antrag bessere Chancen auf Erfolg.
Weitere Informationen zu außerunterrichtlichen Lernhilfen finden Sie hier .