Endstation Übergangsbereich

Eigentlich wollte unser behindertes Kind direkt nach der Schule mit einer betrieblichen Ausbildung beginnen. So wie seine nicht behinderten Freunde auch.

Dazu hat unser Kind über ein Jahr lang Praktika gemacht, in unterschiedlichen Einrichtungen und Betrieben.

Am Ende der Praktika gab es von allen Seiten nur gute Rückmeldungen.
Trotzdem hat unser Kind nach Abschluss der Schule mit keiner Ausbildung begonnen.

Hat sich unser Kind nicht ausreichend angestrengt? Hätten wir als Eltern mehr unterstützen müssen?

Das Bild zeigt das Ende eines Stumpfgleises, gesichert mit einem Prellbock. Im Hintergrund sieht man eine blühende Kastanie und Bahnanlagen.

Inzwischen weiß ich:

Es liegt nicht an unserem Kind oder an uns, dass es mit einem nahtlosen Wechsel von der Schule in die Ausbildung nicht geklappt hat. Es liegt an einer strukturellen Diskriminierung von jungen Menschen mit Behinderung.

Nur wenigen Jugendlichen mit Behinderung gelingt in Deutschland ein nahtloser Wechsel von der Schule in eine betriebliche Ausbildung.

Etwas mehr schaffen den nahtlosen Wechsel in eine überbetriebliche Ausbildung.

Jugendliche mit einer geistigen oder psychischen Behinderung wechseln besonders häufig direkt nach der Schule in eine Werkstatt für behinderte Menschen.

Die meisten Jugendlichen mit Behinderung werden nach Schulende zunächst in Maßnahmen des sogenannten Übergangsbereich vermittelt.

In einem Kreisdiagramm werden die Werdegänge behinderter junger Menschen nach ihrem Schulabschluss im Jahr 2008 (bis 2015) vorgestellt.
Untersucht wurden 15.723 junge Rehabilitanden und Rehabilitandinnen der Agentur für Arbeit. (Quelle: Achatz, Juliane; Reims, Nancy; Sandner, Malte; Schels, Brigitte (2021): Benachteiligte Jugendliche tun sich beim Übergang von der Schule ins Erwerbsleben besonders schwer, In: IAB-Forum 18. August 2021, https://www.iab-forum.de/benachteiligte-jugendliche-tun-sich-beim-uebergang-von-der-schule-ins-erwerbsleben-besonders-schwer/


Der Übergangsbereich ist für Jugendliche gedacht, die nach dem Ende ihrer Schulzeit noch keinen Ausbildungsplatz gefunden haben.

Ziel des Übergangbereichs ist es, die Ausbildungschancen dieser Jugendlichen zu verbessern.

Eine Vielzahl regional sehr unterschiedlicher Programme und Maßnahmen sollen die Berufsorientierung stärken und eine erste berufliche Qualifizierung ermöglichen. Auch Schulabschlüsse können im Übergangsbereich nachgeholt werden.

Allerdings führen die Angebote des Übergangbereichs zu keinem Berufsabschluss. Auf eine spätere Ausbildung werden sie nicht angerechnet. 

Angelegt ist der Übergangsbereich als Notfallplan. Und damit als ein Plan B.

Ein Plan B, der nur dann in Kraft tritt, wenn es mit Plan A (dem nahtlosen Wechsel in eine Ausbildung) nicht geklappt hat.

Den meisten Jugendlichen ohne Behinderung gelingt in Deutschland tatsächlich ein nahtloser Wechsel von der Schule in eine Ausbildung. Für sie erübrigt sich damit der Übergangsbereich.

Rechts im Bild sieht man ein gelbes Richtungsschild. Darauf steht oben "Plan B" und unten rot durchgestrichen "Plan A" Darüber ein blauer Himmel und unten Gräser.

Anders sieht dies bei Jugendlichen mit Behinderung aus.

Für die meisten behinderten Jugendlichen ist der Übergangsbereich bereits Plan A und damit fester Bestandteil ihres Lebenslaufs.

Viele Lehrer und Berufsberater an den inklusiven Stadtteilschulen in Hamburg gehen einfach davon aus, dass behinderte Jugendliche nach Abschluss ihrer 10jährigen Schulzeit automatisch in ein sogenanntes Ausbildungsvorbereitungsjahr wechseln.

Auch bei unserem Kind war das so.

Den behinderten Jugendlichen und ihren Eltern wird gesagt:

Durch das Ausbildungsvorbereitungsjahr lässt sich das in Hamburg geltende 11. Pflichtschuljahr erfüllen. (Dass sich das 11. Pflichtschuljahr auch über den Besuch einer Berufsschule während des ersten Ausbildungsjahres erfüllen lässt, bleibt unerwähnt.)

Oft heißt es auch:

Jugendliche mit Behinderung sind nach dem Ende ihrer Schulzeit noch nicht reif für eine Ausbildung.

Beides hat zur Folge, dass sich behinderte Jugendliche während ihrer Schulzeit in der Regel erst gar nicht mit der Suche nach einem Ausbildungsplatz beschäftigen.

In der linken Bildhälfte sieht man sieben bunte Spielsteine, angeordnet in einem Kreis. In der rechten Bildhälfte stehen ein schwarzer und ein weißer Spielstein nebeneinander.

In der Agentur für Arbeit ist meist die sogenannte Reha-Abteilung für Menschen mit Behinderung zuständig.

In Hamburg beginnen die Berufsberater der Reha-Abteilung ihre Vermittlungstätigkeit generell erst am Ende der 11jährigen Pflicht-Schulzeit.

Damit wird das Ausbildungsvorbereitungsjahr im Anschluss an die 10jährige Schulzeit für inklusiv beschulte behinderte Jugendliche zum Pflichtjahr.

Und es geht noch weiter.

Am Ende des Ausbildungsvorbereitungsjahres empfehlen Hamburgs Reha-Berater oftmals die Teilnahme an einer weiteren berufsvorbereitenden Bildungsmaßnahme.

Das heißt: Behinderte Jugendliche sollen möglichst ein weiteres Jahr im Übergangsbereich verbleiben. Um weiterhin bestehende „Defizite“ auszugleichen.

Nur so lasse sich die Chance auf den erfolgreichen Abschluss einer anschließenden Ausbildung vergrößern.

Allerdings zeigt die Praxis: Genau das Gegenteil ist der Fall!

Je länger ein behinderter Jugendlicher im Übergangsbereich verbleibt, umso schlechter werden seine Chancen auf eine erfolgreiche Ausbildung und eine anschließende Beschäftigung auf dem 1. Arbeitsmarkt.

Viele sagen daher:

Der Übergangsbereich ist wie eine Black Box. Wer einmal im Übergangsbereich ist, dem gelingt kaum noch der Sprung in Ausbildung und Beschäftigung.

In der Mitte des Bildes steht "Human Rights". Darum herum sind viele bunte Handflächen einschließlich Handgelenken bzw. Unterarmen gezeichnet.

Das Deutsche Institut für Menschenrechte sagt:

Der Übergangsbereich ist ein Sondersystem, das gegen die UN-Behindertenrechtskonvention verstößt.

Einzige Aufgabe dieses Sondersystems ist es, ausschließlich defizitär definierte Gruppen von Jugendlichen aufzufangen, denen ein nahtloser Wechsel von Schule in Ausbildung verwehrt wird.

Durch das dauerhafte Bereitstellen dieses Sondersystems müssen sich bestehende Exklusionsmechanismen des Arbeitsmarkts nicht ändern. Inklusion wird verhindert.

Inklusive Ausbildung – verzweifelt gesucht

Vor 10 Jahren wurde in Hamburg die schulische Inklusion eingeführt.

Nun – 10 Jahre später – verlassen die ersten inklusiv beschulten Jugendlichen mit Behinderung die Regelschulen.

Wie geht es für sie weiter? Wie sieht ihre berufliche Zukunft aus? Welche Berufe wollen und können sie ergreifen? Wer hilft ihnen bei Berufswahl und Ausbildung?

Füße in roten Turnschuhen stehen auf einem roten Skateboard

Die UN-Behindertenrechtskonvention benennt klar und deutlich, wie inklusive Arbeit und Berufsbildung aussehen sollen:

  • Alle Menschen haben das Recht auf frei gewählte und gerecht bezahlte Arbeit, damit sie ihren Lebensunterhalt selbst verdienen können.
  • Um dieses Recht zu verwirklichen, müssen Arbeitsmarkt und Arbeitsumfeld inklusiv gestaltet und auch für Menschen mit Behinderung zugänglich sein.
  • Entscheidend für den späteren Berufsweg eines Menschen sind schulische und berufliche Bildung.
  • An ein inklusives Schulwesen muss sich ein inklusives Ausbildungswesen anschließen.
  • Berufsorientierung und Berufsvorbereitung sind inklusiv zu gestalten.
  • Menschen mit und ohne Behinderung sollen gemeinsam in Betrieben oder Schulen/Hochschulen ausgebildet werden.
  • Alle anerkannten Berufe sollen auch für Menschen mit Behinderung zugänglich sein. Wo nötig, müssen unterstützende individuelle Vorkehrungen getroffen werden.
  • Sonderausbildungen für Menschen mit Behinderung müssen abgeschafft werden.
  • Anstatt auf Gleichbehandlungsgebote und gleiche Leistungsanforderungen zu drängen, sollen Kreativität und Vielfalt gestärkt werden.

Ausgehend von diesen Punkten frage ich:

Wie inklusiv ist die berufliche Bildung in Hamburg inzwischen aufgestellt?

Das Bild zeigt einen jungen Mann in buntem Hoody. Er steht vor einem Geländer aus Metall, das über und über mit Liebesschlössern behängt ist. Im Hintergrund sieht man eine Stahlbrückenkonstruktion.

Im Juli hat unser behindertes Kind die Stadtteilschule ohne Abschluss beendet.

Eigentlich wollte es im Anschluss mit einer betrieblichen Ausbildung starten – so wie seine besten (nicht-behinderten) Freunde auch.

Doch während diese die Ausbildung längst begonnen haben, wartet unser Kind weiterhin auf eine klare, verlässliche Ausbildungsperspektive.

Dabei hat unser Kind ein Ausbildungsangebot – von einer Firma, in der es Praktikum gemacht hat und in der es seit drei Monaten erfolgreich jobbt.

Die Firma ist so zufrieden mit der Arbeit unseres Kindes, dass sie ihm die Möglichkeit zur Qualifizierung bieten möchte.

Die Firma weiß: Aufgrund seiner Behinderung schafft unser Kind keine reguläre Vollausbildung. Aber sie ist offen für alternative, inklusive Ausbildungswege.

Auf dem Bild sieht man zwei blaue Richtungsschilder an einem Schildermast. Das obere Schild weist nach links und trägt die Aufschrift "PROBLEM". Das untere Schild weist nach rechts. Darauf steht "SOLUTION". Im Hintergrund sieht man einen blauen Himmel mit weißen Wolken.

Das Problem: Auch 13 Jahre nach Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention fehlen in Deutschland Vorgaben und Beispiele für eine inklusive Berufsausbildung.

Das Berufsbildungsgesetz (BBiG) legt fest, dass Menschen mit Behinderung vorrangig in einem anerkannten Ausbildungsberuf ausgebildet und die Verhältnisse behinderter Menschen berücksichtigt werden sollen (§ 65). Dies deckt sich mit den Forderungen der UN-Behindertenrechtskonvention.

Für Jugendliche, die aufgrund der Art und Schwere ihrer Behinderung keine reguläre Ausbildung schaffen, sieht das Berufsbildungsgesetz theoriereduzierte Fachpraktiker-Ausbildungen vor (§ 66). Bereits hier wird es problematisch.

Denn: Durch Fachpraktiker-Ausbildungen werden neue Sonderwelten für junge Menschen mit Behinderung geschaffen. Die Ausbildungen finden in speziellen Berufsschulen und überwiegend überbetrieblich statt. Der Beruf des Fachpraktikers ist ausschließlich für Menschen mit Behinderung gedacht und von Beginn an mit einer geringeren Entlohnung verbunden als bei regulären Berufen.

Hinzu kommt, dass Fachpraktiker-Ausbildungen zwar theoriereduziert, aber nicht individualisiert angelegt sind. Ausgehend von der Vorstellung, Leistungen vergleichbar machen zu müssen, setzen Fachpraktiker-Ausbildungen ein festgelegtes Maß an Wissen und Fähigkeiten voraus. Das heißt: Ein junger Mensch mit Behinderung muss sich an die Leistungsanforderungen der Ausbildung anpassen. Die Anpassung der Ausbildung an die individuellen Fähigkeiten und Bedürfnisse eines behinderten Menschen ist nicht möglich. Dadurch werden viele junge Menschen mit Lernbehinderung oder geistiger Behinderung von Fachpraktiker-Ausbildungen ausgeschlossen.

Auf dem Bild sieht man viele bunte und unterschiedlich geformte Bauklötze. Der überwiegende Teil ist bereits zu einem Rechteck zusammengesetzt.

Für junge Menschen, die aufgrund ihrer Behinderung weder eine Vollausbildung noch eine Fachpraktiker-Ausbildung schaffen, bietet das Berufsbildungsgesetz die Möglichkeit, Qualifizierungsbausteine zu erwerben (§ 69).

Aufgabe von Qualifizierungsbausteinen ist es, „Grundlagen für den Erwerb beruflicher Handlungsfähigkeit“ zu vermitteln. Übersetzt heißt dies: Qualifizierungsbausteine sollen junge Menschen mit Beeinträchtigungen soweit fit machen, dass sie im Anschluss doch noch eine Ausbildung schaffen.

Der Erwerb von Qualifizierungsbausteinen ist auf berufliche Ausbildungsvorbereitungs-Maßnahmen begrenzt. Diese finden ausschließlich überbetrieblich in Sondereinrichtungen wie Werkstätten für behinderte Menschen statt. Erworbene Qualifikationen lassen sich nicht auf eine anschließende Ausbildung anrechnen.

Auch Qualifizierungsbausteine sind an einen festgelegten Leistungskatalog geknüpft. Wenn ein junger Mensch mit Behinderung nicht alle Anforderungen eines Qualifizierungsbausteins erfüllt, bleibt er auch hier bei der Qualifizierung außen vor.

Erschwerend kommt hinzu: Es ist äußerst aufwendig, normierte Vorgaben für Fachpraktiker-Ausbildungen und Qualifizierungsbausteine zu erstellen. Daher gibt es bisher nur eine sehr begrenzte Zahl an Berufen, in denen Fachpraktiker-Ausbildungen oder der Erwerb von Qualifizierungsbausteinen möglich sind. In Hamburg werden derzeit nur 5 (!) Fachpraktiker-Ausbildungen angeboten. Während nicht-behinderte junge Menschen zwischen vielen unterschiedlichen Berufen wählen können, ist behinderten Menschen eine echte Berufswahl somit nicht möglich.

Was bedeutet das für unser Kind mit Behinderung?

Zwar hat ein Betrieb unserem Kind eine Ausbildung in seinem Wunsch-Beruf angeboten. Trotzdem kann es diese Chance nicht nutzen, da es für diesen Beruf keine Fachpraktiker-Ausbildung gibt.

Selbst wenn es eine Fachpraktiker-Ausbildung für diesen Beruf gäbe, wäre es nicht sicher, ob unser Kind die dafür festgelegten theoretischen Anforderungen erfüllen könnte.

Qualifizierungsbausteine gibt es für den Wunsch-Beruf unseres Kindes ebenfalls nicht.

Es ist also völlig egal, wie gut sich unser Kind in der praktischen Arbeit vor Ort in seinem Wunsch-Beruf macht. So wie es zur Zeit aussieht, hat es nur eine einzige Perspektive: die Arbeit als Ungelernter in seinem Wunsch-Beruf.

Gleich zu Anfang seines Berufslebens erfahren zu müssen, dass man aufgrund seiner Behinderung keine Chance auf eine Berufsausbildung hat, ist hart und diskriminierend. Es verhindert eine gleichberechtigte soziale Teilhabe und verstößt gegen das Menschenrecht auf frei gewählte und gerecht bezahlte Arbeit.

Eine Zeichnung: In der Mitte steht in weißen Großbuchstaben "HUMAN RIGHTS" Der Schriftzug wird von vielen bunten Händen mit Unterarmen eingerahmt.

Das Deutsche Institut für Menschenrechte hat 2020 in seinem 5. Bericht zur Entwicklung der Menschenrechtssituation in Deutschland klargestellt:

  • Fachpraktiker-Ausbildungen sind exklusiv und stigmatisierend.
  • Durch Fachpraktiker-Ausbildungen werden junge Menschen mit Behinderung anders behandelt als junge Menschen ohne Behinderung. Ihre Leistungen werden als nicht ausreichend betrachtet. Ihre Ausbildung findet getrennt von der ihrer Altersgenossen statt.
  • Fachpraktiker-Ausbildungen schaffen neue Sonderwelten und verhindern, dass junge Menschen mit Behinderung einen Zugang zum ersten Arbeitsmarkt erhalten.

Dies lässt sich 1:1 auf eine Ausbildung über Qualifizierungsbausteine übertragen.

Warum wir den „Tag des alkoholgeschädigten Kindes“ dringend umbenennen sollten

Immer am 9. September wird weltweit auf die Fetale Alkoholspektrumstörung (FASD) aufmerksam gemacht – und zwar bereits seit 1999.

FASD ist eine lebenslange Behinderung. Sie entsteht, wenn das Gehirn eines Kindes bereits vor seiner Geburt durch die toxigenen Bestandteile von Alkohol dauerhaft verändert wird.

In englischsprachigen Ländern wird der 9. September als FASD Awareness Day bezeichnet. Oder auch schlicht als FASD DAY. Übersetzt heißt das „FASD Bewußtseins-Tag“ oder einfach „FASD Tag“.

Links im BIld sieht man ein Paar rote Turnschuhe. Rechts daneben steht: "September 9th International Fetal Alcohol Spectrum Disorder Awareness Day".

In Deutschland heißt der 9. September „Tag des alkoholgeschädigten Kindes“. Und genau das sollten wir schleunigst ändern!

Denn: Bezeichnungen sagen viel über Haltungen, die sich dahinter verbergen.

Unser Kind hat FASD. Wenn wir unserem Kind sagen würden: Du bist alkoholgeschädigt, würde es garantiert wütend protestieren:

„Ich bin doch kein Alkoholiker!“

„Ich bin doch nicht kaputt!“

„Ich habe doch keinen Schaden! Und erst recht keinen Dachschaden!“

Auch ich sehe unser Kind nicht als Menschen, dem ein Schaden zugefügt wurde.

Schaden – das bedeutet Beeinträchtigung, Benachteiligung, Störung, Beschädigung, Defekt, Fehler, Mangel, Gebrechen oder Leiden.

Hat etwas einen Schaden, heißt dies fast immer, es hat weniger Wert.

Überdies wird der Mensch, dem der Schaden zugefügt wurde, auf die Rolle eines Opfers reduziert.

Unser Kind ist weder beschädigt, kaputt, gebrechlich oder mangelhaft. Auch ist es kein „armes Opfer“. Und vor allem ist es eins nicht: weniger wert!

Unser Kind hat eine angeborene Behinderung. Durch den Kontakt mit Alkohol hat sich sein Gehirn im Mutterleib anders verdrahtet und verschaltet als üblich. Dadurch tickt es anders. Das macht manche Dinge kompliziert, sowohl für unser Kind wie auch seine Umwelt.

Trotzdem ist unser Kind ein wunderbarer, selbstbestimmter Mensch. Ein Mensch mit Stärken und Schwächen. So wie jeder und jede von uns.

Das Bild zeigt Teile eines schwer beschädigten Autos.

Es gibt noch einen zweiten Grund, warum wir den „Tag des alkoholgeschädigten Kindes“ dringend umbenennen sollten.

Dort, wo es einen Geschädigten gibt, gibt es meist auch jemanden, der den Schaden verursacht hat. Der – absichtlich oder unabsichtlich – Schuld an dem Schaden hat. Das wäre bei einem Kind mit FASD seine leibliche Mutter, die während der Schwangerschaft Alkohol getrunken hat.

Allerdings ist solch eine Sichtweise wenig hilfreich für den Umgang mit FASD.

Keine schwangere Frau trinkt mit der Absicht, ihrem ungeborenen Kind bewusst zu schaden.

Schwangere Frauen trinken

  • weil sie sich amüsieren wollen und noch nicht wissen, dass sie schwanger sind.
  • weil ihnen immer noch Menschen sagen: „Ein oder zwei Schlückchen in der Schwangerschaft schaden doch nicht.“
  • weil sie gefangen sind in Drogen- oder Alkoholsucht.
  • weil sie andere schwerwiegende Probleme haben und dringend Unterstützung bräuchten.

Verurteilen wir leibliche Mütter von Kindern mit FASD, führt dies nur dazu, dass sie den Konsum von Alkohol in der Schwangerschaft verschweigen. Dadurch wird den betroffenen Kindern der Zugang zu Diagnose und notwendiger Unterstützung erheblich erschwert.

Piktogramm mit einer rot durchgestrichenen schwarzen Flasche mit einem Weinglas davor als Symbol für das Verbot von Alkohol

Um FASD zu verhindern und Menschen mit FASD zu unterstützen, hilft keine Stigmatisierung von Müttern. Entscheidend ist es,

  • das Bewusstsein für die Gefahren von Alkohol während einer Schwangerschaft immer wieder zu schärfen.
  • schwangere Frauen so zu unterstützen und stärken, dass sie während der Schwangerschaft auf Alkohol verzichten können.
  • leiblichen Müttern vorurteilsfrei zu begegnen und ihnen zusammen mit ihren betroffenen Kindern einen schnellen Zugang zum Hilfesystem zu ermöglichen.

Von daher schlage ich vor:

Lasst uns den 9. September einfach FASD-Tag nennen!

Zwölf unterschiedliche linke Schuhe (Turnschuhe, Sandalen, Pumps und Badelatschen) in den Farben grün, blau, rot, orange, gelb und lila stehen im Kreis angeordnet auf einem Kiesbett.

An was denken Sie bei der Bezeichnung „alkoholgeschädigtes Kind“?

Die bewegte Suche nach einem Ausbildungsplatz

Für unser großes Kind war immer klar: Gleich nach der Schule möchte es mit einer Ausbildung beginnen. Endlich arbeiten, endlich eigenes Geld verdienen.

Für unser großes Kind und mich war auch klar: Das mit einer Ausbildung wird nicht einfach werden. Denn unser Kind hat eine Fetale Alkoholspektrumstörung, bekannt als FASD. Wegen dieser Behinderung hat unser Kind keinen Schulabschluss und wird mehr Unterstützung bei der Ausbildung benötigen als andere Jugendliche.

Damit es trotzdem mit einer Ausbildung klappt, hat unser Kind bereits in seinen letzten zwei Schuljahren angefangen, nach einer Ausbildungsmöglichkeit zu suchen.

Auf dem Bild sieht man Knöpfe und Schalter eines Mischpults.

Ursprünglich wollte unser Kind im Bereich Veranstaltungstechnik arbeiten. Doch nach einem Praktikum in einer Firma für Veranstaltungstechnik hieß es im Abschlussgespräch: Die theoretischen und technischen Hürden in der Ausbildung zur Fachkraft für Veranstaltungstechnik seien sehr hoch und mit der Lernbehinderung unseres Kindes wohl nicht zu schaffen.

Also hat sich unser Kind umorientiert.

Hat mit Ehrgeiz, Freude und Erfolg zahlreiche Praktika im Garten- und Landschaftsbau gemacht.

Hat rechtzeitig die Psychologischen Eignungsuntersuchung (PSU) bei der Agentur für Arbeit absolviert.

War zum Gespräch beim Fachberater in der inzwischen für unser Kind zuständigen Reha-Abteilung der Agentur für Arbeit.

Hatte schließlich die Zusage des Berufsbildungswerks auf eine begleitete betriebliche Ausbildung zum Werker im Garten- und Landschaftsbau in der Tasche.

Unser Kind war ganz schön stolz auf sich. Und ich auf unser Kind.

Auf dem Bild sieht man den nach oben gehaltenen Daumen eines jungen Menschen in buntem Sweat-Shirt.

Doch dann rief kurz vor Schulschluss und Sommerferien überraschend das Berufsbildungswerk an und erklärte: Die Lehrer an der Berufsschule glaubten nicht, dass unser Kind die theoriereduzierte Ausbildung zum Werker schaffe. Seine “Lernrückstände“ seien einfach zu groß.

Darum zog das Berufsbildungswerk seine Zusage auf eine begleitete Werker-Ausbildung im Garten- und Landschaftsbau wieder zurück. Stattdessen solle unser Kind zunächst ein Ausbildungsvorbereitungsjahr machen und fleißig an seinen Mathekenntnissen arbeiten. Dann könne es sich im nächsten Jahr nochmals beim Berufsbildungswerk bewerben.

Unser Kind und ich verstanden die Welt nicht mehr.

Eigentlich ist die Ausbildung zum Werker als Alternative für behinderte Menschen gedacht, die aufgrund der Art und Schwere ihrer Behinderung keine übliche Ausbildung schaffen.

Und nun sollte das für unser Kind nicht möglich sein, weil die behinderungsbedingten „Lernrückstände“ zu groß seien?

Auf dem Bild sieht man einen jungen Menschen, der am Schreibtisch vor einem offenen Laptop sitzt und den Kopf auf Tisch und Tastatur gelegt hat.

Nur zwei Tage später rief die Firma für Veranstaltungstechnik an, bei der unser Kind Praktikum gemacht hatte. Sie bräuchten dringend Leute. Und würden unser Kind gerne als Aushilfe einstellen.

Unser Kind war selig: Doch noch arbeiten und Geld verdienen!

Und: Mit einer bezahlten Aushilfstätigkeit in der Hand wurde die Perspektive eines unbezahlten Ausbildungsvorbereitungsjahres für unser Kind endlich aushaltbar.

(Nur ich hatte etwas Stress und musste innerhalb weniger Wochen ein Ausbildungsvorbereitungsjahr organisieren.)

Das Bild zeigt eine Weggabelung mit grün belaubten Büschen an den Seiten. Davor steht ein kleiner Junge in roter Sportjacke und blauen Jeans, der sich für einen der zwei Wege entscheiden muss.

In gut drei Wochen soll es nun losgehen mit dem Ausbildungsvorbereitungsjahr. Eigentlich. Denn seit wenigen Tagen ist wieder alles anders:

Unser Kind hat ein Ausbildungsplatz-Angebot!

Bei der Firma für Veranstaltungstechnik, in der es jobbt!

Wie es jetzt weitergeht? Noch haben wir keinen Plan. Die Agentur für Arbeit ist angeschrieben. Ein Beratungstermin bei der zuständigen Handelskammer ist in Arbeit.

Ich halte Sie und euch weiter auf dem Laufenden!

Schulische Förderung in Hamburg

Das Bild zeigt den Eingang einer Schule in Hamburg: Treppenstufen führen zu drei großen grünen Türen mit weißen Verzierungen.

In Hamburgs Schulen gibt es viele Arten von Förderung.

Sprachförderung, Lernförderung, sonderpädagogische Förderung, Begabtenförderung … Da verliert man leicht den Überblick.

Damit das nicht so schnell passiert, stelle ich Ihnen die 6 wichtigsten Fördermaßnahmen kurz vor.

Fördermaßnahme 1: Fördern statt Wiederholen

Schüler in Hamburg können nicht mehr sitzenbleiben.

Das heißt: Schlechte Schüler, die das Lernziel in (mindestens) einem Unterrichtsfach nicht erreichen, müssen kein Schuljahr mehr wiederholen.

Stattdessen erhalten sie eine kostenlose Lernförderung (§ 45 Hamburgisches Schulgesetz).

Die Lernförderung wird von jeder Schule in Eigenregie organisiert. Die meisten Schulen beauftragen externe Anbieter (Nachhilfeinstitute) oder Einzelpersonen (Studenten) für Nachhilfestunden nach Schulschluss. Die Kosten dafür trägt die Schulbehörde.

Die Zeugniskonferenz entscheidet darüber, welcher Schüler eine kostenlose Lernförderung erhält.

Das Bild zeigt ein großes, mit Fachbüchern gefüllltes Bücherregal in einer Bibliothek.

Fördermaßnahme 2: Kermit und Co.

Schüler in Hamburg werden regelmäßig getestet. So wird ermittelt, wie gut oder schlecht sie in einzelnen Fächern sind.

Die Testergebnisse helfen den Lehrern, ihren Unterricht noch besser auf den Lernstand ihrer Schüler auszurichten. Die Lernentwicklung von Schülern wird sichtbar gemacht.

Zwei bekannte Tests sind die Hamburger Schreibprobe (HSP) und der KERMIT-Test.

Mit der Hamburger Schreibprobe wird jährlich die Rechtschreibleistung aller Schüler geprüft.

Unter dem Motto „Kompetenzen ermitteln“ (KERMIT) schreiben Hamburger Schüler in Klasse 2, 3, 5, 7, 8 und 9 jeweils im Frühjahr Tests in allen Kernfächern.

Das Bild zeigt eine eingeklappte Schultafel aus Kreide. Auf der linken Tafelhälfte steht groß "Test".

Fördermaßnahme 3: Sonderpädagogische Förderung

Seit Oktober 2009 haben Kinder und Jugendliche mit sonderpädagogischem Förderbedarf das Recht, allgemeine Schulen zu besuchen ( § 12 Hamburgisches Schulgesetz). Dort werden sie gemeinsam mit Schülern ohne sonderpädagogischen Förderbedarf unterrichtet und besonders gefördert.

Was bedeutet sonderpädagogischer Förderbedarf?

Sonderpädagogischer Förderbedarf liegt vor, wenn Schüler in ihren individuellen Bildungs-, Entwicklungs- und Lernmöglichkeiten so weitreichend beeinträchtigt sind, dass sie ohne gezielte sonderpädagogische Förderung und Unterstützung ihre Möglichkeiten nicht erfolgreich entfalten können.

Sonderpädagogischen Förderbedarf gibt es in folgenden Bereichen:

  • Lernen,
  • Sprache,
  • Emotionale und soziale Entwicklung,
  • Körperliche und motorische Entwicklung,
  • Geistige Entwicklung,
  • Hören (Gehörlosigkeit und Schwerhörigkeit),
  • Sehen (Blindheit und Sehbehinderung),
  • Autismus
  • und in besonderen Ausnahmefällen im Förderschwerpunkt Pädagogik bei Krankheit.
Auf einer Kreidetafel sind mit bunter Kreide 9 Männchen gemalt, die sich an den Händen fassen. Darüber steht in weißer Kreide "Together".

Um zu prüfen, ob ein sonderpädagogischer Förderbedarf vorliegt, stellen die Eltern oder die Schule einen Antrag.

Zwei unterschiedliche Verfahren klären, ob ein sonderpädagogischer Förderbedarf vorliegt:

  • Wird ein Förderschwerpunkt in den Bereichen Lernen, Sprache oder emotionale und soziale Entwicklung (LSE) vermutet, sind die Schule und das Regionale Bildungs- und Beratungszentrum für die Prüfung und Diagnostik zuständig.
  • Wird ein Förderschwerpunkt in den Bereichen Hören und Kommunikation, Sehen, Autismus, geistige Entwicklung oder körperliche und motorische Entwicklung (Spezielle Förderbedarfe!) vermutet, wird ein Gutachten zur Überprüfung und Feststellung ein sonderpädagogischen Förderbedarfs (gem. § 12 Abs. 3 AO-SF) erstellt. Das zuständige Regionale Bildungs- und Beratungszentrum koordiniert die Erstellung dieses Gutachtens. Dazu befragt es Lehrer, Eltern und gegebenenfalls Fachkräfte der speziellen Sonderschulen oder der überregionalen Bildungszentren für Hören und Kommunikation, für Blinde und Sehbehinderte oder für Pädagogik bei Krankheit/Autismus.

Umfang und Organisation der Förderung hängen davon ab, ob ein sonderpädagogischer Förderbedarf LSE oder ein spezieller Förderbedarf festgestellt wurde.

Weitere Informationen zur sonderpädagogischen Förderung finden Sie hier.

Das Bild zeigt verschiedene Unterrichtsmaterialien aus dem Bereich Deutsch als Fremdsprache.

Fördermaßnahme 4: Sprachförderung

Es gibt Schülerinnen und Schüler, deren Deutschkenntnisse nicht ausreichen, um erfolgreich am Unterricht teilnehmen zu können.

Diese Schüler müssen in Hamburg an einem zusätzlichem Sprachunterricht teilnehmen (§ 28a Hamburgisches Schulgesetz).

Der zusätzliche Sprachunterricht findet in der Regel entweder parallel zu offenen Lernangeboten im Ganztag oder als Teil eines Förderbandes statt.

Neu zugewanderte Kinder und Jugendliche besuchen zunächst für ein Jahr eine Internationale Vorbereitungsklasse (IVK). Anschließend wechseln sie in eine reguläre Klasse, in der sie ein Jahr lang weiter gefördert werden.

Eine Besonderheit in Hamburg ist die vorschulische Sprachförderung. Bei der sogenannten Viereinhalbjährigen-Untersuchung werden alle Kinder im Alter von 4 1/2 Jahren in der für sie zuständigen Grundschule genau geprüft. Wird ein Sprachförderbedarf festgestellt, wird das betroffene Kind mit 5 Jahren automatisch in die Vorschule aufgenommen und erhält hier eine zusätzliche Sprachförderung.

Bei dem Bild handelt es sich um eine Graphik, die den Anteil der Schülerinnen und Schüler mit und ohne Migrationshintergrund in Hamburg im Schuljahr 2020/21 zeigt. In den Vorschulklassen haben 60,3 Prozent der Kinder einen Migrationshintergrund. In den Grundschulen sind es 50,9 Prozent, in den Stadtteilschulen 58,7 Prozent, in den Gymnasien 42,0 Prozent und in den Sonderschulen 50,5 Prozent. Insgesamt haben 51,4 Prozent aller Schülerinnen und Schüler in Hamburg einen Migrationshintergrund. 
Die Graphik stammt aus der Hamburger Schuljahresstatistik 2020.
Anteile der Schülerinnen und Schüler mit und ohne Migrationshintergrund im
Schuljahr 2020/21

(Quelle: Hamburger Schuljahresstatistik 2020)

Fördermaßnahme 5: Begabtenförderung

Das Hamburgische Schulgesetz sieht vor, dass Schülerinnen und Schüler „in ihren
individuellen Fähigkeiten und Begabungen, Interessen und Neigungen gestärkt und bis
zur vollen Entfaltung ihrer Leistungsfähigkeit gefördert und gefordert werden“ sollen (§ 3 Hamburgisches Schulgesetz).

Daher werden auch besonders begabte und hochbegabte Schülerinnen und Schüler speziell gefördert.

Ein Aktionsprogramm zur Begabtenförderung fordert jede Schule auf, ein
schulspezifisches Konzept zur Begabtenförderung zu entwickeln.

Die Beratungsstelle besondere Begabungen (BbB) berät und unterstützt Schulen, Lehrkräfte, Eltern sowie Schülerinnen und Schüler bei Fragen der Förderung von besonders begabten und hochbegabten Kindern und Jugendlichen.

Fördermaßnahme 6: Außerunterrichtliche Lernhilfen

Schon einmal etwas von AUL gehört?

AUL steht für Außerunterrichtliche Lernhilfen.

Außerunterrichtliche Lernhilfen erhalten Kinder mit besonderen Schwierigkeiten im Lesen und/oder Rechtschreiben (Lese-Rechtschreibschwäche) oder im Rechnen (Rechenschwäche/Dyskalkulie).

Die Förderung findet in Form einer Lerntherapie statt.

Ein von der Schulbehörde anerkannter Lerntherapeut führt die Lerntherapie durch.

Die Lerntherapie kann innerhalb wie außerhalb der Schule stattfinden, in kleinen Gruppen oder als Einzelförderung.

An einer schwarzen Magnettafel hängen viele verschiedene bunte Buchstaben. Links sieht man geordnet die Buchstaben a,b,c. Rechts sieht man viele verschiedene Buchstaben wild durcheinander.

Ein Kind hat Anspruch auf eine außerunterrichtliche Lernhilfe, wenn es

  • die erste bis sechste Klasse besucht,
  • seinen Hauptwohnsitz in Hamburg hat,
  • Deutsch als Muttersprache spricht,
  • keinen sonderpädagogischen Förderbedarf hat,
  • nicht von einer seelischen Behinderung bedroht oder betroffen ist,
  • die Anforderungen seines Jahrgangs insgesamt erfüllt,
  • im Lesen und/oder Rechtschreiben allerdings für längere Zeit (mehr als sechs Monate) zu den Leistungsschwächsten in seinem Jahrgang zählt (nachweisbar über entsprechende schulische Testungen wie Hamburger Schreibprobe und Kermit).

Um eine außerunterrichtliche Lernhilfe zu erhalten, müssen Eltern einen Antrag stellen.

Die Schule ergänzt den Antrag und leitet ihn an das zuständige Regionale Bildungs- und Beratungszentrum weiter. Dieses nimmt, falls nötig, weitere Testungen vor.

Anschließend übersendet das Regionale Bildungs- und Beratungszentrum den Antrag an die Behörde für Schule und Berufsbildung zur Entscheidung.

Allerdings: Die Behörde für Schule und Berufsbildung ist nicht verpflichtet, außerschulische Fördermaßnahmen zu finanzieren.

Eine Kostenübernahme erfolgt nur im jeweils geprüften Einzelfall und regelhaft ohne Anerkennung einer Rechtspflicht.

Daher ist es gut, wenn Eltern bereits im Vorfeld mit den Lehrern ihres Kindes über den Antrag sprechen. Wenn alle informiert sind und sich gegenseitig unterstützen, hat ein Antrag bessere Chancen auf Erfolg.

Weitere Informationen zu außerunterrichtlichen Lernhilfen finden Sie hier .

Das Bild zeigt einen Fuß in roten Turnschuhen, der auf einem im Wasser liegenden Stein steht.

Das Thema Schulbegleitung – Frust und Wut von Eltern nehmen zu

Neulich in der Pflegeelterngruppe:

Eine Mutter erzählt von der fehlenden Schulbegleitung für ihr Kind.

Sofort wird es lauter in der Gruppe:

„Das Problem haben wir auch!“

„Wenn die Schulbegleitung nicht da ist, schickt die Schule unser Kind sofort nach Hause! Das geht doch nicht!“

„Wenn es eine Schulbegleitung gibt, dann ist das meist nur ein junger Mensch im freiwilligen sozialen Jahr. Also völlig unqualifiziert für unsere Kinder!“

„Warum wird nicht mit professionellen Kräften gearbeitet?“

„Die letzte junge Frau im freiwilligen sozialen Jahr hat genau acht Wochen durchgehalten und dann frustriert und überfordert das Handtuch geworfen!“

Jungen und Mädchen im Grundschulalter sitzen an einem langen Holztisch und malen. Auf dem Tisch stehen drei Becher mit Buntstiften.

Beim Thema Schulbegleitung sind die Fronten inzwischen deutlich verhärtet:

Eltern, die verärgert sind, weil ihre Kinder nur dann beschult werden, wenn eine Schulbegleitung anwesend ist.

Eltern, die fachlich kompetente Schulbegleitungen für ihre Kinder fordern. In der Hoffnung, dass ihre Kinder so erfolgreich an Bildung teilhaben können.

Berater in der Schulbehörde, die betonen, dass Schulbegleitungen nicht auf Dauer angelegt sind. Die deshalb regelmäßig Schulbegleitungsstunden kürzen. Und die gerne anbringen: Das sind keine Aufgaben von Schulbegleitung.

Schulen, die stöhnen, sie fänden keine Schulbegleiter. Oder von Anfang an sagen: Schulbegleitung zu beantragen ist uns zu zeitaufwendig und bringt zu wenig.

Schulbegleiter, die sich zu wenig informiert und nicht einbezogen fühlen. Denen konkrete Aufgabenbeschreibungen fehlen. Die nur befristete Arbeitsverträge erhalten und in den Ferien nicht bezahlt werden. Die oft frustriert wieder aufgeben.

Hinzu kommt das Wissen, dass es in Zukunft immer weniger qualifizierte Fachkräfte für Schulbegleitungen geben wird.

Es wird dringend Zeit, Schulbegleitung neu aufzustellen!

Hamburg-Flagge an einem Fahnenmast. Im Hintergrund erkennt man Wasser.

In Hamburg hat die Behörde für Schule und Berufsbildung gerade eine Evaluation des jetzigen Verfahrens von Schulbegleitung in Auftrag gegeben. Unter dem Titel „Schulbegleitung in Hamburg“ wollen Erziehungswissenschaftler der Universität Oldenburg herausfinden:

1. Welche Schülerinnen und Schüler erhalten eine Schulbegleitung ? Wer sind ihre Schulbegleiter?

2. Welche Erwartungen gibt es an Schulbegleitung? Wie wird Schulbegleitung wahrgenommen?

3. Was läuft gut beim jetzigen Verfahren der Schulbegleitungen? Was läuft weniger gut? Wie lässt sich Schulbegleitung insgesamt für alle verbessern?

Eine Untersuchungsmethode wird sein, verschiedene Gruppen von Personen zu befragen, die mit Schulbegleitung zu tun haben. Das sind:

  • in den Schulen: Schulleitungen, Förderkoordinatoren, Klassenlehrer und Sonderpädagogen.
  • in den Regionalen Bildungs- und Beratungszentren sowie der Fachabteilung Schulbegleitung: Koordinatoren, Fallzuständige, Gesamtleitungen, Beratungslehrkräfte.
  • die Leistungserbringer von Schulbegleitung: Träger und Schulbegleitungskräfte.
  • die Sorgeberechtigten von Schülerinnen und Schülern.
Auf dem Bild sieht man die Rückseite eines Kindes mit langen Haaren und  rotem Helm. Das Kind hängt mit einem Klettergurt an einem Seil an einer Felswand.

Als Mutter eines Kindes mit Behinderung fällt mir sofort auf:

In der Liste der zu befragenden Menschen fehlen die Schülerinnen und Schüler, die Schulbegleitung erhalten. Kein „Mit uns über uns“. Sondern weiterhin „Über die Köpfe von behinderten Schülerinnen und Schülern hinweg“.

Dabei ist unser Kind inzwischen Experte in Sachen Schulbegleitung. Immerhin hatte es acht Jahre lang eine Schulbegleitung an seiner Seite!

Unser Kind kann ganz genau benennen, was ihm bei einer Schulbegleitung wichtig ist.

Und das ist in erster Linie nicht die Qualifikation der Schulbegleitung.

Viel wichtiger für unser Kind ist: Es muss spüren, dass sich die Schulbegleitung einlässt und zu einer Bindung bereit ist. Dass sie unser Kind ein Stück an ihrem Leben teilhaben lässt. Das muss gar nicht viel sein. Es kann bereits reichen:

  • das Auto der Schulbegleitung zu kennen,
  • zu wissen, ob die Schulbegleitung einen Freund oder eine Freundin hat,
  • zu erfahren, welche Musik die Schulbegleitung mag oder welches Hobby sie hat.

Das mag sich banal anhören, ist aber für ein Kind mit Bindungsstörung enorm wichtig. Nur so kann es sich sicher fühlen und seinerseits Bindung wagen.

Bildungsforscher wissen inzwischen: Erst wenn Bindung und Vertrauen da sind, ist erfolgreiches Lernen überhaupt möglich.

Das Bild zeigt zwei rechteckige gelbe Luftballons. Auf dem oberen Teil der Ballons steht in schwarz Schrift "Schule", darunter "Kindergarten". "Kindergarten" ist rot durchgestrichen.

Auch ich als Mutter kann inzwischen so einiges zum Thema Schulbegleitung sagen.

Eine meiner Erfahrungen ist:

Schulbegleitung durch junge Menschen im freiwilligen sozialen Jahr kann durchaus funktionieren. Wenn Vorbereitung und Rahmenbedingungen stimmen.

Unser Kind wurde in den ersten drei Grundschuljahren sehr erfolgreich durch engagierte junge Menschen im freiwilligen sozialen Jahr unterstützt.

Angestellt waren sie bei einem erfahrenen Träger, der genau darauf achtete, wer am besten zu welchem Kind passte. Anschließend bereitete der Träger die jungen Menschen zwei Wochen lang auf ihre Tätigkeit als Schulbegleiter vor. Während ihres Einsatzes als Schulbegleiter gab es regelmäßige Schulungswochen.

Außerdem hat die Klassenlehrerin unseres Kindes sehr eng mit der Schulbegleitung zusammen gearbeitet. Auch wir als Eltern waren mit an Bord und standen in regelmäßigem Austausch mit Klassenlehrerin und Schulbegleitung.

Und: Obwohl die Finanzierung noch nicht gesichert war, trat die Schulbegleitung mit der Einschulungsfeier ihren Dienst an. Möglich gemacht hat es der Träger, der von Anfang an von der Sinnhaftigkeit der Schulbegleitung überzeugt war. Sechs Wochen lang schoss er das Geld für die Schulbegleitung vor. Erst dann erhielten wir die Bewilligung durch die Schulbehörde.

So wurde der Schulstart für unser Kind zum Erfolg – und die Schulbegleitung zu einer Selbstverständlichkeit für alle in der Klasse.

Wer in Hamburg schon einmal mit Schulbegleitung zu tun hatte, der weiß: Dies alles ist bis heute bei Schulbegleitung nicht selbstverständlich.

Auf dem Bild sieht man Unterschenkel und Füße von zwei Menschen, die auf hochgestapelten Stühlen sitzen. Die eine Person trägt eine schwarze, die andere eine blaue Jeans. Beide haben rote Turnschuhe an.

Für eine erfolgreiche Evaluation von Schulbegleitung müssen alle an Schulbegleitung Beteiligten gleichberechtigt gehört werden. Dies schließt sowohl die begleiteten Schülerinnen und Schüler wie auch deren Eltern und Sorgeberechtigten mit ein.

Das Ergebnis einer solchen Evaluation liefert die Grundlage, auf der eine Neuaufstellung von Schulbegleitung konstruktiv diskutiert werden kann.

Auch für diese Diskussion gilt: Es müssen alle an Schulbegleitung Beteiligten gleichberechtigt mit einbezogen werden. So funktioniert Teilhabe.

Gut zu kennen: die Ombudsstelle Inklusive Bildung

Eltern behinderter Kinder können ein Lied davon singen: Inklusive Bildung ist noch lange kein Selbstläufer. Anträge stellen, Gutachten einholen, sich immer wieder erklären, in Widerspruch gehen …

Gut ist es, wenn Eltern bei all dem Rat und Hilfe haben, zum Beispiel durch die Ombudsstelle Inklusive Bildung.

Auf dem Bild sieht man bunte Kieselsteine.

Seit 2012 gibt es in Hamburg die Ombudsstelle Inklusive Bildung. Sie ist angesiedelt am Schulinformationszentrum (SIZ) in der Hamburger Straße 125a.

In der Ombudsstelle arbeiten aktuell vier Ombudsfrauen und ein Ombudsmann, nämlich Petra Demmin, Karin Limmer, Renate Wiegandt, Birgit Zeidler und Andreas Heintze.

Sie sind ehemalige Lehrerinnen und Lehrer und haben in verantwortungsvollen Funktionen in der Schule und in der Schulbehörde gearbeitet.

Jetzt sind sie im Ruhestand und ehrenamtlich für die Ombudsstelle tätig.

Die Ombudsstelle inklusive Bildung hat folgende Aufgaben:

  • Sie hilft und unterstützt bei Fragen zur pädagogischen und sonderpädagogischen Förderung.

  • Sie berät Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf und deren Eltern oder Sorgeberechtigten.

  • Sie unterstützt Eltern und Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf bei Konflikten und schulischen Widerspruchsverfahren.

Als Mutter eines schulpflichtigen Kindes mit FASD habe ich regelmäßig mit der Ombudsstelle zu tun.

Das Bild zeigt einen Fuß in einem roten Turnschuh.

Was ich an den Frauen und Männern der Ombudsstelle besonders schätze:

  • Für sie steht das Wohl von Kindern und Jugendlichen im Vordergrund.
  • Für sie bleiben Kinder und Jugendliche keine bloßen Namen. Sie gehen vor Ort in die Schulen und machen sich selbst ein Bild.
  • Die Frauen und Männer der Ombudsstelle verfügen über langjährige Erfahrung in Sachen schulischer Inklusion und sind sehr gut vernetzt.
  • Die Ombudsleute können Eltern und Sorgeberechtigte bei Gesprächen mit Lehrkräften, Förderkoordinatoren, Schulleitungen und Beratern aus der Schulbehörde unterstützen.
  • Und: Die Ombudsleute reagieren schnell, oft sogar innerhalb eines Tages.
Auf dem Bild sieht man eine kleine Stein-Pyramide auf einem Steinstrand. Im Hintergrund schimmert blaues Wasser.

Die Ombudsleute können nicht alles. Sie dürfen beraten und vermitteln. Abschließende Entscheidungen treffen dürfen sie nicht.

Dafür tun sie etwas anderes: Sie führen über ihre Tätigkeit genau Buch.

Jedes Jahr schreiben sie einen Arbeitsbericht über

  • die Anzahl der durchgeführten Beratungen,
  • die Themenschwerpunkte der Beratungen,
  • den zeitliche Umfang der Beratungen,
  • stattgefundene Kontakte und Gespräche mit Vertretern der Schulbehörde und anderen Institutionen und Organisationen.

Dabei zeigt sich den Ombudsleuten immer wieder, dass die persönlichen Einzelfälle in der Beratung auf größere strukturelle Probleme in der schulischen Inklusion aufmerksam machen.

Diese Problemlagen fassen die Ombudsleute in ihren Arbeitsberichten zusammen und besprechen sie mit dem Schulsenator, dem Staatsrat und dem Landesschulrat.

Sie erreichen die Ombudsstelle telefonisch unter der Nummer 040 42863-2733 oder
per email an
ombudsstelleinklusion@bsb.hamburg.de.

Auch in den Ferien können Sie die Ombudsstelle erreichen.

Schon gehört?

Im September 2021 hat sich das Amt für Bildung innerhalb der Behörde für Schule und Berufsbildung (BSB) umstrukturiert.

Ganz still und leise und ohne viel Kommunikation nach außen.

Selbst der wöchentliche Newsletter der BSB hat nicht darüber berichtet.

Auf dem Bild sieht man den Eingang einer Schule in Hamburg mit großen grünen Türen und roten Backsteinmauern.

Was hat sich verändert?

Im Amt für Bildung gibt es jetzt eine eigene Abteilung „Inklusive Bildung“ (B4), die direkt dem Landesschulleiter unterstellt ist.

Innerhalb der Abteilung „Inklusive Bildung“ gibt es drei Unterabteilungen:

  • Grundsatz und Qualitätsentwicklung inklusive Bildung, Schulbegleitung, pädagogisch-therapeutisches Fachpersonal (B 41),
  • Aufsicht und Fachaufsicht spezielle Sonderschulen, ReBBZ und BBZ (B 42),
  • Gewaltprävention (B 43).

Kopie des aktuellen Organigramms des Amtes für Bildung der BSB Hamburg, Stand September 2021
Organigramm BSB – Amt für Bildung (Stand September 2021)

Wie war es vorher?

Vorher unterstanden die speziellen Sonderschulen der „Schul- und Fachaufsicht allgemeinbildende Schulen“. So wie alle anderen Schulen in der Stadt.

„Inklusion und Sonderpädagogik“ war eine Unterabteilung der Abteilung „Gestaltung, Unterrichtsentwicklung, Grundsatz und Internationales“ (B 3), ebenso die „Gewaltprävention“.


Kopie des vorherigen Organigramms des Amtes für Bildung der BSB Hamburg, Stand Oktober 2019
Organigramm BSB – Amt für Bildung (Stand Oktober 2019)

Dann ist die inklusive Bildung durch die Umstrukturierung also aufgewertet und gestärkt worden?

Auf den ersten Blick mag dies so scheinen: „Inklusive Bildung“ als Top 4 unter den direkt der Amtsleitung unterstellten Fachabteilungen.

Allerdings:

Zuständig ist die neue Abteilung „Inklusive Bildung“ ausschließlich für Schülerinnen und Schüler mit diagnostiziertem sonderpädagogischen Förderbedarf. Also für Schülerinnen und Schüler mit Behinderung oder starken Verhaltensauffälligkeiten.

Damit bleibt inklusive Bildung weiterhin genau auf diejenigen Schülerinnen und Schüler reduziert, die doch eigentlich inkludiert werden sollen.

Für sie wird eine eigene Fachaufsicht geschaffen, werden eigene Unterrichtsinhalte und -konzepte diskutiert.

So werden Sonderstrukturen ausgebaut und gefestigt, nicht abgebaut.

Das ist genau das Gegenteil von Inklusion.

Auf der linken Seite des Bildes sieht man eine Gruppe roter Mensch-Ärger-Dich-Nicht-Figuren eng nebeneinander stehend. Auf der rechten Bildseite steht eine einzelne schwarze Spielfigur, mit deutlichem Abstand zu den andern.

Inklusive Bildung geht alle an, schließt alle ein.

Inklusive Bildung besteht vor allem darin, keine Schubladen aufzumachen:

dort die Schülerinnen und Schüler mit Behinderung und dort die ohne.

Inklusive Bildung heißt gemeinsamer Unterricht in einer Schule für alle.

In der jedes Kind die Chance erhält auf eine bestmögliche Bildung, ausgerichtet an seinen Bedürfnissen und Fähigkeiten.

Das Bild zeigt viele bunte Mensch-Ärger-Dich-Nicht-Figuren auf einem Holzbrett.

Wie aber lässt sich eine inklusive Schule für alle planen und entwickeln, wenn behinderte Schüler bei der Diskussion um Grundsätzliches, Unterrichtsentwicklung, zentrale Prüfungen, Steigerung von Bildungschancen, Bildungswettbewerbe, Ganztag und Qualität in der Berufsvorbereitung außen vor bleiben?

Die Behörde argumentiert, es gebe Schnittstellen zwischen den verschiedenen Abteilungen. Aber reicht das wirklich aus?

Ich erlebe immer wieder: Beim Thema Bildung und Unterricht werden Schülerinnen und Schüler mit Behinderung nach wie vor nicht mitgedacht, sind nicht selbstverständlich.

Die aktuelle Diskussion über „Lernrückstände“ zeigt dies deutlich.

Viel zu oft greift weiter die Schere im Kopf: „Normale“ Kinder, die leistungsfähig sind versus „behinderte“ Kinder, die nicht so können wie die anderen. Die eigene Schutzräume brauchen.

Die UN-Behindertenrechtskonvention ist beim Thema inklusive Bildung klar und deutlich:

Menschen mit Behinderungen sollen gleichberechtigt mit anderen in der Gemeinschaft, in der sie leben, Zugang zu einem integrativen, hochwertigen und unentgeltlichen Unterricht an Grundschulen und weiterführenden Schulen haben.

Daher fordert die UN-Behindertenrechtskonvention ein möglichst schnelles Ende von Sondersystemen.

Übrigens nicht nur im Bereich Bildung.

Eine eigene Abteilung „Inklusive Bildung“ in der Hamburger Schulbehörde, reduziert auf Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf, ist in meinen Augen ein klarer Rückschritt auf dem mühsamen Weg zur Inklusion.

Das Bild zeigt ein Paar Füße in roten Turnschuhen, die auf einer grünen Wiese stehen.

Chancengleichheit?

Unser Pflegekind wird langsam flügge.

Im Sommer beendet es die Schule und möchte eine Ausbildung im Garten- und Landschaftsbau beginnen.

Endlich eigenes Geld verdienen!

Das Bild zeigt einen Menschen mit Schutzausrüstung beim Arbeiten mit einem elektrischen Kantentrimmer.

Das Ausbildungs-Gehalt ist zwar nicht üppig – aber deutlich mehr als Taschengeld.

Allerdings:

Unser Kind wird wohl ein Viertel seines Ausbildungsgehalts abgeben müssen.

An das Jugendamt.

Um sich an den Kosten für seine Unterbringung in einer Pflegefamilie zu beteiligen.

Blick von oben auf ein Paar rote Turnschuhe im Sand.

Vielleicht muss unser Kind auch noch mehr Geld abgeben.

Denn: Unser Kind hat eine angeborene Behinderung.

Besonders beim Lernen braucht es zusätzliche Hilfe.

Daher wird es sehr wahrscheinlich eine unterstützte Ausbildung machen.

Gefördert durch die Rehabilitations-Abteilung der Bundesagentur für Arbeit.

In solchen Maßnahmen erhalten junge Menschen mit Behinderung kein Ausbildungsgehalt.

Sie erhalten ein sogenanntes Ausbildungs-Geld.

Das hört sich ähnlich an, ist aber ein Unterschied.

Denn: Ausbildungsgeld ist kein Einkommen.

Ausbildungsgeld ist eine sogenannte unterhaltssichernde Leistung.

Das heißt: Das Jugendamt darf Ausbildungsgeld fast vollständig einziehen.

Um seine Kosten für die gewährte Jugendhilfemaßnahme zu decken.

Für unser Kind bliebe dann nicht mehr viel übrig im Monat.

Das Bild zeigt ein rosa Sparschwein.

Ob das als Motivation ausreicht, um drei Jahre Ausbildung durchzuhalten?

Als Pflegemutter kann ich es nur hoffen.

Die jetzige Bundesregierung hat im November 2021 in ihrem Koalitionsvertrag festgelegt:

Heim- und Pflegekinder sollen eigene Einkünfte komplett behalten können.“

Ich hoffe, dieses Vorhaben wird zügig umgesetzt.

Und gilt dann für alle Heim- und Pflegekinder.

Unabhängig davon, ob sie eine Behinderung haben oder nicht.

Was ist Inklusion?

Inklusion ist eine Haltung.

Inklusion wächst durch Erfahrung.

Inklusion ist ein Prozeß.

Inklusion entsteht durch Begegnung.

Inklusion entsteht durch Zusammenleben.

Inklusion denkt vom Menschen aus.

Das Bild zeigt mehrere Läuferinnen und Läufer eines Volkslaufs, die einen alten Mann und eine alte Frau im Rollstuhl beim Laufen vor sich her schieben.

Inklusion heißt:

Jeder Mensch gehört dazu.

Jeder ist wertvoll.

Jeder kann teilnehmen.

Jeder darf selbst bestimmen, wie er leben möchte.

Jeder hat die gleichen Rechte.

Inklusion ist Menschen-Recht!

Das Bild zeigt einen körperbehinderten Jungen auf einer behindertengerechten Schaukel. Links von ihm steht sein Buggy. Daneben hängt eine normale Schaukel.

Inklusion geht immer anders.

Inklusion heißt Vielfalt.

Inklusion geht alle an.

Inklusion schließt alle ein.

Jeder kann mitmachen.

Inklusion hilft allen.

Drei Menschen auf einer Bank betrachten eine große Wand, an der viele kleine Porträtfotos von sehr unterschiedlichen Menschen aufgehängt sind.

Inklusion kann Angst machen.

Inklusion braucht Mut.

Inklusion braucht Offenheit.

Inklusion braucht Vertrauen.

Inklusion braucht Wertschätzung.

Das Foto zeigt zwei Menschen beim Gleitschirm-Tandemflug. Im Hintergrund sieht man Himmel und Berge.

Inklusion ist niemals fertig.

Inklusion muss nicht perfekt sein.

Inklusion muss für alle verständlich sein.

Inklusion passt in kein Handbuch.

Inklusion lässt sich nicht am Reißbrett planen.

Inklusion braucht Rechtsgrundlagen.

Inklusion braucht Verbindlichkeit.

Inklusion braucht Beteiligung – von allen.

Die Beine eines Menschen in kurzen Hosen und roten Turnschuhen baumeln über einem Gewässer.

Mein Unwort des Jahres 2021: Lernrückstände

Ich habe mich entschieden. Mein persönliches Unwort des Jahres 2021 lautet: Lernrückstände.

Spätestens seit Ende des zweiten Lockdowns wird in ganz Deutschland intensiv über das Ausmaß der „Lernrückstände“ diskutiert, die durch die pandemiebedingten Schulschließungen entstanden sind.

Ganz konkret geht es um Lücken in Deutsch und Mathematik, die um so größer ausfallen, je schwieriger die soziale Lage der betroffenen Kinder und Jugendlichen ist.

Die soziale Ungleichheit im Bereich von Schule und Bildung hat sich also deutlich verschärft.

Darauf hinzuweisen ist wichtig und gut.

Allerdings:

Kaum jemand scheint sich bewusst, wie exkludierend die Diskussion über Lernrückstände ist!

Auf dem Bild sieht man zwei Mädchen im Grundschulalter, die sich gemeinsam über ein Heft beugen. Eins der Mädchen schreibt bzw. malt mit einem Bleistift in das Heft.

Mit der Unterzeichnung der UN-Behindertenrechtskonvention hat sich Deutschland für die Einführung eines inklusiven Bildungssystems entschieden.

Grundlegend für inklusive Bildung ist ein ganzheitlicher, personenbezogener Ansatz.

So unterschiedlich Menschen sind, so unterschiedlich sind auch ihre Arten zu lernen und sich zu bilden.

Hierauf müssen Bildungssysteme eingehen.

Über flexible Lehrpläne, Lehr- und Lernmethoden muss jeder Mensch die Möglichkeit erhalten, sein ihm eigenes Potential bestmöglich zu entfalten.

Bildungssystem müssen sich also an die Bedürfnisse aller Lernenden anpassen.

Nicht mehr die Lernenden an ein bestehendes, starres System.

Der in der aktuellen bildungspolitischen Diskussion genutzte Begriff der Lernrückstände geht dagegen von einem für alle verbindlichen Bildungsplan als „Sollstand“ aus.

Dies widerspricht dem Grundgedanken von inklusiver Bildung!

Die aus diesen „Bildungsrückständen“ abgeleiteten Fördermaßnahmen schließen alle Schülerinnen und Schüler von vornherein aus, die lernzieldifferenziert unterrichtet werden. Sowohl an Sonderschulen wie auch an inklusiven Regelschulen.

Das Bild zeigt die Spitze eines Fahnenmastes mit wehender Hamburg-Fahne. Im Hintergrund sieht man verschwommen Wasser.

In Hamburg bedeutet das: Für Schülerinnen und Schüler mit Behinderung, die nicht im Rahmen des Bildungsplans unterrichtet werden, sehen Schulbehörde und Schulsenator weder Lernferien noch Klassenwiederholungen oder andere Förderprogramme vor.

Dabei haben gerade diese Kinder und Jugendlichen in unserer Stadt massiv unter den Schulschließungen gelitten:

  • Schulbegleitungen durften zu Hause nicht unterstützen.
  • Differenzierte digitale Lernangebote fehlten.
  • Die eh schon große soziale Isolation vieler dieser Schülerinnen und Schüler wurde nochmals verschärft. Soziales Lernen war nicht möglich.

Hier gilt es dringend gegenzusteuern!

Paul

Darf ich vorstellen: Das ist Paul!

Zeichnung eines Jungen, der auf seinem Fahrrad durch einen Wald fährt. Begleitet wird er von einem kleinen Hund.

Paul sieht aus wie alle Jungen seines Alters. Vielleicht ist er etwas kleiner und dünner als die meisten. Doch das ist relativ.

Paul liebt Musik, Fahrrad fahren, Computerspiele, Chips und Schokolade.

Pauls Eltern sind nicht seine leiblichen Eltern. Da Pauls Bauch-Mama mit Pauls Versorgung überfordert war, wurde Paul bereits wenige Wochen nach seiner Geburt vom Jugendamt in Obhut genommen.

Die ersten zwei Jahre seines Lebens hat Paul in einem Kinderheim gelebt. Danach zog er bei seinen Pflegeeltern ein.

Bis heute kann Paul schlecht schlafen. Er hat oft Alpträume.

Paul erzählt gerne, ist höflich und liebt es, andern zu helfen.

Paul kann sich die wildesten Geschichten ausdenken und hat immer eine gute Idee.

Paul verliert schnell die Geduld und die Übersicht. Außerdem merkt er oft nicht, wenn sein Körper Hunger hat oder friert.

Bei einer Sache zu bleiben fällt Paul schwer. Oft vergisst er Dinge. Das fängt bereits beim Anziehen an. Seine Pflegemutter muss ihn dann immer wieder daran erinnern, mit dem Anziehen weiter zu machen.

Wenn die Dinge nicht so laufen, wie Paul es sich vorstellt oder gewohnt ist, wird er oft sehr, sehr wütend. Früher hat er dann wild um sich geschlagen, gebrüllt und getreten. Inzwischen schimpft er meist nur noch.

Pauls Pflegeeltern haben sich lange Sorgen gemacht, was mit Paul los ist. Oft haben sie sich gefragt, was sie falsch machen.

Inzwischen wissen Paul und seine Pflegeeltern: Paul hat FASD.

Einige Teile in Pauls Gehirn sind nicht richtig verschaltet. Sie wurden durch Alkohol geschädigt, als Paul noch im Bauch seiner leiblichen Mutter war. Das lässt sich nicht mehr ändern. Auch nicht durch Medizin.

Betroffen ist vor allem Pauls Frontalhirn.

Das Frontalhirn ist für die Fähigkeiten zuständig, die für die Kontrolle und Selbstregulierung des eigenen Verhaltens erforderlich sind. Wissenschaftler nennen das die Exekutivfunktionen.

Exekutivfunktionen werden für alle alltagspraktischen Fähigkeiten gebraucht. Zum Beispiel beim Anziehen, beim Tisch decken oder bei der Unterscheidung zwischen Wichtigem und Unwichtigem.

Menschen, deren Exekutivfunktionen gestört sind, sind meistens ein Leben lang auf Unterstützung im Alltag angewiesen.

Ausreichende Unterstützung kann Paul dabei helfen, mit sich und andern gut klar zu kommen.

Innenansicht eines Gehirns

Paul gibt es nicht wirklich. Paul habe ich mir ausgedacht.

Allerdings: In Paul findet sich vieles von dem, was ich mit Kindern mit FASD erlebt habe. Oder von dem mir Eltern von Kindern mit FASD erzählt haben.

Daher könnte man auch sagen: Es gibt nicht einen Paul, sondern viele Pauls und auch Paulas in Hamburg.

Neue Untersuchungen zeigen: Unter 100 Kindern in englischen Grundschulen weisen 1 bis 3 Kinder deutliche Merkmale von FASD auf. Für Nordamerika geht man inzwischen davon aus, dass 4 von 100 Kindern FASD haben. Das ist 1 Kind in jeder Schulklasse!

Für Deutschland fehlt bislang verlässliches Datenmaterial. Lange wurde geschätzt, dass sich unter 100 Kindern in Deutschland 1 Kind mit FASD finden lässt. Es ist zu befürchten, dass diese Schätzung zu niedrig angesetzt ist.

In meinem Blog werde ich Ihnen von nun an immer einmal wieder von Paul berichten.