Für unser inzwischen nicht mehr kleines Kind beginnt demnächst der Ernst des Lebens: Arbeit und Ausbildung stehen an.
Unser Kind ist da für sich bereits schon ganz schön klar. Seit dem Frühjahr ist es dabei, Praktika zu machen. Mit Erfolg.
Seine bisherigen Praktikums-Zeugnisse zeigen: Es ist zuverlässig, motiviert, packt mit an und kommt gut mit Mitarbeitern und Kunden klar.
Außerdem : Nach jedem Praktikum weiß unser Kind besser, was es möchte und was nicht.
Ich dagegen sehe gerade alles andere als klar.
Unser Kind hat eine anerkannte Schwerbehinderung und keinen Schulabschluss.
Das sei nicht so schlimm, hörte ich vor einiger Zeit. Hamburg sei sehr gut aufgestellt, was Arbeits- und Ausbildungsmöglichkeiten für junge Menschen mit Behinderung angehe.
Das ist wahrscheinlich richtig – wenn frau denn erst mal durchsteigt.
Bisher hatte ich gedacht, nach zehn Jahren Erfahrung mit schulischer Inklusion gibt es nichts mehr, was komplizierter sein könnte.
Ich befürchte gerade, da war ich etwas voreilig.
Also, was ich bereits kenne und weiß:
Es gibt den ersten und den zweiten Arbeitsmarkt.
Zum zweiten Arbeitsmarkt zählen die Werkstätten für Menschen mit Behinderung. Da hat unser Kind ein Praktikum gemacht. Seitdem weiß es, dass es auf dem ersten Arbeitsmarkt arbeiten möchte. Denn nur da verdient es ausreichend Geld zum Leben.
Dann gibt es betriebliche und überbetriebliche Ausbildungen.
Das ist für alle Jugendlichen gleich. Unser Kind strebt eine betriebliche Ausbildung an. Mit echten Aufträgen, echten Kollegen und echten Kunden.
Schließlich gibt es normale Berufsschulen, die inklusiv arbeiten. Und es gibt spezielle Berufsschulen ausschließlich für Jugendliche mit Behinderung.
Was ich bisher noch nicht wusste:
Je nach Fähigkeiten und Kompetenzen eines Jugendlichen ist entweder die Jugend-Berufsagentur oder die Reha-Abteilung der Agentur für Arbeit für ihn zuständig.
Der Berufspsychologische Service der Agentur für Arbeit prüft die Zuständigkeit. Dazu wird eine Psychologische Eignungsuntersuchung (PSU) durchgeführt. Wenn nötig, erstellen Arbeitspsychologen weitere Gutachten.
Und: Für junge Menschen mit Behinderung gibt es verschiedeneMöglichkeiteneinerbegleiteten Ausbildung.
Spätestens hier wird es kompliziert.
Es beginnt damit, dass der Zugang zu den verschiedenen Unterstützungsmöglichkeiten an sehr viele unterschiedliche Voraussetzungen geknüpft ist.
So muss als erstes geklärt werden,
ob der Jugendliche mit Behinderung erwerbsfähig ist,
ob er ausbildungsfähig ist,
ob er eine Werkstattzugangsberechtigung hat oder
ob er über einen anerkannten Reha-Status verfügt.
Bereits an diesem Punkt verstehe ich bisher nur Bahnhof.
Aber ich werde mich weiter schlau machen und Sie auf dem Laufenden halten.
Im Januar wird die berufspsychologische Testung unseres Kindes durch die Agentur für Arbeit stattfinden.
Klaus Wicher, erster Landesvorsitzende des Sozialverbands Deutschland (SoVD) in Hamburg, warnte vor kurzem: Die Inklusion in Hamburgs Schulen laufe nicht störungsfrei.
„Vor allem fehlt es an ausreichend qualifizierten Schulbegleiter*innen. Das hat zur Folge, dass Kinder nicht richtig am Unterricht teilhaben können und benachteiligt werden. Ich empfehle der Stadt dringend neue Strukturen für die Betreuung und verweise auf Pool-Modelle, die in anderen Städten schon erfolgreich laufen.“ (Aktuelle Meldungen des SoVD, Landesverband Hamburg)
Das kann ich nur unterstützen!
Allein in meinem näheren Bekanntenkreis kenne ich aktuell drei Familien, deren Kinder häufig bis regelmäßig einen verkürzten Schultag haben, weil es an Schulbegleitung fehlt.
Artikel 24 der UN-Behindertenrechtskonvention sieht vor, dass alle Kinder einen Anspruch auf bestmögliche Bildung haben. Um dies sicherzustellen, verpflichten sich die Vertragsstaaten, ausreichende Vorkehrungen für Schülerinnen und Schüler mit Behinderung zur Verfügung zu stellen. Eine solche Vorkehrung ist die Schulbegleitung.
In Deutschland fußte der Anspruch auf Schulbegleitung bis 2018 auf zwei verschiedenen gesetzlichen Grundlagen:
Kinder und Jugendliche mit körperlicher oder geistiger Behinderung hatten die Möglichkeit, eine Schulbegleitung nach § 54 SGB XII zu beantragen. Zuständig für diese Leistung war die Eingliederungshilfe.
Für Kinder und Jugendliche mit drohender oder vorhandener seelischer Behinderung regelte die Kinder- und Jugendhilfe den Bedarf. Grundlage hierfür war § 35a SGB VIII .
Seit dem 1. Januar 2017 tritt in Deutschland das neue Bundesteilhabegesetz stufenweise in Kraft.
Ab dem 1. Januar 2018 wurde die Eingliederungshilfe für Kinder und Jugendliche mit Behinderungen den für alle Rehabilitationsträger geltenden allgemeinen Regeln des Teils 1 und 2 des SGB IX unterworfen und zwar unabhängig davon, ob sie aus dem SGB XII oder dem SGB VIII zu leisten ist.
Zum 1. Januar 2020 wurde die Eingliederungshilfe aus dem SGB XII herausgelöst. Sie wird nun im zweiten Teil des SGB IX als „Besondere Leistungen zur selbstbestimmten Lebensführung für Menschen mit Behinderung“ geregelt. Gleichzeitig wurde § 35a SGB VIII an die Eingliederungshilfe des SGB IX (Teil 2) angepasst.
Schulbegleitung: der Hamburger Weg
Hamburg beschritt mit Einführung der Inklusion seinen eigenen Weg in Sachen Schulbegleitung.
Um Familien mit behinderten Kindern möglichst zu entlasten, beschloss der Hamburger Senat 2014/2015, die Zuständigkeit für Schulbegleitung an die Behörde für Schule und Berufsbildung zu übertragen. Die Auswahl des Lernortes, die Zusammensetzung der Klassen und die Ausstattung der Schulen sollten von nun an so gestaltet werden, dass die Gewährung individueller Eingliederungsleistungen überflüssig würde.
Das hört sich nach einer guten Entscheidung für Schülerinnen und Schüler mit Behinderung an!
Allerdings: Bei der Beantragung und Organisation von Schulbegleitung hielt die Behörde für Schule und Berufsbildung an der Unterscheidung zwischen (drohenden) seelischen Beeinträchtigungen auf der einen und körperlichen oder geistigen Behinderungen auf der andern Seite fest.
So blieb es weiterhin kompliziert.
Benötigen Schülerinnen und Schülermitkomplexen psychosozialen Beeinträchtigungen eine Schulbegleitung, sind seit April 2014 die Regionalen Bildungs- und Beratungszentren (ReBBZ) zuständig.
Einen Antrag auf Schulbegleitung über das ReBBZ kann nur die Schule stellen, nicht die Sorgeberechtigten eines Kindes. Damit ist Sorgeberechtigten das Recht auf Widerspruch verwehrt, wenn das ReBBZ den Antrag auf Schulbegleitung ablehnt. Sieht die Schule keinen Bedarf an Schulbegleitung oder zögert eine Antragstellung aus unterschiedlichen Gründen heraus, sind Sorgeberechtigte so gut wie machtlos.
Die ReBBZ sehen Schulbegleitung vorrangig als pädagogische Maßnahme. Ziel ist es, ein Kind in seiner Entwicklung so zu fördern, dass es perspektivisch keine Schulbegleitung mehr benötigt. Schulbegleitungen über ein ReBBZ sind daher nie auf Dauer, sondern immer nur befristet. Meist muss eine Schulbegleitung jedes Schulhalbjahr neu beantragt werden.
Eltern von Kindern und Jugendlichen mit komplexen psychosozialen Beeinträchtigungen hören von den ReBBZ regelmäßig, dass Schulbegleitungen nie länger als für ein bis maximal zwei Jahre bewilligt werden, in der Regel nie über 20 Stunden/Woche hinausgehen und spätestens ab der achten Klasse generell nicht mehr möglich seien.
Zwar ist dies nirgendwo festgeschrieben, soll aber vermutlich dazu dienen, die Kosten für Schulbegleitung nicht noch weiter ansteigen zu lassen.
Denn: Während Hamburg 2011 nur ca. 3 Millionen Euro Euro für Schulbegleitung ausgab, waren es 2020 mehr als 15 Millionen Euro.
Verantwortlich für die Suche und Einstellung einer Schulbegleitung ist das ReBBZ. Eltern sind an der Auswahl der Schulbegleitung für ihr Kind nicht beteiligt.
Brauchen Schülerinnen und Schüler mit erheblichem oder umfassenden Unterstützungsbedarf im Bereich der geistigen oder körperlich-motorischen Entwicklung eine Schulbegleitung, regelt dies seit September 2021 die stellvertretende Abteilungsleitung der neu geschaffenen Abteilung B 4 – Inklusive Bildung innerhalb der Schulbehörde. Zwischen Mai 2015 und August 2021 lag das Verfahren in den Händen der Schulaufsicht spezielle Sonderschulen.
Auch bei Schülerinnen und Schülern mit erheblichem oder umfassenden Unterstützungsbedarf im Bereich der geistigen oder körperlich-motorischen Entwicklung ist eine Bedarfsklärung durch die Schule vorgesehen. Allerdings haben Sorgeberechtigte hier die Möglichkeit, einen eigenen Antrag auf Schulbegleitung zu stellen. Die Entscheidung über diesen Antrag wird Sorgeberechtigten über einen rechtsmittelfähigen Bescheid mitgeteilt. Somit haben sie die Möglichkeit, gegen die Entscheidung Widerspruch einzulegen.
Schulbegleitungen für Schülerinnen und Schüler mit erheblichem oder umfassenden Unterstützungsbedarf im Bereich der geistigen oder körperlich-motorischen Entwicklung werden als notwendige Unterstützungsmaßnahmen angesehen, um das Recht behinderter Kinder und Jugendlicher auf Teilhabe an Bildung sicher zu stellen.
Es wird davon ausgegangen, dass der Bedarf dieser Kinder und Jugendlichen weitgehend konstant bleibt. Eine generelle zeitliche Befristung der Schulbegleitung ist daher nicht vorgesehen. Trotzdem muss die Schulbegleitung jährlich neu beantragt werden.
Bei Schülerinnen und Schülern mit erheblichem oder umfassenden Unterstützungsbedarf im Bereich der geistigen oder körperlich-motorischen Entwicklung, denen eine persönliche Schulbegleitung zugesprochen wurde, liegt es in den Händen der Sorgeberechtigten, eine geeignete Schulbegleitung zu finden und einzustellen. Dabei sollen Sorgeberechtigte von der Schule unterstützt werden.
Topp oder Flopp? Warum eine Reform der Schulbegleitung in Hamburg dringend nötig ist
Die bisherige Organisation von Schulbegleitung durch die Behörde für Schule und Berufsbildung hat gleich mehrere Schwachstellen:
Die unterschiedlichen Zuständigkeiten innerhalb der Behörde und die Unterschiede bei der Beantragung und Organisation von Schulbegleitung machen das gesamte Verfahren für Lehrer, Eltern und Schüler sehr unübersichtlich und schwer verständlich.
Die regelhaften Befristungen und Unsicherheiten bei der Weiterbewilligung von Schulbegleitung verhindern Kontinuität und Verlässlichkeit. Oftmals sind Schulbegleiterstellen bei Beginn eines Schuljahrs noch nicht besetzt.
Verschärfend kommt hinzu, dass es keine Vertretungen bei Schulbegleitung gibt. Fällt ein Schulbegleiter aus, geht das unterstützte Kind häufig nicht in die Schule.
Befristete Arbeitsverträge, keine Beschäftigung während der Ferien und eine meist dürftige Bezahlung haben zur Folge, dass es kaum qualifizierte Schulbegleiter gibt. Nicht selten sind es junge Menschen im Freiwilligen Sozialen Jahr, die Schulbegleitungen übernehmen.
Mit dem Bundesteilhabegesetz wurde ein neues Verständnis von Behinderung eingeführt:
„Menschen mit Behinderungen sind Menschen, die körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen haben, die sie in Wechselwirkung mit einstellungs- und umweltbedingten Barrieren an der gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate hindern können“ (§ 2 Abs. 1 SGB IX).
Damit wird Behinderung nicht mehr ausschließlich als Eigenschaft und Defizit einer Person gesehen. Stattdessen werden – in Übereinstimmung mit der UN-Behindertenrechtskonvention – gesundheitliche Beeinträchtigungen im Zusammenspiel mit Kontextfaktoren sowie mit den Interessen und Wünschen der betroffenen Menschen betrachtet.
Bei der Vorgehensweise in Hamburg begründen ausschließlich erhebliche, umfassende oder komplexe Defizite von Kindern und Jugendlichen die Notwendigkeit einer Schulbegleitung.
Erschwerend kommt hinzu: Komplexe psychosoziale Beeinträchtigungen werden von der Behörde für Schule und Berufsbildung nicht als Behinderung gesehen. Daraus ergibt sich eine Ungleichbehandlung von Schülerinnen und Schülern mit seelischen Beeinträchtigungen, die nicht im Einklang steht mit den Vorgaben der UN-Behindertenrechtskonvention und des Bundesteilhabegesetzes.
Es gibt Behinderungen, die sich nur schwer oder gar nicht in das Verfahren der Behörde für Schule und Berufsbildung einordnen lassen. Dazu zählen besonders die sogenannten unsichtbaren Behinderungen wie Autismus und FASD.
Verhaltensauffälligkeiten von Kindern und Jugendlichen mit FASD zum Beispiel werden von der Schulbehörde gerne als komplexe psychosoziale Beeinträchtigungen eingestuft. Allerdings sind diese Verhaltensauffälligkeiten Folge einer Gehirnschädigung, daher langfristig und nicht durch Pädagogik heilbar.
Eltern von Kindern und Jugendlichen mit FASD gehen in Hamburg inzwischen dazu über, bei der Eingliederungshilfe ein persönliches Budget zu beantragen, um darüber eine verlässliche und ausreichende schulische Assistenz zu finanzieren. Mit Erfolg.
Mein Wunsch für eine „Inklusionsmetropole“Hamburg:
Eine Neuorganisation von Schulbegleitung, die
Sorgeberechtigte entlastet,
verständlich, einheitlich und transparent ist,
sich am individuellen Bedarf orientiert,
Verlässlichkeit und Kontinuität schafft,
fachliche Standards setzt und prüft
und so Teilhabe an Bildung für alle möglich macht!
Im Eingangsbereich des Sport-Zentrums steht ein Regal mit vielen Informationsblättern.
Die Blätter informieren über die verschiedenen Sportangeboten meines Vereins.
Auf einem steht:
„IN☀️Sport. Für Menschen mit Behinderung“.
Da ich ein neugieriger Mensch bin und gleichzeitig Mutter eines behinderten Kindes, greife ich zu.
Auf der zweiten Seite des Faltblatts finde ich den folgenden Text:
InSport = Inklusion Unsere Sportangebote sind für alle offen, die Spaß an der Bewegung haben und etwas für sich tun möchten. So sind die Gruppen auf Ihre Bedürfnisse, unabhängig von dem Entwicklungsstand, zugeschnitten. In den verschiedenen Angeboten wird viel gespielt, werden ohne Leistungsdruck verschiedene Sportarten und Bewegungsabläufe gelernt bzw. vertieft. Jeder wird unabhängig, ob mit oder ohne geistiger und Mehrfachbeeinträchtigung, individuell gefördert.
Nach dem Lesen bin ich sprachlos.
Wie kann man ein Sportangebot für ausschließlich behinderte Menschen als inklusiv bezeichnen?
Zumal das Angebot ganz offensichtlich von Menschen ohne Behinderung zusammengestellt wurde.
Denn: Wer sagt, dass sich nicht auch behinderte Menschen im Leistungssport mit andern messen möchten? Die Paralympics sind dafür das beste Beispiel.
Inklusiver Sport bedeutet für mich:
Menschen mit und ohne Behinderung machen gemeinsam Sport –
auf Augenhöhe und mit Spaß!
Ein tolles Beispiel dafür ist SIT’N’SKATE in Hamburg.
SIT’N’SKATE, das sind Lisa und David Lebuser. Zwei coole Menschen mit äußerst kreativen Köpfen – und Rollstuhl-Skater aus Leidenschaft.
Lisa und David verwandeln Skate-Parks in Orte gelebter Inklusion.
Hier ist es egal, auf welchem Level man skatet und mit welchen Rollen man unterwegs ist.
Wichtig ist nur, voneinander zu lernen und gemeinsam Spaß zu haben.
Mit coolen Aktionen, stylischen Bildern und coolem Lifestyle wollen Lisa und David die Sicht auf Menschen mit Behinderung verbessern.
Sie wollen alte und meist negative Bilder von behinderten Menschen gegen positive Bilder tauschen.
Und sie wollen motivieren – motivieren umzudenken und mit ihnen zu rollen.
Damit wollen sie ihrer Vision einer inklusiven Gesellschaft näher kommen.
Rote Schuhe machen weltweit aufmerksam auf die Fetale Alkohol-Spektrum-Störung FASD.
Im Jahr 2013 entschied sich der Kanadier R.J. Formanek dazu, erstmals in seinem Leben rote Schuhe zu tragen.
Dadurch wollte er auffallen und seine Einzigartigkeit unterstreichen.
Und er wollte mit Menschen ins Gespräch kommen: über seine angeborene Behinderung FASD.
Formanek war bereits Ende 40, als er erfuhr: Er hat FASD. Diese Diagnose veränderte sein Leben tiefgreifend.
Schon als junger Mensch hatte Formanek gemerkt, dass er sich von andern unterschied.
Er nahm die Welt um sich herum anders wahr.
Er fühlte anders.
Und er scheiterte immer wieder an Dingen, die für andere selbstverständlich und einfach schienen.
Die Diagnose FASD bedeutete für Formanek Erleichterung und Klarheit.
Nicht er war schuld, dass sein bisheriges Leben nicht rund gelaufen war.
Ein unbeabsichtigter vorgeburtlicher Alkoholkonsum hatte dazu geführt, dass sich seine Gehirnzellen anders verschaltet hatten als üblich.
„Our brains are different, but that does not have to be a bad thing,we can be the spark that starts a whole new way of looking at things, we can change how the world sees itself, because we ARE different. Take care of each other, the rest comes along one step at a time.“ ( R.J. Formanek)
Ausgehend von dieser Erkenntnis entwickelte Formanek erfolgreich Strategien, um mit seinem FASD umzugehen und gut zu leben.
Heute ist Formanek einer der wichtigsten Fürsprecher für Menschen mit FASD in Nordamerika. Seine Erfahrungen teilt er auf Vorträgen, in Seminaren und im Internet.
2012 gründete Formanek die erste Facebook Selbsthilfegruppe für Menschen mit FASD und deren Unterstützer: Flying with Broken Wings.
Ein Jahr später rief er gemeinsam mit Jodee Kulp die Red Shoes Rock– FASD -Bewegung ins Leben.
Seitdem wollen rote Schuhe
das Unsichtbare sichtbar machen,
Gespräche anregen,
Stigma umwandeln in Verständnis und Akzeptanz.
„So, I am on a journey to understand how you see the world, because I KNOW how I see mine… so I share what I see, you share what you see and between us we both develop a deeper understanding of being human.“ (J.R. Formanek)
MENSCHLICH. Leben mit Handicap. Eine Anzeigen-Sonderveröffentlichung.
Das Thema interessiert mich. Also fange ich an zu lesen.
Im ersten Artikel geht es um den „EinsatzimGrünen“. Vorgestellt wird die erfolgreiche Kooperation zwischen den Elbe-Werkstätten und der Firma Beiersdorf in Hamburg. Ein gelungenes Inklusions-Projekt, so heißt es da.
Trotzdem stört mich etwas an dem Artikel. Es dauert einen kurzen Moment, bis ich dahinter komme. Doch dann habe ich es.
An zwei Stellen im Artikel heißt es: „Verstärkung gewünscht!“
Zuerst werden Menschen mit Behinderung als Verstärkung für das Team gesucht. Angeboten werden abwechslungsreiche Arbeiten im Grünen und spannende Sondereinsätze. Und: Wenn die Arbeit nicht mehr gefällt, sind Wechsel in andere Projekte der Elbe-Werkstätten jederzeit möglich.
Dann werden Frauen und Männer als Verstärkung für das Team gesucht, die Lust haben, ihre handwerklichen Berufe mit einer pädagogischen Aufgabe zu verbinden. Ihnen wird angeboten: eine Beschäftigung mit Spaß und Sinn, vielen Gestaltungsmöglichkeiten, geregelten Arbeitszeiten und einer guten Bezahlung nach Tarif.
Sind bei letzteren auch Menschen mit Behinderung angesprochen? Ich bezweifle es.
Denn: Auf der Karriere-Seite der Elbe-Werkstätten im Internet gibt es „Stellenangebote für Menschen mit Behinderung“ und „tarifliche Stellenangebote“. Für letztere bleiben eigentlich nur noch Menschen ohne Behinderung übrig.
Was sich hier deutlich zeigt, ist das exklusive und längst nicht mehr zeitgemäße System von Behindertenwerkstätten in Deutschland:
Wegen ihrer vermeintlichen Einschränkungen werden Menschen mit Behinderung als besonders schutz- und hilfsbedürftig angesehen.
Aufgrund ihrer Behinderung können sie nicht die gleiche Arbeit leisten wie Menschen ohne Behinderung.
Also bietet ihnen die Behindertenwerkstatt einen Schonraum mit Rundumbetreuung und Beschäftigung an. Und mit einem durchschnittlichen Monatseinkommen von derzeit knapp 200 Euro. Das reicht nicht zum Leben.
Das ganze funktioniert, weil behinderte Menschen in Werkstätten per Gesetz keine Arbeitnehmer sind. Damit haben sie keinen Anspruch auf einen Mindestlohn.
Dies widerspricht der UN-Behindertenrechtskonvention.
Die UN-Behindertenrechtskonvention besagt in Artikel 27, dass Menschen mit Behinderung ein Rechtauf Arbeit haben.
Dieses Recht auf Arbeit schließt die Möglichkeit ein, den Lebensunterhalt durch Arbeit zu verdienen, die frei gewählt oder frei angenommen wird. Und zwar am besten bei öffentlichen und privaten Arbeitgebern auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt.
Nicht inklusive Beschäftigungsverhältnisse in Behindertenwerkstätten, so die UN-Behindertenrechtskonvention, sollen kontinuierlich abgebaut werden.
Was bedeutet das nun für den „Einsatz im Grünen“?
Der „Einsatz im Grünen“ ist kein gelungenes Inklusions-Projekt. Weil er an den exklusiven Beschäftigungsstrukturen von Behindertenwerkstätten festhält.
Wirklich inklusiv wird der „Einsatz im Grünen“ erst dann, wenn die Beschäftigten mit Behinderung für ihre Arbeit so entlohnt werden, dass sie davon leben können.
Noch inklusiver wird der Einsatz, wenn die Beschäftigten mit Behinderung einen Arbeitsvertrag mit Beiersdorf selbst oder einer „normalen“ Gartenbaufirma erhalten. Erst dann sind sie auch auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt beschäftigt.
Meine Wünsche für eine „Inklusionsmetropole“ Hamburg:
Eine Entlohnung für Menschen mit Behinderung, die den Lebensunterhalt sichert
Ausbau von Arbeitsplätzen für Menschen mit Behinderung auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt
Schrittweise Auflösung des exklusiven Sondersystems Behindertenwerkstätten
In Hamburg ist es seit Einführung der Inklusion 2012 nicht gelungen, die Anzahl der Beschäftigten mit Behinderung in den Elbe-Werkstätten spürbar zu reduzieren.
Bald ist es wieder soweit: Am 9. September ist FASD-Aktionstag!
Immer am 9. September wird seit 1999 weltweit auf die fetale Alkoholspektrumstörung FASD als lebenslange Behinderung aufmerksam gemacht. Es gibt Demonstrationen, Spendenläufe, Glockengeläut, Plakataktionen, Informationsveranstaltungen, Kampagnen in sozialen Netzwerken und vieles mehr.
Ziel dieser Aktionen ist es, das Bewusstsein für FASD zu schärfen. FASD ist eine der häufigsten angeborenen Behinderungen überhaupt. Schätzungen gehen davon aus, dass allein in Deutschland jedes Jahr deutlich mehr als 10.000 Kinder mit FASD geboren werden. Dennoch wissen immer noch zu wenig Menschen bescheid über FASD.
Das liegt sicherlich mit daran, dass sich die meisten Menschen mit FASD auf den ersten Blick nicht von anderen unterscheiden. Viele nennen FASD daher auch eine unsichtbare Behinderung.
Bei Menschen mit FASD wurden Gehirn und zentrales Nervensystem bereits vor ihrer Geburt durch den Kontakt mit Alkohol irreparabel geschädigt. Die Folgen begleiten Betroffene ein Leben lang:
Sie können sich vieles nicht merken.
Sie können Handlungsabläufe nur schwer planen bzw. reflektieren.
Sich auf Neues einzustellen fällt ihnen schwer.
Sie haben eine besondere Art der Wahrnehmung.
Aus Fehlern können sie nur schwer lernen.
Sie reagieren sehr impulsiv, halten Frustrationen schlecht aus.
Sie haben häufig Schwierigkeiten im Umgang mit anderen.
Sie sind beeinträchtigt in ihrer körperlich-motorischen Entwicklung.
Damit Menschen mit FASD trotzdem gut leben, ihre Stärken entfalten und erfolgreich an der Gesellschaft teilhaben können, braucht es zwei Dinge: eine möglichst frühzeitige Diagnose und eine gute Unterstützung. Für beides macht sich der FASD-Aktionstag stark.
Außerdem wird am FASD-Aktionstag auf die Gefahren von Alkohol in der Schwangerschaft aufmerksam gemacht. Denn: FASDisteine zu 100 Prozent vermeidbare Behinderung. Selbst kleine Mengen an Alkohol während einer Schwangerschaft können unabsehbare Folgen haben.
Nur ein vollständiger Verzicht auf Alkohol während einer Schwangerschaft kann FASD verhindern.
In Hamburg ist das Bewusstsein für FASD erst schwach ausgeprägt. Vor allem in Schulen und Behörden kennen zu wenig Menschen FASD. Das macht es für Betroffene besonders schwer, ausreichend Hilfe zu erhalten.
Auch an Diagnosemöglichkeiten mangelt es, ganz besonders für Erwachsene.
Doch zum Glück verändert sich gerade etwas:
Der Unterstützerkreis für Menschen mit FASD wird größer.
Wie wäre es, wenn spätestens am 9. September 2022 Menschen mit FASD zusammen mit dem ersten Bürgermeister eine FASD-Fahne auf dem Hamburger Rathaus hissen?
Mein Wunsch für eine „Inklusionsmetropole“ Hamburg:
Ausbau des FASD Fachzentrums
Verbesserung der Diagnosemöglichkeiten bei FASD, vor allem für Erwachsene
FASD-Fortbildungen in Behörden, Kitas und Schulen
Ausreichende Beratungsangebote für Menschen mit FASD
Freizeit- und Ferienangebote für Kinder und Jugendliche mit FASD
Solchen Abkürzungen und Begriffen begegnen Eltern, die sich um Unterstützung bemühen für ihr Kind mit Behinderung. Das beginnt mit der Frühförderung. Geht weiter in Krippe, Kita und Schule. Und ist mit der Berufsvorbereitung und Ausbildung noch längst nicht zu Ende.
Als Eltern eines Kindes mit Behinderung lernt man schnell: Nichts geht einfach. Nichts geht schnell. Nichts ist auf Dauer. Nichts ist selbstverständlich. Nichts geht ohne Druck und Nachhaken.
Nein, damit meine ich nicht die Entwicklung unseres Kindes.
Damit meine ich die Bewilligung von Hilfen, die unser Kind benötigt, um sich gut zu entwickeln. Um wie alle Kinder in die Kita zu gehen oder in die Schule.
Oft komme ich mir vor wie eine Hürdenläuferin.
Die erste Hürde: Ich muss vorab bereits wissen, was es an Hilfen gibt.
Die zweite Hürde: Ich muss wissen, wer für die Bewilligung einer Hilfe zuständig ist.
Die dritte Hürde: Ich muss überzeugend nachweisen, was mein Kind an Hilfen benötigt und dass es einen Anspruch darauf hat.
Die vierte Hürde: Ich muss viel Geduld haben. Und ich muss aufpassen, dass das Bewilligungsverfahren nirgendwo stecken bleibt.
Die fünfte Hürde: Ich muss wissen, was bei der Bewilligung oder auch Ablehnung einer Hilfe zu tun ist.
Diesen Hürdenlauf absolviere ich nicht nur einmal sondern regelmäßig.
Denn: Kinder entwickeln sich. Daher sind bewilligte Hilfen in der Regel auf ein Jahr befristet. Die Tatsache, dass mein Kind eine lebenslange Behinderung hat und dauerhaft auf Hilfe angewiesen sein wird, interessiert da nicht.
Erschwerend kommt hinzu: Mit jedem Entwicklungsschritt meines Kindes (von der Frühförderung in die Kita, von der Kita in die Grundschule usw.) wechseln die für die Bewilligung von Hilfen zuständigen Menschen und Behördenstellen. Müssen Bedarfe neu beantragt, ermittelt, begründet und geprüft werden. Beginnen wir als Eltern quasi wieder am Punkt Null.
Ein Beispiel:
Unser Kind war drei Jahre lang in der Kita. Jedes Jahr wuchsen die Anforderungen an unser Kind. Und damit auch sein Bedarf an Unterstützung.
Im letzten Kita-Jahr hatte unser Kind die Zuschlagstufe III. Damit ließ sich die inzwischen nötige 1:1 Betreuung halbwegs abdecken.
Dann stand der Wechsel in die Grundschule an. Als Eltern war uns klar: Unser Kind wird die inklusive Grundschule nur meistern, wenn es eine verlässliche Begleitung an seiner Seite hat.
Also haben wir Druck gemacht. Wir haben Schule und Kita ein Jahr vor der Einschulung zu einem gemeinsamen Gespräch zusammen gebracht. Wir haben noch während der Kita-Zeit einen Antrag auf Schulbegleitung gestellt. Wir haben selbst eine Schulbegleitung gesucht. So konnte unser Kind gut begleitet in die Grundschulzeit starten.
Wenn wir nichts gemacht hätten? Dann wäre unser Kind sehr wahrscheinlich ohne Unterstützung in die Schule gegangen. Spätestens am Ende der ersten Woche hätten wir einen Anruf erhalten, dass wir unser Kind bitte abholen sollten. Weil es ausgerastet wäre. Mit Büchern geworfen hätte. Oder noch schlimmeres.
Vielleicht wäre dann bereits die Beantragung von Hilfe in Gang gekommen. Vielleicht hätte das aber auch noch eine Weile gedauert.
Auf jeden Fall hätte unser Kind bereits in der ersten Klasse seinen Stempel weg gehabt: als schlecht erzogen, unberechenbar, gewalttätig, schlimmstenfalls sogar als unbeschulbar.
„Unser Kind erhält die Luxus-Variante der schulischen Inklusion in Hamburg!„
„Es erhält jetzt eine individuelle Förderung – nach drei Jahren in der inklusiven Stadtteilschule und langen Kämpfen mit der Schulbehörde.„
„Wo die Förderung stattfindet?“
„Natürlich außerhalb der Schule, bei der Lerntherapeutin!“
Manche Dinge sind nur mit Humor zu ertragen. So ergeht es mir inzwischen oft mit der schulischen Inklusion in Hamburg.
Das beste, was ich im letzten Schuljahr zu hören bekam, war: „Ihr Kind erhält bereits die Luxus-Variante schulischer Inklusion in Hamburg! Wollen Sie etwa noch mehr?“
Sie interessiert, wie Luxus auf hanseatisch aussieht? Das erzähle ich Ihnen gerne:
Unser Kind hat seit 2 Jahren Lerntherapie. In einer Praxis außerhalb der Schule. Das ist das beste, was unserem Kind (und uns) seit der fünften Klasse passiert ist!
Die Lerntherapeutin holt unser Kind dort ab, wo es steht.
Sie hat sich intensiv mit der Behinderung unseres Kindes auseinandergesetzt.
Sie versteht die Rechenstrategien unseres Kindes.
Sie hat mit unserem Kind geübt, beim Schreiben oben auf der Seite und vorne im Heft zu beginnen.
Sie hat uns bestätigt, dass unserem Kind die zeitliche Orientierung schwer fällt. Hat mit ihm Monate und Jahreszeiten geübt und zugeordnet.
Sie hat zusammen mit unserem Kind die gesamte Lerntherapie-Praxis mit dem Zollstock vermessen.
Unser Kind geht jedesmal hoch motiviert zur Lerntherapie. Es merkt: Was ich hier lerne, hilft mir, im Alltag besser klar zu kommen.
Und die Schule?
Die sagt, sie hätte nicht genug Sonderpädagogen. Deshalb bezahlt sie die Lerntherapie.
Ansonsten geht die Schule weiterhin davon aus, dass unser Kind zielgleich mit seinen Klassenkameraden in Nebenfächern wie Gesellschaftswissenschaft, Physik, Chemie, Informatik oder Biologie unterrichtet werden kann. Dort findet gerade die Vorbereitung auf den Mittleren Schulabschluss statt. (Den Ersten Schulabschluss hat unser Kind nicht mitgeschrieben. Den hätte es nicht geschafft.)
An einem Austausch mit der Lerntherapeutin scheint in der Schule bis auf die Sonderpädagogin niemand wirklich interessiert. Ich bin mir sicher: Der Mathelehrer weiß bis heute nicht, dass unser Kind weder multiplizieren noch dividieren kann.
Was macht das mit unserem Kind?
Es kommt immer häufiger aggressiv und genervt aus der Schule nach Hause. (Immerhin geht es noch zur Schule!)
Als Eltern setzen wir unsere Hoffnung wieder auf Praktika. Die waren bereits im letzten Schuljahr Gold wert für unser Kind.
Wer wird diese Praktika organisieren? Drei mal dürfen Sie raten!
Auch bei der angeblichen Luxus-Variante schulischer Inklusion bekommen Eltern in Hamburg nichts geschenkt.
Mein Wunsch für eine „Inklusionsmetropole“ Hamburg:
Deutliche Verbesserung der sonderpädagogischen Förderung in Regelschulen
Einführung eines verpflichtenden differenzierenden Unterrichts an allen Schulen
Die Hamburger Behörde für Schule und Berufsbildung BSB hat in den letzten Jahren zahlreiche Handreichungen zur schulischen Inklusion herausgegeben. Was die Theorie angeht, ist man in Hamburg gut aufgestellt!
Aber wie sieht es vor Ort in den Regelschulen mit der Inklusion tatsächlich aus?
Seit fünf Jahren wird unser Kind mit einer Behinderung (FASD) an einer Stadtteil- und Schwerpunktschule inklusiv beschult.
Seit fünf Jahren bin ich an eben dieser Stadtteilschule als Elternvertreterin und Mitglied des Elternrats in Sachen Inklusion unterwegs.
Hier einige von mir gesammelte Stimmen zur Inklusion aus den letzten zwei Jahren:
„Meine Aufgabe ist es, Schülerinnen und Schüler erfolgreich in Ausbildung zu bringen. Um die behinderten Schüler in meiner Klasse kümmern sich die Eltern.“ (Lehrer in der Mittelstufe)
„Lehrerinnen und Lehrer in Mathematik oder Naturwissenschaften können gar nicht richtig differenzieren. Natürlich mache ich das.“ (Sonderpädagogin in der Mittelstufe)
“Vom Mathelehrer kann ich nicht erwarten, dass er unser Kind individuell fördert. Der muss sich doch um die andern Kinder kümmern.“ (Mutter eines Kindes mit Dyskalkulie. Das Kind erhält die nötige individuelle Förderung über eine privat finanzierte Lerntherapie.)
“Jeder neuen Lehrerin, jedem neuen Lehrer müssen wir erklären, dass unser Kind Anspruch auf Nachteilsausgleich hat.“ (Vater eines Kindes mit ausgeprägter Lese-Rechtschreib-Schwäche)
„Für die Differenzierung sind die Sonderpädagogen zuständig.“ (Lehrerinnen und Lehrer in Unter- und Mittelstufe)
“Für einige Kinder und Jugendliche ist die Inklusion sicherlich gut. Aber nicht für die mit schweren Behinderungen.“ (Vater im Elternrat)
“Ihr Kind zeigt sich im Unterricht kaum auffällig. Deshalb hat es keinen großen Förderbedarf. Den haben vor allem die Kinder und Jugendlichen, die so auffällig sind, dass sie regelmäßig den Unterricht sprengen.“ (Förderkoordinatorin)
„Ihr Kind kann die Klassenarbeit ruhig mitschreiben. Wird ja eh nicht benotet, da es zieldifferenziert unterrichtet wird.“ (Lehrer in der Mittelstufe)
“Es tut mir leid, aber die Mathetestung Ihres Kindes hat ergeben, dass es erst auf dem Stand Anfang zweiter Klasse ist.“ (Sonderpädagogin zu den Eltern einer Schülerin in Klasse 8!)
“Unterrichtsmaterialien für den Grundschulbereich finde ich in der Schulbibliothek nicht.“ (Schulbegleitung eines Kindes, das zieldifferenziert unterrichtet wird)
“Ihr Kind hat zwar einen speziellen Förderbedarf. Aber uns fehlen leider die Sonderpädagogen, um die individuelle sonderpädagogische Förderung abzudecken, die Ihrem Kind zustände.“ (Förderkoordinatorin)
Fazit:
Auf dem Papier ist die Inklusion fest verankert. In der Praxis ist sie noch längst nicht angekommen.
Zu oft fehlen in Hamburgs Regelschulen Fachwissen, gut erprobte Konzepte, verlässliche Kommunikationsstrukturen und vor allem ausreichende Ressourcen. Doch daran liegt es nicht allein.
Immer noch zu oft werden Kinder mit Behinderungen als etwas besonderes, etwas nicht normales, etwas zusätzliches oder gar belastendes angesehen.
In einer inklusiven Schule ist jedes Kind normal oder besonders – je nach Sichtweise. Jedes Kind ist gleich wertvoll!
Mein Wunsch für eine „Inklusionsmetropole“ Hamburg: Entwicklung einer Haltung, die Menschen mit Behinderungen als selbstverständlich ansieht und mitdenkt – nicht nur in der Schule, sondern überall.
Mein Großvater war hirnverletzt. Aus dem Krieg brachte er Bombensplitter in seinem Kopf mit nach Hause. Die begleiteten ihn, bis er im Alter von 78 Jahren starb.
Die Splitter im Kopf verursachten immer wieder Schmerzen. Das machte meinen Großvater depressiv und aggressiv zugleich. Das war nicht leicht für seine Frau und seine Kinder.
Unser Pflegekind hat keine Splitter im Kopf. Sein Gehirn ist durch einen vorgeburtlichen Alkohol- und Drogenkonsum auf Dauer verändert. Wenn zu viele Dinge gleichzeitig auf unser Kind einströmen, ist es überfordert und reagiert aggressiv. Oder es schaltet ab und verweigert sich.
Als junge Frau habe ich ein Jahr lang mit Menschen mit einer Cerebralparese zusammen gelebt und gearbeitet. Bei einer Cerebralparese können sich Gehirn und Muskulatur nicht richtig miteinander verständigen. Menschen mit Cerebralparese haben Schwierigkeiten, ihre Bewegungen zu steuern. Sie haben Spastiken. Ihr Gleichgewicht ist gestört.
Bei autistischen Menschen wird vermutet, dass ihre unterschiedliche Wahrnehmung und Informationsverarbeitung auf unterschiedlichen Verarbeitungsprozessen im Gehirn beruhen.
Fragt man nach den Gemeinsamkeiten von Menschen mit Hirnverletzungen, FASD, Cerebralparese oder Autismus, so könnte eine Antwort darauf lauten:
Die Gehirne dieser Menschen sind geschädigt oder gestört. Dadurch sind sie dauerhaft eingeschränkt.
Diese Antwort geht von einer defizitär ausgerichteten Sichtweise aus. Das heißt:
Es gibt eine Norm. Alles, was von dieser Norm abweicht, ist schlecht, nicht normal, kaputt oder krank.
Viele Menschen mit Behinderung werden bis heute so definiert: Als Menschen, die nicht laufen, nicht sprechen, nicht hören, nicht sehen oder nicht richtig denken können.
Man kann aber auch sagen:
Die Gehirne dieser Menschen ticken anders: Sie sind anders verdrahtet und geschaltet. Deshalb entwickeln sie sich anders, nehmen anders wahr und kommunizieren anders.
Die Wissenschaft bezeichnet dies als Neurodiversität.
Neurodiversität bedeutet neurologische Vielfalt. Jeder Mensch, jedes Gehirn ist anders. Es gibt nicht den einen neurobiologischen Bauplan, sondern viele verschiedene. Damit entfällt die Unterscheidung zwischen gut oder schlecht, gesund oder krank, heile oder kaputt, normal oder behindert.
Jeder Mensch wird zu dem, was er ist: einzigartig und wunderbar!
Mein Wunsch für eine „Inklusionsmetropole Hamburg“: ein neues Verständnis von Behinderung, das sich nicht an Defiziten orientiert,sondern jeden Menschen in seiner Einzigartigkeit Wert schätzt!
Auf einem Spielplatz in Bergedorf. Unser Kind ist knapp drei Jahre alt und spielt mit einer Freundin aus der Krabbelgruppe. Eine weitere Mutter kommt mit ihren Kindern auf den Spielplatz. Eins davon möchte gerne mitspielen. Die Freundin aus der Krabbelgruppe rennt zu ihrer Mutter, geht hinter deren Rücken in Deckung. Derweil teilt unser Kind die Schaufeln. Der Mutter aus der Krabbelgruppe ist das ganze sichtlich peinlich: „Meine Tochter hat noch nie ein schwarzes Kind gesehen.“
Gut ein Jahr später auf einem anderen Spielplatz. Eine nicht sehr alte Frau im Rollstuhl sieht den Kindern beim Spielen zu. Die meisten Kinder (und Erwachsenen) schauen, scheinen verunsichert. Ganz selbstverständlich geht unser Kind auf die Frau zu und erkundigt sich, ob ihr Rollstuhl einen Elektroantrieb habe. Denn: Mit Rollstühlen kenne es sich aus. Sein Kumpel aus der Frühfördergruppe habe gerade einen neuen E-Rolli bekommen, während sein Bobby Car leider nur Fußantrieb habe.
Wieder einige Jahre später. Unser Kind ist inzwischen ein Schulkind. Wir besuchen die Oma im Krankenhaus. Sie hatte einen Schlaganfall und kann nicht laufen. Im Krankenzimmer steht ein Rollstuhl. Unser Kind ist begeistert: „Oma, keine Sorge. Den erklär ich dir ganz genau. Und dann schieb ich dich!“
Warum schreibe ich das? Weil ich es toll finde, wie selbstverständlich unser Kind mit vielem umgeht. Und das ganz ohne unser Zutun als Eltern.
Denn: Bevor es zu uns kam, hat unser Kind zehn Monate in einem Kinderheim gelebt, gemeinsam mit Kindern (und Erziehern) in vielen verschiedenen Hautfarben. Für unser Kind ist es seitdem völlig normal, dass Menschen unterschiedlich aussehen.
In seinen ersten Lebensjahren war unser Kind sehr entwicklungsverzögert. Daher besuchte es lange Zeit eine integrative Frühfördergruppe. Hier hat unser Kind gelernt, dass es völlig okay ist, dass einige Kinder nicht laufen können. Oder nicht sprechen. Dafür nutzen sie spannende Hilfsmittel zur Fortbewegung. Und zur Kommunikation.
Viel wichtiger für unser Kind war es, in jeder Gruppenstunde die Rosinen aus dem rohen Brötchenteig zu picken. Natürlich gemeinsam mit den anderen Kindern. Denn alle mochten Rosinen – Behinderung hin oder her. Und alle haben sich anschließend gemeinsam wie Bolle gefreut, wenn sich die Erwachsenen darüber wunderten, wo denn die Rosinen in den fertig gebackenen Rosinenbrötchen geblieben waren.
Wenn Kinder von klein auf zusammen in Vielfalt leben, dann wird Vielfalt für sie zu etwas selbstverständlichem.
Mein Wunsch für eine „Inklusionsmetropole Hamburg“: ein selbstverständliches Miteinander von Kindern mit und ohne Behinderung – in Kindergärten und Schulen, auf Spielplätzen, beim Ferienprogramm, auf Freizeiten, in Sportvereinen, einfach überall.