Unser Kind mit Behinderung arbeitet seit Mai in einer Firma für Veranstaltungstechnik. Und ist dort super glücklich.
Auch der Betrieb ist mehr als zufrieden mit der Arbeit unseres Kindes. Gerne möchte er unserem Kind die Möglichkeit zur Qualifizierung geben.
Hätte unser Kind keine Behinderung, wäre es bereits vor drei Monaten mit der Ausbildung zur Fachkraft für Veranstaltungstechnik gestartet.
Doch mit Behinderung ist alles komplizierter.
Denn: Wegen seiner Lernschwierigkeiten schafft unser Kind keine Vollausbildung.
Das ist dem Betrieb egal. Der sagt: „Bis zu 80 Prozent der Ausbildung kann Ihr Kind schaffen. Das reicht uns.“
Ganz anders sieht das der für unser Kind zuständige Reha-Berater in der Agentur für Arbeit.
Die berufspsychologische Testung unseres Kindes durch die Agentur für Arbeit hat ergeben:
„Die Teilnahme an einer Vollausbildung ist unrealistisch. Dafür sind die behinderungsbedingten Lernschwierigkeiten zu groß.“
Daher empfiehlt das berufspsychologische Gutachten eine theoriereduzierte Ausbildung für „Förderschüler“. Mit entsprechend gestalteten Rahmenbedingungen wie einer kleinen Lerngruppe und einer intensiven sonderpädagogischen Unterstützung.
Der Haken an der Sache: Im Bereich Veranstaltungstechnik gibt es (noch) keine theoriereduzierte Ausbildung.
Also sagt der Reha-Berater: „Was es nicht gibt, kann auch nicht gefördert werden.“
Und empfiehlt unserem Kind eine Ausbildung zum Werker im Garten- und Landschaftsbau.
Auch wenn das nicht der Wunschberuf unseres Kindes ist.
Unser Kind könnte sich auch über eine Unterstützte Beschäftigung im Bereich Veranstaltungstechnik qualifizieren.
Bei einer Unterstützten Beschäftigung werden Menschen mit Behinderung direkt vor Ort in einem Betrieb angeleitet. Sie können ausprobieren, welche betrieblichen Tätigkeiten sie gut schaffen. Und sich darüber auf eine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung in dem Betrieb vorbereiten.
Allerdings: Die betriebliche Qualifizierung im Rahmen einer unterstützten Beschäftigung ist keine Ausbildung. Sie dient alleine dazu, behinderte Menschen auch ohne formale Bildungsabschlüsse in eine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt zu bringen.
Für unser Kind hieße das, dass es nicht über den Status eines angelernten Hilfsarbeiters hinaus käme. Überdies würde es in der Zeit der Qualifizierung kaum etwas verdienen.
Doch unser Kind möchte mehr. Es will sich nicht mit einem direkten Einstieg in eine Anlerntätigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt zufrieden geben. Es möchte lernen und eine Ausbildung machen – so wie seine nicht-behinderten Freunde auch.
Bei uns in der Familie bin meist ich als Mutter für die Terminplanung zuständig.
Eine nicht immer leichte Aufgabe. Vor allem dann, wenn ein Kind mit Behinderung in der Familie ist.
Viele Termine drehen sich um die Themen Gesundheit und Therapie.
Da sind zunächst einmal die regelmäßigen Vorsorge-Termine für alle Kinder. Beim Zahnarzt, beim Kinderarzt, beim Augenarzt und beim Hals-Nasen-Ohrenarzt.
Hinzu kommen die Spezial-Termine. Beim Kinderneurologen, bei der Kinderpsychologin, bei der Ergotherapie – um nur einige zu nennen.
Wie wird es mit der Gesundheitsvorsorge funktionieren, wenn unser Kind mit Behinderung erwachsen ist und nicht mehr bei uns leben wird?
Menschen mit einer Lernbehinderung oder einer geistigen Behinderung haben ein erhöhtes Gesundheitsrisiko.
Bei vielen von ihnen werden Krankheiten nicht rechtzeitig erkannt und behandelt.
Das liegt daran, dass unser Gesundheitssystem kaum eingestellt ist auf die besonderen Bedarfe vieler Menschen mit Behinderung.
Zu oft fehlen Zeit und Verständnis bei der medizinischen Behandlung.
Häufig gehen Menschen mit einer Lernbehinderung oder geistigen Behinderung erst gar nicht zum Arzt. Weil sie früher schlechte Erfahrungen gemacht haben. Weil sie Angst davor haben, dass der Arzt sie für dumm hält. Weil sie nicht verstehen, was der Arzt sagt. Oder weil ihnen nicht bewusst ist, dass sie krank sind und ein Arzt ihnen helfen kann.
Die Folgen sind gravierend: Menschen mit einer Lernbehinderung oder geistigen Behinderung leiden häufiger an Schmerzen als nicht behinderte Menschen. Einige sterben sogar früher.
Gleichzeitig ist es für Menschen mit einer Lernbehinderung oder geistigen Behinderung sehr schwer, Zugang zu Präventionsangeboten zu erhalten.
Also Zugang zu Angeboten, die die Gesundheit bereits im Vorfeld stärken. Die sich mit den Fragen beschäftigen:
Wie kann ich gesund essen?
Wie kann ich mich ausreichend bewegen?
Wie gehe ich mit Stress um?
Wie gehe ich mit Alkohol, Tabak oder anderen Drogen um?
In Hamburg gibt es jetzt ein neues Projekt, das genau das ändern möchte. Es heißt BESSER GESUND LEBEN.
Ziel dieses Projekts ist es, die Gesundheit und Lebensqualität von Menschen mit einer Lernbehinderung oder geistigen Behinderung zu verbessern.
Das besondere an dem Projekt: Viele verschiedene Menschen, die sich mit Gesundheitsvorsorge beschäftigen, arbeiten zusammen mit Menschen mit Lernbehinderung oder geistiger Behinderung. Gemeinsam wollen sie voneinander lernen und herausfinden:
Wie können Menschen mit einer Lernbehinderung oder geistigen Behinderung gesund leben? Wie können Menschen mit einer Lernbehinderung oder geistigen Behinderung länger gesund bleiben? Was müssen sie dafür machen? Wie kann man Menschen mit einer Lernbehinderung oder geistigen Behinderung gut dabei unterstützen?
Dazu beraten Fachleute für Pflege mehr als 200 Menschen mit einer Lernbehinderung oder geistigen Behinderungen. Ganz individuell und kostenlos.
Interesse an dem Projekt? Bis Ende des Jahres werden noch erwachsene Teilnehmer mit einer Lernbehinderung oder geistigen Behinderung gesucht!
Eigentlich wollte unser behindertes Kind direkt nach der Schule mit einer betrieblichen Ausbildung beginnen. So wie seine nicht behinderten Freunde auch.
Dazu hat unser Kind über ein Jahr lang Praktika gemacht, in unterschiedlichen Einrichtungen und Betrieben.
Am Ende der Praktika gab es von allen Seiten nur gute Rückmeldungen. Trotzdem hat unser Kind nach Abschluss der Schule mit keiner Ausbildung begonnen.
Hat sich unser Kind nicht ausreichend angestrengt? Hätten wir als Eltern mehr unterstützen müssen?
Inzwischen weiß ich:
Es liegt nicht an unserem Kind oder an uns, dass es mit einem nahtlosen Wechsel von der Schule in die Ausbildung nicht geklappt hat. Es liegt an einer strukturellen Diskriminierung von jungen Menschen mit Behinderung.
Nurwenigen Jugendlichen mit Behinderung gelingt in Deutschland ein nahtloser Wechsel von der Schule in eine betriebliche Ausbildung.
Etwas mehr schaffen den nahtlosen Wechsel in eine überbetriebliche Ausbildung.
Jugendliche mit einer geistigen oder psychischen Behinderung wechseln besonders häufig direkt nach der Schule in eine Werkstatt für behinderte Menschen.
Die meisten Jugendlichen mit Behinderung werden nach Schulende zunächst in Maßnahmen des sogenannten Übergangsbereich vermittelt.
Der Übergangsbereich ist für Jugendliche gedacht, die nach dem Ende ihrer Schulzeit noch keinen Ausbildungsplatz gefunden haben.
Ziel des Übergangbereichs ist es, die Ausbildungschancen dieser Jugendlichen zu verbessern.
Eine Vielzahl regional sehr unterschiedlicher Programme und Maßnahmen sollen die Berufsorientierung stärken und eine erste berufliche Qualifizierung ermöglichen. Auch Schulabschlüsse können im Übergangsbereich nachgeholt werden.
Allerdings führen die Angebote des Übergangbereichs zu keinem Berufsabschluss. Auf eine spätere Ausbildung werden sie nicht angerechnet.
Angelegt ist der Übergangsbereich als Notfallplan. Und damit als ein Plan B.
Ein Plan B, der nur dann in Kraft tritt, wenn es mit Plan A (dem nahtlosen Wechsel in eine Ausbildung) nicht geklappt hat.
Den meisten Jugendlichen ohne Behinderung gelingt in Deutschland tatsächlich ein nahtloser Wechsel von der Schule in eine Ausbildung. Für sie erübrigt sich damit der Übergangsbereich.
Anders sieht dies bei Jugendlichen mit Behinderung aus.
Für die meisten behinderten Jugendlichen ist der Übergangsbereich bereits Plan A und damit fester Bestandteil ihres Lebenslaufs.
Viele Lehrer und Berufsberater an den inklusiven Stadtteilschulen in Hamburg gehen einfach davon aus, dass behinderte Jugendliche nach Abschluss ihrer 10jährigen Schulzeit automatisch in ein sogenanntes Ausbildungsvorbereitungsjahr wechseln.
Auch bei unserem Kind war das so.
Den behinderten Jugendlichen und ihren Eltern wird gesagt:
Durch das Ausbildungsvorbereitungsjahr lässt sich das in Hamburg geltende 11. Pflichtschuljahr erfüllen. (Dass sich das 11. Pflichtschuljahr auch über den Besuch einer Berufsschule während des ersten Ausbildungsjahres erfüllen lässt, bleibt unerwähnt.)
Oft heißt es auch:
Jugendliche mit Behinderung sind nach dem Ende ihrer Schulzeit noch nicht reif für eine Ausbildung.
Beides hat zur Folge, dass sich behinderte Jugendliche während ihrer Schulzeit in der Regel erst gar nicht mit der Suche nach einem Ausbildungsplatz beschäftigen.
In der Agentur für Arbeit ist meist die sogenannte Reha-Abteilung für Menschen mit Behinderung zuständig.
In Hamburg beginnen die Berufsberater der Reha-Abteilung ihre Vermittlungstätigkeit generell erst am Ende der 11jährigen Pflicht-Schulzeit.
Damit wird das Ausbildungsvorbereitungsjahr im Anschluss an die 10jährige Schulzeit für inklusiv beschulte behinderte Jugendliche zum Pflichtjahr.
Und es geht noch weiter.
Am Ende des Ausbildungsvorbereitungsjahres empfehlen Hamburgs Reha-Berater oftmals die Teilnahme an einer weiteren berufsvorbereitenden Bildungsmaßnahme.
Das heißt: Behinderte Jugendliche sollen möglichst ein weiteres Jahr im Übergangsbereich verbleiben. Um weiterhin bestehende „Defizite“ auszugleichen.
Nur so lasse sich die Chance auf den erfolgreichen Abschluss einer anschließenden Ausbildung vergrößern.
Allerdings zeigt die Praxis: Genau das Gegenteil ist der Fall!
Je länger ein behinderter Jugendlicher im Übergangsbereich verbleibt, umso schlechter werden seine Chancen auf eine erfolgreiche Ausbildung und eine anschließende Beschäftigung auf dem 1. Arbeitsmarkt.
Viele sagen daher:
Der Übergangsbereich ist wie eine Black Box. Wer einmal im Übergangsbereich ist, dem gelingt kaum noch der Sprung in Ausbildung und Beschäftigung.
Der Übergangsbereich ist ein Sondersystem, das gegen die UN-Behindertenrechtskonvention verstößt.
Einzige Aufgabe dieses Sondersystems ist es, ausschließlich defizitär definierte Gruppen von Jugendlichen aufzufangen, denen ein nahtloser Wechsel von Schule in Ausbildung verwehrt wird.
Durch das dauerhafte Bereitstellen dieses Sondersystems müssen sich bestehende Exklusionsmechanismen des Arbeitsmarkts nicht ändern. Inklusion wird verhindert.
Vor 10 Jahren wurde in Hamburg die schulische Inklusion eingeführt.
Nun – 10 Jahre später – verlassen die ersten inklusiv beschulten Jugendlichen mit Behinderung die Regelschulen.
Wie geht es für sie weiter? Wie sieht ihre berufliche Zukunft aus? Welche Berufe wollen und können sie ergreifen? Wer hilft ihnen bei Berufswahl und Ausbildung?
Die UN-Behindertenrechtskonvention benennt klar und deutlich, wie inklusive Arbeit und Berufsbildung aussehen sollen:
Alle Menschen haben das Recht auf frei gewählte und gerecht bezahlte Arbeit, damit sie ihren Lebensunterhalt selbst verdienen können.
Um dieses Recht zu verwirklichen, müssen Arbeitsmarkt und Arbeitsumfeld inklusiv gestaltet und auch für Menschen mit Behinderung zugänglich sein.
Entscheidend für den späteren Berufsweg eines Menschen sind schulische und berufliche Bildung.
An ein inklusives Schulwesen muss sich ein inklusives Ausbildungswesen anschließen.
Berufsorientierung und Berufsvorbereitung sind inklusiv zu gestalten.
Menschen mit und ohne Behinderung sollen gemeinsam in Betrieben oder Schulen/Hochschulen ausgebildet werden.
Alle anerkannten Berufe sollen auch für Menschen mit Behinderung zugänglich sein. Wo nötig, müssen unterstützende individuelle Vorkehrungen getroffen werden.
Sonderausbildungen für Menschen mit Behinderung müssen abgeschafft werden.
Anstatt auf Gleichbehandlungsgebote und gleiche Leistungsanforderungen zu drängen, sollen Kreativität und Vielfalt gestärkt werden.
Ausgehend von diesen Punkten frage ich:
Wie inklusiv ist die berufliche Bildung in Hamburg inzwischen aufgestellt?
Im Juli hat unser behindertes Kind die Stadtteilschule ohne Abschluss beendet.
Eigentlich wollte es im Anschluss mit einer betrieblichen Ausbildung starten – so wie seine besten (nicht-behinderten) Freunde auch.
Doch während diese die Ausbildung längst begonnen haben, wartet unser Kind weiterhin auf eine klare, verlässliche Ausbildungsperspektive.
Dabei hat unser Kind ein Ausbildungsangebot – von einer Firma, in der es Praktikum gemacht hat und in der es seit drei Monaten erfolgreich jobbt.
Die Firma ist so zufrieden mit der Arbeit unseres Kindes, dass sie ihm die Möglichkeit zur Qualifizierung bieten möchte.
Die Firma weiß: Aufgrund seiner Behinderung schafft unser Kind keine reguläre Vollausbildung. Aber sie ist offen für alternative, inklusive Ausbildungswege.
Das Problem: Auch 13 Jahre nach Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention fehlen in Deutschland Vorgaben und Beispiele für eine inklusive Berufsausbildung.
Das Berufsbildungsgesetz (BBiG) legt fest, dass Menschen mit Behinderung vorrangig in einem anerkannten Ausbildungsberuf ausgebildet und die Verhältnisse behinderter Menschen berücksichtigt werden sollen (§ 65). Dies deckt sich mit den Forderungen der UN-Behindertenrechtskonvention.
Für Jugendliche, die aufgrund der Art und Schwere ihrer Behinderung keine reguläre Ausbildung schaffen, sieht das Berufsbildungsgesetz theoriereduzierte Fachpraktiker-Ausbildungen vor (§ 66). Bereits hier wird es problematisch.
Denn: Durch Fachpraktiker-Ausbildungen werden neue Sonderwelten für junge Menschen mit Behinderung geschaffen. Die Ausbildungen finden in speziellen Berufsschulen und überwiegend überbetrieblich statt. Der Beruf des Fachpraktikers ist ausschließlich für Menschen mit Behinderung gedacht und von Beginn an mit einer geringeren Entlohnung verbunden als bei regulären Berufen.
Hinzu kommt, dass Fachpraktiker-Ausbildungen zwar theoriereduziert, aber nicht individualisiert angelegt sind. Ausgehend von der Vorstellung, Leistungen vergleichbar machen zu müssen, setzen Fachpraktiker-Ausbildungen ein festgelegtes Maß an Wissen und Fähigkeiten voraus. Das heißt: Ein junger Mensch mit Behinderung muss sich an die Leistungsanforderungen der Ausbildung anpassen. Die Anpassung der Ausbildung an die individuellen Fähigkeiten und Bedürfnisse eines behinderten Menschen ist nicht möglich. Dadurch werden viele junge Menschen mit Lernbehinderung oder geistiger Behinderung von Fachpraktiker-Ausbildungen ausgeschlossen.
Für junge Menschen, die aufgrund ihrer Behinderung weder eine Vollausbildung noch eine Fachpraktiker-Ausbildung schaffen, bietet das Berufsbildungsgesetz die Möglichkeit, Qualifizierungsbausteine zu erwerben (§ 69).
Aufgabe von Qualifizierungsbausteinen ist es, „Grundlagen für den Erwerb beruflicher Handlungsfähigkeit“ zu vermitteln. Übersetzt heißt dies: Qualifizierungsbausteine sollen junge Menschen mit Beeinträchtigungen soweit fit machen, dass sie im Anschluss doch noch eine Ausbildung schaffen.
Der Erwerb von Qualifizierungsbausteinen ist auf berufliche Ausbildungsvorbereitungs-Maßnahmen begrenzt. Diese finden ausschließlich überbetrieblich in Sondereinrichtungen wie Werkstätten für behinderte Menschen statt. Erworbene Qualifikationen lassen sich nicht auf eine anschließende Ausbildung anrechnen.
Auch Qualifizierungsbausteine sind an einen festgelegten Leistungskatalog geknüpft. Wenn ein junger Mensch mit Behinderung nicht alle Anforderungen eines Qualifizierungsbausteins erfüllt, bleibt er auch hier bei der Qualifizierung außen vor.
Erschwerend kommt hinzu: Es ist äußerst aufwendig, normierte Vorgaben für Fachpraktiker-Ausbildungen und Qualifizierungsbausteine zu erstellen. Daher gibt es bisher nur eine sehr begrenzte Zahl an Berufen, in denen Fachpraktiker-Ausbildungen oder der Erwerb von Qualifizierungsbausteinen möglich sind. In Hamburg werden derzeit nur 5 (!) Fachpraktiker-Ausbildungen angeboten. Während nicht-behinderte junge Menschen zwischen vielen unterschiedlichen Berufen wählen können, ist behinderten Menschen eine echte Berufswahl somit nicht möglich.
Was bedeutet das für unser Kind mit Behinderung?
Zwar hat ein Betrieb unserem Kind eine Ausbildung in seinem Wunsch-Beruf angeboten. Trotzdem kann es diese Chance nicht nutzen, da es für diesen Beruf keine Fachpraktiker-Ausbildung gibt.
Selbst wenn es eine Fachpraktiker-Ausbildung für diesen Beruf gäbe, wäre es nicht sicher, ob unser Kind die dafür festgelegten theoretischen Anforderungen erfüllen könnte.
Qualifizierungsbausteine gibt es für den Wunsch-Beruf unseres Kindes ebenfalls nicht.
Es ist also völlig egal, wie gut sich unser Kind in der praktischen Arbeit vor Ort in seinem Wunsch-Beruf macht. So wie es zur Zeit aussieht, hat es nur eine einzige Perspektive: die Arbeit als Ungelernter in seinem Wunsch-Beruf.
Gleich zu Anfang seines Berufslebens erfahren zu müssen, dass man aufgrund seiner Behinderung keine Chance auf eine Berufsausbildung hat, ist hart und diskriminierend.Es verhindert eine gleichberechtigte soziale Teilhabe und verstößt gegen das Menschenrecht auf frei gewählte und gerecht bezahlte Arbeit.
Das Deutsche Institut für Menschenrechte hat 2020 in seinem 5. Bericht zur Entwicklung der Menschenrechtssituation in Deutschlandklargestellt:
Fachpraktiker-Ausbildungen sind exklusiv und stigmatisierend.
Durch Fachpraktiker-Ausbildungen werden junge Menschen mit Behinderung anders behandelt als junge Menschen ohne Behinderung. Ihre Leistungen werden als nicht ausreichend betrachtet. Ihre Ausbildung findet getrennt von der ihrer Altersgenossen statt.
Fachpraktiker-Ausbildungen schaffen neue Sonderwelten und verhindern, dass junge Menschen mit Behinderung einen Zugang zum ersten Arbeitsmarkt erhalten.
Dies lässt sich 1:1 auf eine Ausbildung über Qualifizierungsbausteine übertragen.
Immer am 9. September wird weltweit auf die FetaleAlkoholspektrumstörung (FASD) aufmerksam gemacht – und zwar bereits seit 1999.
FASD ist eine lebenslange Behinderung. Sie entsteht, wenn das Gehirn eines Kindes bereits vor seiner Geburt durch die toxigenen Bestandteile von Alkohol dauerhaft verändert wird.
In englischsprachigen Ländern wird der 9. September als FASD Awareness Day bezeichnet. Oder auch schlicht als FASD DAY. Übersetzt heißt das „FASD Bewußtseins-Tag“ oder einfach „FASD Tag“.
In Deutschland heißt der 9. September „Tag des alkoholgeschädigten Kindes“. Und genau das sollten wir schleunigst ändern!
Denn: Bezeichnungen sagen viel über Haltungen, die sich dahinter verbergen.
Unser Kind hat FASD. Wenn wir unserem Kind sagen würden: Du bist alkoholgeschädigt, würde es garantiert wütend protestieren:
„Ich bin doch kein Alkoholiker!“
„Ich bin doch nicht kaputt!“
„Ich habe doch keinen Schaden! Und erst recht keinen Dachschaden!“
Auch ich sehe unser Kind nicht als Menschen, dem ein Schaden zugefügt wurde.
Schaden – das bedeutet Beeinträchtigung, Benachteiligung, Störung, Beschädigung, Defekt, Fehler, Mangel, Gebrechen oder Leiden.
Hat etwas einen Schaden, heißt dies fast immer, es hat weniger Wert.
Überdies wird der Mensch, dem der Schaden zugefügt wurde, auf die Rolle eines Opfers reduziert.
Unser Kind ist weder beschädigt, kaputt, gebrechlich oder mangelhaft. Auch ist es kein „armes Opfer“. Und vor allem ist es eins nicht: weniger wert!
Unser Kind hat eine angeborene Behinderung. Durch den Kontakt mit Alkohol hat sich sein Gehirn im Mutterleib anders verdrahtet und verschaltet als üblich. Dadurch tickt es anders. Das macht manche Dinge kompliziert, sowohl für unser Kind wie auch seine Umwelt.
Trotzdem ist unser Kind ein wunderbarer, selbstbestimmter Mensch. Ein Mensch mit Stärken und Schwächen. So wie jeder und jede von uns.
Es gibt noch einen zweiten Grund, warum wir den „Tag des alkoholgeschädigten Kindes“ dringend umbenennen sollten.
Dort, wo es einen Geschädigten gibt, gibt es meist auch jemanden, der den Schaden verursacht hat. Der – absichtlich oder unabsichtlich – Schuld an dem Schaden hat. Das wäre bei einem Kind mit FASD seine leibliche Mutter, die während der Schwangerschaft Alkohol getrunken hat.
Allerdings ist solch eine Sichtweise wenig hilfreich für den Umgang mit FASD.
Keine schwangere Frau trinkt mit der Absicht, ihrem ungeborenen Kind bewusst zu schaden.
Schwangere Frauen trinken
weil sie sich amüsieren wollen und noch nicht wissen, dass sie schwanger sind.
weil ihnen immer noch Menschen sagen: „Ein oder zwei Schlückchen in der Schwangerschaft schaden doch nicht.“
weil sie gefangen sind in Drogen- oder Alkoholsucht.
weil sie andere schwerwiegende Probleme haben und dringend Unterstützung bräuchten.
Verurteilen wir leibliche Mütter von Kindern mit FASD, führt dies nur dazu, dass sie den Konsum von Alkohol in der Schwangerschaft verschweigen. Dadurch wird den betroffenen Kindern der Zugang zu Diagnose und notwendiger Unterstützung erheblich erschwert.
Um FASD zu verhindern und Menschen mit FASD zu unterstützen, hilft keine Stigmatisierung von Müttern. Entscheidend ist es,
das Bewusstsein für die Gefahren von Alkohol während einer Schwangerschaft immer wieder zu schärfen.
schwangere Frauen so zu unterstützen und stärken, dass sie während der Schwangerschaft auf Alkohol verzichten können.
leiblichen Müttern vorurteilsfrei zu begegnen und ihnen zusammen mit ihren betroffenen Kindern einen schnellen Zugang zum Hilfesystem zu ermöglichen.
Von daher schlage ich vor:
Lasstuns den 9. September einfach FASD-Tagnennen!
An was denken Sie bei der Bezeichnung „alkoholgeschädigtes Kind“?
Für unser großes Kind war immer klar: Gleich nach der Schule möchte es mit einer Ausbildung beginnen. Endlich arbeiten, endlich eigenes Geld verdienen.
Für unser großes Kind und mich war auch klar: Das mit einer Ausbildung wird nicht einfach werden. Denn unser Kind hat eine Fetale Alkoholspektrumstörung, bekannt als FASD. Wegen dieser Behinderung hat unser Kind keinen Schulabschluss und wird mehr Unterstützung bei der Ausbildung benötigen als andere Jugendliche.
Damit es trotzdem mit einer Ausbildung klappt, hat unser Kind bereits in seinen letzten zwei Schuljahren angefangen, nach einer Ausbildungsmöglichkeit zu suchen.
Ursprünglich wollte unser Kind im Bereich Veranstaltungstechnik arbeiten. Doch nach einem Praktikum in einer Firma für Veranstaltungstechnik hieß es im Abschlussgespräch: Die theoretischen und technischen Hürden in der Ausbildung zur Fachkraft für Veranstaltungstechnik seien sehr hoch und mit der Lernbehinderung unseres Kindes wohl nicht zu schaffen.
Also hat sich unser Kind umorientiert.
Hat mit Ehrgeiz, Freude und Erfolg zahlreiche Praktika im Garten- und Landschaftsbau gemacht.
Hat rechtzeitig die Psychologischen Eignungsuntersuchung (PSU) bei der Agentur für Arbeit absolviert.
War zum Gespräch beim Fachberater in der inzwischen für unser Kind zuständigen Reha-Abteilung der Agentur für Arbeit.
Hatte schließlich die Zusage des Berufsbildungswerks auf eine begleitete betriebliche Ausbildung zum Werker im Garten- und Landschaftsbau in der Tasche.
Unser Kind war ganz schön stolz auf sich. Und ich auf unser Kind.
Doch dann rief kurz vor Schulschluss und Sommerferien überraschend das Berufsbildungswerk an und erklärte: Die Lehrer an der Berufsschule glaubten nicht, dass unser Kind die theoriereduzierte Ausbildung zum Werker schaffe. Seine “Lernrückstände“ seien einfach zu groß.
Darum zog das Berufsbildungswerk seine Zusage auf eine begleitete Werker-Ausbildung im Garten- und Landschaftsbau wieder zurück. Stattdessen solle unser Kind zunächst ein Ausbildungsvorbereitungsjahr machen und fleißig an seinen Mathekenntnissen arbeiten. Dann könne es sich im nächsten Jahr nochmals beim Berufsbildungswerk bewerben.
Unser Kind und ich verstanden die Welt nicht mehr.
Eigentlich ist die Ausbildung zum Werker als Alternative für behinderte Menschen gedacht, die aufgrund der Art und Schwere ihrer Behinderung keine übliche Ausbildung schaffen.
Und nun sollte das für unser Kind nicht möglich sein, weil die behinderungsbedingten „Lernrückstände“ zu groß seien?
Nur zwei Tage später rief die Firma für Veranstaltungstechnik an, bei der unser Kind Praktikum gemacht hatte. Sie bräuchten dringend Leute. Und würden unser Kind gerne als Aushilfe einstellen.
Unser Kind war selig: Doch noch arbeiten und Geld verdienen!
Und: Mit einer bezahlten Aushilfstätigkeit in der Hand wurde die Perspektive eines unbezahlten Ausbildungsvorbereitungsjahres für unser Kind endlich aushaltbar.
(Nur ich hatte etwas Stress und musste innerhalb weniger Wochen ein Ausbildungsvorbereitungsjahr organisieren.)
In gut drei Wochen soll es nun losgehen mit dem Ausbildungsvorbereitungsjahr. Eigentlich. Denn seit wenigen Tagen ist wieder alles anders:
Unser Kind hat ein Ausbildungsplatz-Angebot!
Bei der Firma für Veranstaltungstechnik, in der es jobbt!
Wie es jetzt weitergeht? Noch haben wir keinen Plan. Die Agentur für Arbeit ist angeschrieben. Ein Beratungstermin bei der zuständigen Handelskammer ist in Arbeit.
In Hamburgs Schulen gibt es viele Arten von Förderung.
Sprachförderung, Lernförderung, sonderpädagogische Förderung, Begabtenförderung … Da verliert man leicht den Überblick.
Damit das nicht so schnell passiert, stelle ich Ihnen die 6 wichtigsten Fördermaßnahmen kurz vor.
Fördermaßnahme 1: Fördern statt Wiederholen
Schüler in Hamburg können nicht mehr sitzenbleiben.
Das heißt: Schlechte Schüler, die das Lernziel in (mindestens) einem Unterrichtsfach nicht erreichen, müssen kein Schuljahr mehr wiederholen.
Stattdessen erhalten sie eine kostenlose Lernförderung (§ 45 Hamburgisches Schulgesetz).
Die Lernförderung wird von jeder Schule in Eigenregie organisiert. Die meisten Schulen beauftragen externe Anbieter (Nachhilfeinstitute) oder Einzelpersonen (Studenten) für Nachhilfestunden nach Schulschluss. Die Kosten dafür trägt die Schulbehörde.
Die Zeugniskonferenz entscheidet darüber, welcher Schüler eine kostenlose Lernförderung erhält.
Fördermaßnahme 2: Kermit und Co.
Schüler in Hamburg werden regelmäßig getestet. So wird ermittelt, wie gut oder schlecht sie in einzelnen Fächern sind.
Die Testergebnisse helfen den Lehrern, ihren Unterricht noch besser auf den Lernstand ihrer Schüler auszurichten. Die Lernentwicklung von Schülern wird sichtbar gemacht.
Zwei bekannte Tests sind die Hamburger Schreibprobe (HSP) und der KERMIT-Test.
Mit der Hamburger Schreibprobe wird jährlich die Rechtschreibleistung aller Schüler geprüft.
Unter dem Motto „Kompetenzen ermitteln“ (KERMIT) schreiben Hamburger Schüler in Klasse 2, 3, 5, 7, 8 und 9 jeweils im Frühjahr Tests in allen Kernfächern.
Fördermaßnahme 3: Sonderpädagogische Förderung
Seit Oktober 2009 haben Kinder und Jugendliche mit sonderpädagogischem Förderbedarf das Recht, allgemeine Schulen zu besuchen ( § 12 Hamburgisches Schulgesetz). Dort werden sie gemeinsam mit Schülern ohne sonderpädagogischen Förderbedarf unterrichtet und besonders gefördert.
Was bedeutet sonderpädagogischer Förderbedarf?
Sonderpädagogischer Förderbedarf liegt vor, wenn Schüler in ihren individuellen Bildungs-, Entwicklungs- und Lernmöglichkeiten so weitreichend beeinträchtigt sind, dass sie ohne gezielte sonderpädagogische Förderung und Unterstützung ihre Möglichkeiten nicht erfolgreich entfalten können.
Sonderpädagogischen Förderbedarf gibt es in folgenden Bereichen:
Lernen,
Sprache,
Emotionale und soziale Entwicklung,
Körperliche und motorische Entwicklung,
Geistige Entwicklung,
Hören (Gehörlosigkeit und Schwerhörigkeit),
Sehen (Blindheit und Sehbehinderung),
Autismus
und in besonderen Ausnahmefällen im Förderschwerpunkt Pädagogik bei Krankheit.
Um zu prüfen, ob ein sonderpädagogischer Förderbedarf vorliegt, stellen die Eltern oder die Schule einen Antrag.
Zwei unterschiedliche Verfahren klären, ob ein sonderpädagogischer Förderbedarf vorliegt:
Wird ein Förderschwerpunkt in den Bereichen Lernen, Sprache oder emotionale und soziale Entwicklung (LSE) vermutet, sind die Schule und das Regionale Bildungs- und Beratungszentrum für die Prüfung und Diagnostik zuständig.
Wird ein Förderschwerpunkt in den Bereichen Hören und Kommunikation, Sehen, Autismus, geistige Entwicklung oder körperliche und motorische Entwicklung (Spezielle Förderbedarfe!) vermutet, wird ein Gutachten zur Überprüfung und Feststellung ein sonderpädagogischen Förderbedarfs (gem. § 12 Abs. 3 AO-SF) erstellt. Das zuständige Regionale Bildungs- und Beratungszentrum koordiniert die Erstellung dieses Gutachtens. Dazu befragt es Lehrer, Eltern und gegebenenfalls Fachkräfte der speziellen Sonderschulen oder der überregionalen Bildungszentren für Hören und Kommunikation, für Blinde und Sehbehinderte oder für Pädagogik bei Krankheit/Autismus.
Umfang und Organisation der Förderung hängen davon ab, ob ein sonderpädagogischer Förderbedarf LSE oder ein spezieller Förderbedarf festgestellt wurde.
Weitere Informationen zur sonderpädagogischen Förderung finden Sie hier.
Fördermaßnahme 4: Sprachförderung
Es gibt Schülerinnen und Schüler, deren Deutschkenntnisse nicht ausreichen, um erfolgreich am Unterricht teilnehmen zu können.
Diese Schüler müssen in Hamburg an einem zusätzlichem Sprachunterricht teilnehmen (§ 28a Hamburgisches Schulgesetz).
Der zusätzliche Sprachunterricht findet in der Regel entweder parallel zu offenen Lernangeboten im Ganztag oder als Teil eines Förderbandes statt.
Neu zugewanderte Kinder und Jugendliche besuchen zunächst für ein Jahr eine Internationale Vorbereitungsklasse (IVK). Anschließend wechseln sie in eine reguläre Klasse, in der sie ein Jahr lang weiter gefördert werden.
Eine Besonderheit in Hamburg ist die vorschulische Sprachförderung. Bei der sogenannten Viereinhalbjährigen-Untersuchung werden alle Kinder im Alter von 4 1/2 Jahren in der für sie zuständigen Grundschule genau geprüft. Wird ein Sprachförderbedarf festgestellt, wird das betroffene Kind mit 5 Jahren automatisch in die Vorschule aufgenommen und erhält hier eine zusätzliche Sprachförderung.
Anteile der Schülerinnen und Schüler mit und ohne Migrationshintergrund im Schuljahr 2020/21 (Quelle: Hamburger Schuljahresstatistik 2020)
Fördermaßnahme 5: Begabtenförderung
Das Hamburgische Schulgesetz sieht vor, dass Schülerinnen und Schüler „in ihren individuellen Fähigkeiten und Begabungen, Interessen und Neigungen gestärkt und bis zur vollen Entfaltung ihrer Leistungsfähigkeit gefördert und gefordert werden“ sollen (§ 3 Hamburgisches Schulgesetz).
Daher werden auch besonders begabte und hochbegabte Schülerinnen und Schüler speziell gefördert.
Ein Aktionsprogramm zur Begabtenförderung fordert jede Schule auf, ein schulspezifisches Konzept zur Begabtenförderung zu entwickeln.
Die Beratungsstelle besondere Begabungen (BbB) berät und unterstützt Schulen, Lehrkräfte, Eltern sowie Schülerinnen und Schüler bei Fragen der Förderung von besonders begabten und hochbegabten Kindern und Jugendlichen.
Fördermaßnahme 6: Außerunterrichtliche Lernhilfen
Schon einmal etwas von AUL gehört?
AUL steht für Außerunterrichtliche Lernhilfen.
Außerunterrichtliche Lernhilfen erhalten Kinder mit besonderen Schwierigkeiten im Lesen und/oder Rechtschreiben (Lese-Rechtschreibschwäche) oder im Rechnen (Rechenschwäche/Dyskalkulie).
Die Förderung findet in Form einer Lerntherapie statt.
Ein von der Schulbehörde anerkannter Lerntherapeut führt die Lerntherapie durch.
Die Lerntherapie kann innerhalb wie außerhalb der Schule stattfinden, in kleinen Gruppen oder als Einzelförderung.
Ein Kind hat Anspruch auf eine außerunterrichtliche Lernhilfe, wenn es
die erste bis sechste Klasse besucht,
seinen Hauptwohnsitz in Hamburg hat,
Deutsch als Muttersprache spricht,
keinen sonderpädagogischen Förderbedarf hat,
nicht von einer seelischen Behinderung bedroht oder betroffen ist,
die Anforderungen seines Jahrgangs insgesamt erfüllt,
im Lesen und/oder Rechtschreiben allerdings für längere Zeit (mehr als sechs Monate) zu den Leistungsschwächsten in seinem Jahrgang zählt (nachweisbar über entsprechende schulische Testungen wie Hamburger Schreibprobe und Kermit).
Um eine außerunterrichtliche Lernhilfe zu erhalten, müssen Eltern einen Antrag stellen.
Die Schule ergänzt den Antrag und leitet ihn an das zuständige Regionale Bildungs- und Beratungszentrum weiter. Dieses nimmt, falls nötig, weitere Testungen vor.
Anschließend übersendet das Regionale Bildungs- und Beratungszentrum den Antrag an die Behörde für Schule und Berufsbildung zur Entscheidung.
Allerdings: Die Behörde für Schule und Berufsbildung ist nicht verpflichtet, außerschulische Fördermaßnahmen zu finanzieren.
Eine Kostenübernahme erfolgt nur im jeweils geprüften Einzelfall und regelhaft ohne Anerkennung einer Rechtspflicht.
Daher ist es gut, wenn Eltern bereits im Vorfeld mit den Lehrern ihres Kindes über den Antrag sprechen. Wenn alle informiert sind und sich gegenseitig unterstützen, hat ein Antrag bessere Chancen auf Erfolg.
Weitere Informationen zu außerunterrichtlichen Lernhilfen finden Sie hier .
Eine Mutter erzählt von der fehlenden Schulbegleitung für ihr Kind.
Sofort wird es lauter in der Gruppe:
„Das Problem haben wir auch!“
„Wenn die Schulbegleitung nicht da ist, schickt die Schule unser Kind sofort nach Hause! Das geht doch nicht!“
„Wenn es eine Schulbegleitung gibt, dann ist das meist nur ein junger Mensch im freiwilligen sozialen Jahr. Also völlig unqualifiziert für unsere Kinder!“
„Warum wird nicht mit professionellen Kräften gearbeitet?“
„Die letzte junge Frau im freiwilligen sozialen Jahr hat genau acht Wochen durchgehalten und dann frustriert und überfordert das Handtuch geworfen!“
Beim Thema Schulbegleitung sind die Fronten inzwischen deutlich verhärtet:
Eltern, die verärgert sind, weil ihre Kinder nur dann beschult werden, wenn eine Schulbegleitung anwesend ist.
Eltern, die fachlich kompetente Schulbegleitungen für ihre Kinder fordern. In der Hoffnung, dass ihre Kinder so erfolgreich an Bildung teilhaben können.
Berater in der Schulbehörde, die betonen, dass Schulbegleitungen nicht auf Dauer angelegt sind. Die deshalb regelmäßig Schulbegleitungsstunden kürzen. Und die gerne anbringen: Das sind keine Aufgaben von Schulbegleitung.
Schulen, die stöhnen, sie fänden keine Schulbegleiter. Oder von Anfang an sagen: Schulbegleitung zu beantragen ist uns zu zeitaufwendig und bringt zu wenig.
Schulbegleiter, die sich zu wenig informiert und nicht einbezogen fühlen. Denen konkrete Aufgabenbeschreibungen fehlen. Die nur befristete Arbeitsverträge erhalten und in den Ferien nicht bezahlt werden. Die oft frustriert wieder aufgeben.
Hinzu kommt das Wissen, dass es in Zukunft immer weniger qualifizierte Fachkräfte für Schulbegleitungen geben wird.
Es wird dringend Zeit, Schulbegleitung neu aufzustellen!
In Hamburg hat die Behörde für Schule und Berufsbildung gerade eine Evaluation des jetzigen Verfahrens von Schulbegleitung in Auftrag gegeben. Unter dem Titel „Schulbegleitung in Hamburg“ wollen Erziehungswissenschaftler der Universität Oldenburg herausfinden:
1. Welche Schülerinnen und Schüler erhalten eine Schulbegleitung ? Wer sind ihre Schulbegleiter?
2. Welche Erwartungen gibt es an Schulbegleitung? Wie wird Schulbegleitung wahrgenommen?
3. Was läuft gut beim jetzigen Verfahren der Schulbegleitungen? Was läuft weniger gut? Wie lässt sich Schulbegleitung insgesamt für alle verbessern?
Eine Untersuchungsmethode wird sein, verschiedene Gruppen von Personen zu befragen, die mit Schulbegleitung zu tun haben. Das sind:
in den Schulen: Schulleitungen, Förderkoordinatoren, Klassenlehrer und Sonderpädagogen.
in den Regionalen Bildungs- und Beratungszentren sowie der Fachabteilung Schulbegleitung: Koordinatoren, Fallzuständige, Gesamtleitungen, Beratungslehrkräfte.
die Leistungserbringer von Schulbegleitung: Träger und Schulbegleitungskräfte.
die Sorgeberechtigten von Schülerinnen und Schülern.
Als Mutter eines Kindes mit Behinderung fällt mir sofort auf:
In der Liste der zu befragenden Menschen fehlen die Schülerinnen und Schüler, die Schulbegleitung erhalten. Kein „Mit uns über uns“. Sondern weiterhin „Über die Köpfe von behinderten Schülerinnen und Schülern hinweg“.
Dabei ist unser Kind inzwischen Experte in Sachen Schulbegleitung. Immerhin hatte es acht Jahre lang eine Schulbegleitung an seiner Seite!
Unser Kind kann ganz genau benennen, was ihm bei einer Schulbegleitung wichtig ist.
Und das ist in erster Linie nicht die Qualifikation der Schulbegleitung.
Viel wichtiger für unser Kind ist: Es muss spüren, dass sich die Schulbegleitung einlässt und zu einer Bindung bereit ist. Dass sie unser Kind ein Stück an ihrem Leben teilhaben lässt. Das muss gar nicht viel sein. Es kann bereits reichen:
das Auto der Schulbegleitung zu kennen,
zu wissen, ob die Schulbegleitung einen Freund oder eine Freundin hat,
zu erfahren, welche Musik die Schulbegleitung mag oder welches Hobby sie hat.
Das mag sich banal anhören, ist aber für ein Kind mit Bindungsstörung enorm wichtig. Nur so kann es sich sicher fühlen und seinerseits Bindung wagen.
Bildungsforscher wissen inzwischen: Erst wenn Bindung und Vertrauen da sind, ist erfolgreiches Lernen überhaupt möglich.
Auch ich als Mutter kann inzwischen so einiges zum Thema Schulbegleitung sagen.
Eine meiner Erfahrungen ist:
Schulbegleitung durch junge Menschen im freiwilligen sozialen Jahr kann durchaus funktionieren. Wenn Vorbereitung und Rahmenbedingungen stimmen.
Unser Kind wurde in den ersten drei Grundschuljahren sehr erfolgreich durch engagierte junge Menschen im freiwilligen sozialen Jahr unterstützt.
Angestellt waren sie bei einem erfahrenen Träger, der genau darauf achtete, wer am besten zu welchem Kind passte. Anschließend bereitete der Träger die jungen Menschen zwei Wochen lang auf ihre Tätigkeit als Schulbegleiter vor. Während ihres Einsatzes als Schulbegleiter gab es regelmäßige Schulungswochen.
Außerdem hat die Klassenlehrerin unseres Kindes sehr eng mit der Schulbegleitung zusammen gearbeitet. Auch wir als Eltern waren mit an Bord und standen in regelmäßigem Austausch mit Klassenlehrerin und Schulbegleitung.
Und: Obwohl die Finanzierung noch nicht gesichert war, trat die Schulbegleitung mit der Einschulungsfeier ihren Dienst an. Möglich gemacht hat es der Träger, der von Anfang an von der Sinnhaftigkeit der Schulbegleitung überzeugt war. Sechs Wochen lang schoss er das Geld für die Schulbegleitung vor. Erst dann erhielten wir die Bewilligung durch die Schulbehörde.
So wurde der Schulstart für unser Kind zum Erfolg – und die Schulbegleitung zu einer Selbstverständlichkeit für alle in der Klasse.
Wer in Hamburg schon einmal mit Schulbegleitung zu tun hatte, der weiß: Dies alles ist bis heute bei Schulbegleitung nicht selbstverständlich.
Für eine erfolgreiche Evaluation von Schulbegleitung müssen alle an Schulbegleitung Beteiligten gleichberechtigt gehört werden. Dies schließt sowohl die begleiteten Schülerinnen und Schüler wie auch deren Eltern und Sorgeberechtigten mit ein.
Das Ergebnis einer solchen Evaluation liefert die Grundlage, auf der eine Neuaufstellung von Schulbegleitung konstruktiv diskutiert werden kann.
Auch für diese Diskussion gilt: Es müssen alle an Schulbegleitung Beteiligten gleichberechtigt mit einbezogen werden. So funktioniert Teilhabe.
Eltern behinderter Kinder können ein Lied davon singen: Inklusive Bildung ist noch lange kein Selbstläufer. Anträge stellen, Gutachten einholen, sich immer wieder erklären, in Widerspruch gehen …
Gut ist es, wenn Eltern bei all dem Rat und Hilfe haben, zum Beispiel durch die Ombudsstelle Inklusive Bildung.
Seit 2012 gibt es in Hamburg die OmbudsstelleInklusive Bildung. Sie ist angesiedelt am Schulinformationszentrum (SIZ) in der Hamburger Straße 125a.
In der Ombudsstelle arbeiten aktuell vier Ombudsfrauen undein Ombudsmann, nämlich Petra Demmin, Karin Limmer, Renate Wiegandt, Birgit Zeidler und Andreas Heintze.
Sie sind ehemalige Lehrerinnen und Lehrer und haben in verantwortungsvollen Funktionen in der Schule und in der Schulbehörde gearbeitet.
Jetzt sind sie im Ruhestand und ehrenamtlich für die Ombudsstelle tätig.
Die Ombudsstelle inklusive Bildung hat folgende Aufgaben:
Sie hilft und unterstützt bei Fragen zur pädagogischen und sonderpädagogischen Förderung.
Sie berät Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf und deren Eltern oder Sorgeberechtigten.
Sie unterstützt Eltern und Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf bei Konflikten und schulischen Widerspruchsverfahren.
Als Mutter eines schulpflichtigen Kindes mit FASD habe ich regelmäßig mit der Ombudsstelle zu tun.
Was ich an den Frauen und Männern der Ombudsstelle besonders schätze:
Für sie steht das Wohl von Kindern und Jugendlichen im Vordergrund.
Für sie bleiben Kinder und Jugendliche keine bloßen Namen. Sie gehen vor Ort in die Schulen und machen sich selbst ein Bild.
Die Frauen und Männer der Ombudsstelle verfügen über langjährige Erfahrung in Sachen schulischer Inklusion und sind sehr gut vernetzt.
Die Ombudsleute können Eltern und Sorgeberechtigte bei Gesprächen mit Lehrkräften, Förderkoordinatoren, Schulleitungen und Beratern aus der Schulbehörde unterstützen.
Und: Die Ombudsleute reagieren schnell, oft sogar innerhalb eines Tages.
Die Ombudsleute können nicht alles. Sie dürfen beraten und vermitteln. Abschließende Entscheidungen treffen dürfen sie nicht.
Dafür tun sie etwas anderes: Sie führen über ihre Tätigkeit genau Buch.
stattgefundene Kontakte und Gespräche mit Vertretern der Schulbehörde und anderen Institutionen und Organisationen.
Dabei zeigt sich den Ombudsleuten immer wieder, dass die persönlichen Einzelfälle in der Beratung auf größere strukturelle Probleme in der schulischen Inklusion aufmerksam machen.
Diese Problemlagen fassen die Ombudsleute in ihren Arbeitsberichten zusammen und besprechen sie mit dem Schulsenator, dem Staatsrat und dem Landesschulrat.
Im September 2021 hat sich das Amt für Bildung innerhalb der Behörde für Schule und Berufsbildung (BSB) umstrukturiert.
Ganz still und leise und ohne viel Kommunikation nach außen.
Selbst der wöchentliche Newsletter der BSB hat nicht darüber berichtet.
Was hat sich verändert?
Im Amt für Bildung gibt es jetzt eine eigene Abteilung „Inklusive Bildung“ (B4), die direkt dem Landesschulleiter unterstellt ist.
Innerhalb der Abteilung „Inklusive Bildung“ gibt es drei Unterabteilungen:
Grundsatz und Qualitätsentwicklung inklusive Bildung, Schulbegleitung, pädagogisch-therapeutisches Fachpersonal (B 41),
Aufsicht und Fachaufsicht spezielle Sonderschulen, ReBBZ und BBZ (B 42),
Gewaltprävention (B 43).
Organigramm BSB – Amt für Bildung (Stand September 2021)
Wie war es vorher?
Vorher unterstanden die speziellen Sonderschulen der „Schul- und Fachaufsicht allgemeinbildende Schulen“. So wie alle anderen Schulen in der Stadt.
„Inklusion und Sonderpädagogik“ war eine Unterabteilung der Abteilung „Gestaltung, Unterrichtsentwicklung, Grundsatz und Internationales“ (B 3), ebenso die „Gewaltprävention“.
Organigramm BSB – Amt für Bildung (Stand Oktober 2019)
Dann ist die inklusive Bildung durch die Umstrukturierung also aufgewertet und gestärkt worden?
Auf den ersten Blick mag dies so scheinen: „Inklusive Bildung“ als Top 4 unter den direkt der Amtsleitung unterstellten Fachabteilungen.
Allerdings:
Zuständig ist die neue Abteilung „Inklusive Bildung“ ausschließlich für Schülerinnen und Schüler mit diagnostiziertem sonderpädagogischen Förderbedarf. Also für Schülerinnen und Schüler mit Behinderung oder starken Verhaltensauffälligkeiten.
Damit bleibt inklusive Bildung weiterhin genau auf diejenigen Schülerinnen und Schüler reduziert, die doch eigentlich inkludiert werden sollen.
Für sie wird eine eigene Fachaufsicht geschaffen, werden eigene Unterrichtsinhalte und -konzepte diskutiert.
So werden Sonderstrukturen ausgebaut und gefestigt, nicht abgebaut.
Das ist genau das Gegenteil von Inklusion.
Inklusive Bildung geht alle an, schließt alle ein.
Inklusive Bildung besteht vor allem darin, keine Schubladen aufzumachen:
dort die Schülerinnen und Schüler mit Behinderung und dort die ohne.
Inklusive Bildung heißt gemeinsamer Unterrichtin einer Schule für alle.
In der jedes Kind die Chance erhält auf eine bestmögliche Bildung, ausgerichtet an seinen Bedürfnissen und Fähigkeiten.
Wie aber lässt sich eine inklusive Schule für alle planen und entwickeln, wenn behinderte Schüler bei der Diskussion um Grundsätzliches, Unterrichtsentwicklung, zentrale Prüfungen, Steigerung von Bildungschancen, Bildungswettbewerbe, Ganztag und Qualität in der Berufsvorbereitung außen vor bleiben?
Die Behörde argumentiert, es gebe Schnittstellen zwischen den verschiedenen Abteilungen. Aber reicht das wirklich aus?
Ich erlebe immer wieder: Beim Thema Bildung und Unterricht werden Schülerinnen und Schüler mit Behinderung nach wie vor nicht mitgedacht, sind nicht selbstverständlich.
Die aktuelle Diskussion über „Lernrückstände“ zeigt dies deutlich.
Viel zu oft greift weiter die Schere im Kopf: „Normale“ Kinder, die leistungsfähig sind versus „behinderte“ Kinder, die nicht so können wie die anderen. Die eigene Schutzräume brauchen.
Die UN-Behindertenrechtskonvention ist beim Thema inklusive Bildung klar und deutlich:
Menschen mit Behinderungen sollen gleichberechtigt mit anderen in der Gemeinschaft, in der sie leben, Zugang zu einem integrativen, hochwertigen und unentgeltlichen Unterricht an Grundschulen und weiterführenden Schulen haben.
Daher fordert die UN-Behindertenrechtskonvention ein möglichst schnelles Ende von Sondersystemen.
Übrigens nicht nur im Bereich Bildung.
Eine eigene Abteilung „Inklusive Bildung“ in der Hamburger Schulbehörde, reduziert auf Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf, ist in meinen Augen ein klarer Rückschritt auf dem mühsamen Weg zur Inklusion.